Gesucht

Ich stand mit meiner Skizze am menschenleeren Bahnhof und hielt Ausschau. Bisher hatte ich heute außerhalb der Bahnsteige des Nahverkehrs nur Menschen gesehen, die nichts davon mitbekommen hatten, dass die Lokführer:innen so erbittert streikten, dass hier schon die ganze Woche gar nichts ging.
Dort! Jemand mit Mütze, Bart und Brille – das könnte die gesuchte Person sein. Die Haare weiß, die Mütze rot mit weißem Bommel. Bisschen spät, wenn du mich fragst. Obwohl, wenn er mit dem Zug gekommen war …
Ich warf zum hundertsten Mal einen prüfenden Blick auf die Skizze und verglich sie mit dem Gesicht des Passanten. Die Augenbrauenlinien unterschieden sich deutlich. Der Nikolaus-Verschnitt blickte vergleichsweise grimmig drein, die Person auf dem Papier sah den Betrachter freundlich an.
Ich fragte mich, ob es die Belohnung auch geben würde oder ob es sich nur um eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme handelte. Immerhin, so waren wir von der Straße weg. Unser Auftrag: Ansprechen, Job anbieten. Fehlende Qualifikation oder Sprachkenntnisse spielten keine Rolle, es gab ohnehin eine Ausbildung und im Bedarfsfall auch Sprachkurse.
Glaub mir, wäre ich nicht verbeamtet, ich hätte mich geweigert und mich zu den Streikenden gesellt. Dienst nach Vorschrift lag mir aber auch nicht so wirklich, also schiss ich auf die ohnehin sexistische Skizze, mit der nur nach Männern gesucht wurde, und versuchte mein Glück.
»Guten Tag, im Auftrag der Deutschen Bahn suche ich nach Interessierten, die gerne unser lokführendes Personal verstärken möchten, damit wir künftig die geforderte 35-Stunden-Woche anbieten können.«
Der Mann musterte mich abschätzig von oben bis unten. »Seh ich etwa aus wie der Weihnachtsmann?«


Entstanden während der Schreibübung „Schreiben gegen die Zeit“ unseres Schreib-Forums am vergangenen Sonntag binnen 60 Minuten. Der Begriff lautete „Skizze“.
Bild: Pixabay

Euer Ingo S. Anders

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