„Ich habe es befürchtet“, murmelte Esben besorgt. „Von diesem Mädchen ging eine kaum zu beschreibende Aura aus, die mich zutiefst verunsicherte. Es würde mich nicht wundern, wenn mehr dahintersteckt.“
„Moment!“,
ergriff Iliana das Wort. Sie wirkte verwirrt. „Heißt das, dieses
Mädchen ist der Dämon?“
Teshin
nickte, doch sie schien nicht überzeugt. Auch Halgin teilte
Bedenken.
„Ich habe in meinem langen Leben bereits gegen Dämonen gefochten“, erwiderte er mit ruhiger Stimme. „Sie alle waren grässlich deformierte Wesen, manche geflügelt, andere nicht. So oder so, wenn ein Dämon seine wahre Gestalt annimmt, erblickt man wahren Schrecken. Ein einfaches Mädchen erscheint mir hier fehl am Platz.“
„Vielleicht
war es ja nicht seine wahre Gestalt?“, hielt Teshin dagegen.
Halgin
schüttelte den Kopf. „Du und Saskia, ihr habt gegen den Inquisitor
gekämpft. Meiner Theorie nach zu urteilen handelte es sich bei ihm
ebenfalls schon um den Dämon. Nachdem ihr ihn besiegt hattet, hätte
er seine wahre Gestalt annehmen müssen.“
„Das Mädchen also muss die wahre Gestalt gewesen sein. Falls es sich um einen Dämon handelt.“ Esben sah in die Runde, so als suchte er Bestätigung.
Teshin
legte den Kopf schief. „Ich habe da eine kurze Frage. Können sich
Menschen mit Dämonen paaren?“
Halgin
setzte zu einer Antwort an, brach jedoch ab, wechselte einen Blick
mit Esben und setzte erneut an. Schließlich räusperte er sich
vielsagend und stieß ein frustriertes Krächzen aus.
„Ich
weiß es nicht“, gestand er. „Mir ist nichts bekannt, was
dagegenspräche.“
Teshin
nickte. „Was, wenn dieses Wesen eine Art … Halbdämon ist?“
„Eine
gewagte Theorie“, erwiderte Esben. „Hast du dafür auch
irgendwelche Hinweise oder verlässt du dich nur auf deine
Intuition?“
Teshin
lächelte freudlos. „Was meinst du?“
„Genug.“
Halgin flatterte energisch mit den Flügeln. „Solcherlei Theorien
können wir später aufstellen. Erst müssen wir unser weiteres
Vorgehen bestimmen. Ich denke, uns allen ist daran gelegen, das
Geheimnis um dieses Mädchen und um Gottes Hammer zu lüften. Formen
wir also eine Allianz gegen die Händel der Inquisitoren!“
„Ich
weiß nicht“, gab Esben zu bedenken. „Die Inquisitoren stehen
unter dem Schutz der Denomination. Sollen wir sie uns wirklich zum
Feind machen?“
„Haben
wir das nicht schon längst getan?“, fragte Teshin. „Ich meine,
denkt doch mal nach. Ein heidnischer König, eine verurteilte Hexe,
ein Priester mit verbotener Magie und ein Schwertdämon ohne
Erinnerungen gelten im Normalfall nicht unbedingt als fromme
Gläubige. Medardus hätte Grund genug, jeden einzelnen von uns zu
verbrennen.“
Esben
nickte zustimmend, doch Trauer verhüllte seinen schwermütigen
Blick. Offenbar streubte sich sein Innerstes trotz allem gegen diesen
Abfall von der Kirche, der er sein ganzes Leben lang gedient hatte.
„In
diesem Fall möchte ich einen Vorschlag machen.“ Halgin flatterte
erneut mit den Flügeln. „Teshin, Esben, wie wäre es, wenn ihr mir
den Lehenseid schwören würdet?“
„Den
Lehenseid?“, fragte Teshin verblüfft. „Ich dachte, ihr wolltet
keine Zeit mit überflüssigen Gesprächen verschwenden? Oder sind
wir nicht schon längst Verbündete?“
Halgin
stieß einen Laut aus, der am ehesten noch als Schnauben bezeichnet
werden konnte.
„Ich
spreche auch nicht von einem normalen Lehenseid. Wenn ihr beide euch
an mich bindet, kann ich meine Magie mit euch teilen und euch stets
zu Hilfe kommen, gleichgültig, wo ihr euch aufhaltet. Angesichts der
Schwere unseres Vorhabens halte ich es für recht und billig, unsere
Kräfte zu vereinen.“
„Davon
habe ich gelesen!“, rief Esben erregt. „Die Könige des
Verlorenen Reichs pflegten ihre Untertanen so an sich zu binden,
richtig?“
Halgin
nickte schwermütig. „Heutzutage besteht der Lehenseid nur noch aus
leeren Worten, doch zu meiner Zeit diente er zur wahren Vereinigung
der Macht von Herr und Untertan.“
„Ich
bin einverstanden.“ Esben kniete vor Halgin nieder. Offenbar wusste
er besser als Teshin, wie er sich bei dieser Zeremonie zu verhalten
hatte.
Teshin
fiel kein Grund ein, Halgin seinen Wunsch abzuschlagen. Er tat es
Esben nach und verneigte sich vor dem verzauberten König
Halgin
hob würdevoll den Kopf. „Priester Esben, bist du willens und
fähig, als Vasall in meine Dienste zu treten und einzugehen in die
Reihe der ehrenwerten Fürsten des nunmehr Verlorenen Reiches?“
„Ja.
Ich, Esben, bin willens und fähig, Euch zu dienen.“ Esbens Stimme
hallte kraftvoller als sonst durch das Gewölbe. Kaum hatte er die
Worte gesprochen, erhob sich Halgin majestätisch in die Lüfte und
berührte Esbens Stirn mit einem Flügel. Mit einem Mal umhüllte
goldenes Licht die beiden und Magie ging in Wellen von ihnen aus.
Teshin musste geblendet die Augen schließen.
Kurze
Zeit später war es vollbracht.
„Erhebe
dich, Markgraf Esben.“ Halgin neigte respektvoll den Kopf. Esben
erwiderte die Geste. „Mögest du mir gut dienen.“
„So
schnell geht das?“, fragte Iliana erstaunt. „Kann ich nicht auch
so einen Eid schwören?“
„Leider
erst, wenn du volljährig bist“, antwortete Halgin. „Bis dahin
bleibst du mein Mündel.“
Iliana
seufzte enttäuscht. Halgin wandte sich Teshin zu. „Nun zu dir.
Teshin, bist du willens und fähig, als Vasall in meine Dienste zu
treten und einzugehen in die Reihe der ehrenwerten Fürsten des
nunmehr Verlorenen Reiches?“
In
diesem Moment spürte Teshin eine Verbindung zwischen sich und
Halgin. Als er die Worte sprach, schienen Generationen von Vasallen
ihm die Antwort einzuflüstern. Ihre Präsenz umgab ihn wie ein
wärmender Schleier, der seine Sorgen vertrieb und ihm neue Kraft
verlieh.
„Ja.
Ich, Teshin, bin willens und fähig, Euch zu dienen.“
Halgin
nickte, dann legte er ihm seinen Flügel auf den Kopf. Teshins Körper
erschauderte und Ströme reiner Magie durchflossen seine Adern. Er
fühlte sich mit tausenden Seelen verbunden, die in einer wilden
Klimax herrschaftliche Gesänge anstimmten, um ihre Macht mit ihm zu
teilen.
Im
nächsten Moment erstarb das Gefühl abrupt. Teshin fühlte sich, als
wäre er diesem Chor der Seelen gewaltsam entrissen worden. Die Magie
und das Geflüster wich von ihm, kein goldenes Leuchten besiegelte
den Pakt. Stattdessen landete Halgin ungelenk am Boden und musterte
ihn erstaunt.
„Hat
es nicht funktioniert?“, fragte Teshin leise.
„Nein.
Kurz schien es, als könnte ich dich erreichen, aber im nächsten
Moment …“ Halgin schüttelte den Kopf. „Du warst einfach weg.
Kann es sein … dass Teshin nicht dein wahrer Name ist?“
Eiskalte
Klauen zerfetzten Teshins Herz. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals
und er konnte kaum noch Luft in seine schmerzende Lunge zwingen.
Seine Stimme zitterte, als er sprach.
„Wenn
Ihr den Geburtsnamen meint, dann nein.“
„Das
dachte ich mir.“ Halgin ließ betrübt den Kopf hängen. „Du
müsstest mir eben diesen Namen nennen, um den Lehenseid leisten zu
können. Aber er scheint für dich mit großem Schmerz verbunden,
richtig?“
„Vollkommen
richtig.“ Teshin erhob sich und wandte sich ab. „Es tut mir leid,
Majestät. Unter diesen Umständen … kann ich den Eid doch nicht
leisten.“ Er trat auf den Eingang zu. „Ich brauche frische Luft
…“
„Einer
der Seitengänge führt nach oben auf eine geschützte Terrasse. Dort
müsstest du vor Dämonen sicher sein“, sagte Esben.
Teshin
nickte ihm dankbar zu und erklomm die steinernen Stufen einer
seitlich gelegenen Galerie. Eine Statue hob leicht den Kopf, als er
an ihr vorbeiging. Ein kurzer Blick zeigte Teshin einen gepanzerten
Krieger mit einem verblichenen Totenschädel unter dem marmornen
Helm.
Teshin
floh beinahe durch den engen Gang, bis er er endlich an die
Oberfläche gelangte. Esben hatte recht behalten. Diese Terrasse
würde kaum angegriffen werden. Teshin spürte mächtige Siegel in
der Brüstung und Schutzzauber, die sie vor neugierigen Blicken
verbargen. Erschöpft wie nach einem langen Kampf sank er zu Boden.
Er
konnte nicht sagen, wie lange er reglos auf dem kalten Stein hockte.
Sein bisheriges Leben schien wie eine endlose Aneinanderreihung
schlecht gezeichneter Bilder an ihm vorbeizuziehen. Mit Ausnahme der
letzten Monate natürlich. Immer wieder erschien Saskias Gesicht vor
seinem inneren Auge, wie sie ihn stumm anlächelte. Nachdem er
Murakama erhalten hatte, lachte er jahrelang nicht mehr. Erst, als er
Saskia traf, konnte er wieder Witze reißen. In ihrer Gegenwart
erwachte sein Humor wie der Phönix aus der Asche.
Doch
nun war er wieder gestorben, hinterrücks erdolcht von diesem
listigen Dämonenmädchen und von Medardus. Die schiere Last der
Geheimnisse schien Teshin zu Boden zu drücken. Er verspürte das
dringende Verlangen nach Schlaf, fernab von allen Gefahren und
Geheimnissen. Fernab von der Bürde seines wahren Namens. Wie konnte
dieses simple Wort solche Pein hervorrufen? Wie konnte es dermaßen
viele Erinnerungen wecken? Teshin schlug die Hände vors Gesicht und
lehnte sich erschöpft gegen die Brüstung der Terrasse. Er wollte
nur noch weg von allem.
Er
wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er Schritte vernahm.
Überrascht bemerkte Teshin, dass er auf dem Boden lag. War er
versehentlich eingeschlafen? Der Anblick der untergehenden Sonne
bestätigte seine Vermutung. Der leuchtende Feuerball entschwand
hinter den Bergen. Allein Hornheims Finsternis verweilte in der
Ödnis.
Einen
Moment später bemerkte er Iliana. Sie wirkte kleinlaut und
verletzlich, vollkommen anders als mit dem Bogen. Sie hatte die Waffe
wohl in Androgs Halle zurückgelassen.
„Hallo“,
murmelte sie schlicht.
Teshin
fühlte sich ausgeruhter als zuvor. Dennoch war er nicht in der
Stimmung für ein Gespräch. „Hallo.“
Kurz
legte sich Schweigen über sie, bis Iliana schließlich wieder das
Wort ergriff. „Ich sollte dir etwas sagen. Etwas, das dir
vielleicht dabei hilft, deine Erinnerungen zurückzuerlangen.“
Teshin
hob missmutig den Kopf. „Meinst du etwa meinen Angriff als
Schwertdämon auf dein Dorf? Danke, den musst du mir nicht erst
schildern.“
Iliana
schnaubte. „Hältst du mich für völlig empfindungslos?“
Offenbar hing nicht all ihr Temperament an dem Bogen. „Nein, es
geht um Saskia.“
Sofort
war Teshin auf den Beinen. „Was weißt du?“
Reflexartig
wich Iliana einen Schritt zurück. Die Angst in ihren Augen versetzte
Teshins Herzen einen Stich.
Zum
ersten Mal seit langem meldete sich die Stimme in seinem Kopf wieder
zu Wort.
Kein Wunder, dass sie
Angst vor dir hat. Du bist bei eurer ersten Begegnung Amok gelaufen,
schon vergessen?
Der
hämische Unterton erzürnte Teshin, doch er kämpfte seinen Ärger
nieder. Stattdessen sank er kraftlos zu Boden. „Tut mir leid, ich
wollte dich nicht erschrecken. Du hast allen Grund, Angst vor mir zu
haben.“
„Ich
hab keine Angst!“ Das Zittern ihrer Stimme bewies das Gegenteil.
„Hast
du schon einmal jemanden getötet?“, fragte Teshin.
Die
eisblauen Augen funkelten ihn einen Moment lang an, dann schüttelte
Iliana den Kopf.
„Es
ist etwas Seltsames, weißt du? Ein Leben lang wird man mit dem Tod
konfrontiert, auch im Hinblick auf Verbrecher. Ein Leben lang sieht
man Helden und Mörder, die beiderseits Leben nahmen. Man kapselt
sich von ihnen ab, kleidet sich in Unschuld, bewundert oder verachtet
sie. Aber alles ist anders, wenn man selbst ein Leben nimmt.“
Teshin schwieg einen Moment lang, um seine Worte sacken zu lassen.
„Das habe ich Saskia auch immer gesagt. Sie konnte mir natürlich
nicht antworten, aber ihre Blicke waren Antwort genug. Hat man einmal
ein Leben genommen, bleibt man für immer ein Mörder. Man
beschreitet einen Weg, auf dem es kein Zurück mehr gibt. Diebesgut
kann man ersetzen, Wunden kann man behandeln … aber keine Macht der
Welt ist dazu in der Lage, Tote zu erwecken. Von der Todsünde des
Mordes kann sich niemand mehr freikaufen.“
Wieder
eine Pause. Dann seufzte er. „Egal. Du willst dir das nicht
anhören, richtig? Lieber willst du mir einfach sagen, was du zu
sagen hast und wieder zu Halgin gehen, hab ich recht? Ich halte dich
nicht mehr länger auf.“
Teshin
konnte ihr eisblaues Funkeln nicht deuten, als Iliana zu sprechen
begann. Schlich sich tatsächlich Mitleid in ihre Stimme? „Ich
dachte nur, du solltest es wissen … Halgin macht keine Anstalten,
es dir zu sagen, also tu ich es.“ Sie atmete tief durch, bevor sie
weitersprach. „Teshin, hast du schon einmal einen geliebten
Menschen sterben sehen?“
Teshins
Herz setzte einen Schlag aus. „Was?“, flüsterte er entsetzt.
„Nur
solche Menschen, vor deren Augen ein geliebter Mensch ermordet wurde,
können Halgins Stimme hören“, fuhr Iliana leise fort. „Ich
dachte nur … wegen Saskia. Selbst wenn dein Kopf es vergessen
sollte, deine Seele erinnert sich.“
Und
während das verlorene Mädchen schweigend den Rückweg in die dunkle
Gruft antrat, zersprangen Teshins Hoffnungen wie eine filigrane
Glaskugel an einem gezackten Felsen.