Gruselgeschichten – Amable und das Fest der Toten
Heute gibt es eine weitere Geschichte für euch. Die heutige Erzählung stammt aus meiner Feder und ist keineswegs gruselig. Sie spielt allerdings zur Zeit des mexikanischen „Día de los Muertos“ und passt deshalb ganz gut ins Thema.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Die Grafik stammt von Adobe Stock.
Amable und das Fest der Toten
»Amable, kommst du bitte?«, die Stimme seiner Mutter klang angespannt. Er richtete sich vorsichtig von seinem kleinen Bett auf und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Er rückte mit einem geübten Handgriff seinen bunt bestickten Hut zurecht und eilte die Treppe hinab zu seiner Mutter.
»Was ist los, Mama?«, es gelang ihm dabei nicht, den genervten Unterton aus seiner Stimme zu verbannen.
»Wir müssen bald los. Ich wollte nur sichergehen, dass du dich zurechtgemacht hast.«, entgegnete sie und musterte ihn dabei prüfend. Sie kam ins Stocken, als sie den abgegriffenen, staubigen Hut auf seinem Kopf bemerkte. »Musst du das alte Ding wirklich schon wieder anziehen?« Amable nickte wortlos und grinste breit. Niemals würde er die Festlichkeiten des ›Día de los Muertos‹ ohne seinen Hut verbringen. Er war für ihn fester Bestandteil der Tradition! »Na gut, dann lass uns langsam aufbrechen«, gab sich seine Mutter geschlagen.
Sie packten die letzten Sachen zusammen und begaben sich auf den Weg zur Ofrenda, die am Eingang ihres Hauses stand. Die sonst so farblose und dunkle Straße erstrahlte heute in völlig neuem Glanze. Kunstvoll verzierte Papiergirlanden verschönerten die kahlen Straßenlaternen. Bunte Laternen färbten den Boden in unterschiedlichsten Farben und der Geruch nach frisch zubereiteten Mahlzeiten hing wie ein Schleier in der Luft. Lautes Gelächter schallte durch die Gassen und aufgeregte Stimmen drangen an sein Ohr. Es war wahrlich die schönste Zeit des Jahres für die Bewohner im Jenseits.
Amable und seine Mutter nickten sich ein letztes Mal zu, ehe sie zusammen mit einem großen Schritt in die Ofrenda, den Schrein, traten. Ihm blieb jedes Mal das Herz stehen, wenn sie aus dem bunten Treiben in die vollkommene Dunkelheit des Portales gesogen wurden. Nach wenigen Minuten des ziellosen Umherwanderns zeichnete sich endlich ein heller Schimmer in weiter Ferne ab. Da war er, der Weg aus der Finsternis! Esperanza und Amable beschleunigten ihre Schritte und atmeten erleichtert aus, als sie den Ausgang erreicht hatten. Auf der anderen Seite bot sich ihnen ein ähnliches Bild wie noch vor wenigen Sekunden in ihrer Heimat. Überall herrschte geschäftiges Treiben und Amable bleib beim Anblick der vielen kunstvollen Kostüme die Luft weg.
»Papa und Renata sind ja noch gar nicht da«, stellte er enttäuscht fest.
»Sie sind bestimmt noch mit den Vorbereitungen beschäftigt«, versuchte Esperanza ihn aufzumuntern, »Lass uns doch gemeinsam die Nachbarschaft ein bisschen erkunden bis die beiden eintreffen.« Er nickte widerwillig und ließ seinen Blick ein weiteres Mal über die prall gefüllte Straße schweifen. Langsam krochen wieder die Erinnerungen alter Tage in sein Bewusstsein. Dort hatte er doch immer mit René gespielt und hier hinten war er mit dem Fahrrad gestürzt. An der Bushaltestelle hatten er und seine Schwester viele Stunden verbracht, und das nicht nur beim Warten auf den immerspäten Schulbus. Am Ende der Straße gab es noch immer den Süßigkeitenladen, den er so oft mit Freunden und Renata besucht hatte. Und da war er wieder – dieser stechende Schmerz in seiner Brust. Er fasste sich mit seiner knöchrigen Hand an den leeren Brustkorb und versuchte zu verstehen, woher das Stechen stammte. Es gab doch absolut nichts mehr an diesem Skelett, das schmerzen könnte. Wieso erging es ihm dann jedes Mal so, sobald er im Diesseits wandelte?
Seine Mutter bemerkte seine Irritation und blieb stehen. »Weißt du, was das ist, was du da fühlst?«, fragte sie vorsichtig. Amable hielt ebenfalls an und wandte sich Esperanza zu. Er schüttelte betrübt den Kopf und schaute an seinem Körper hinab. Weiße Knochen strahlten ihm entgegen und verhöhnten den Schmerz, den er zu spüren glaubte. »Du vermisst es hier zu sein, das ist alles. Dieses Leid haben wir alle gespürt und wir fühlen es auch heute noch. Es wird mit der Zeit weniger werden, aber ganz weggehen wird es nie. Du bist noch nicht lange hier Schatz, also gib dir Zeit, dich daran zu gewöhnen.«, erklärte Esperanza ruhig. Sie war mittlerweile auf die Knie gegangen und starrte ihm mit ihren dunklen Augenhöhlen entgegen. Amable konnte die Tränen nicht länger unterdrücken und fiel seiner Mutter schluchzend in die Arme. Auch, wenn keine Flüssigkeit an seinen Wangen hinab ran, spürte er, wie mit jedem Schluchzen der Schmerz in seiner Brust weniger wurde, bis er gänzlich verschwunden war.
»Geht es dir jetzt besser?«, erkundigte sie sich besorgt. Amable nickte und löste sich aus der Umarmung. »Dann lass uns zu deinem Papa und deiner Schwester gehen. Sie warten bestimmt schon auf uns!«
Nach drei wundervollen Tagen mussten die beiden wieder Abschied von ihren Hinterbliebenen nehmen. Amables drittes ›Día de los Muertos‹ ging somit zu Ende und freute sich schon auf ein Wiedersehen im neuen Jahr.
Andre Marto
Das ist ja genial – ich dachte tatsächlich Esperanza und Amable sind Menschen aus Fleisch und Blut – welche Überraschung. Im Grunde jedoch so eine traurige Geschichte.
Eine wirklich gelungene Geschichte, dabei muss ich beim „Día de los Muertos“ immer an James Bond denken😁
Jaqueline
Es freut mich sehr, wenn dir die Geschichte gefallen hat Andi!
James Bond kam mir auch in den Sinn oder der Disney Film Coco, der mich seinerzeit verzaubert hat.
Liebe Grüße!