Iliana atmete erleichtert auf, als sie Androgs Halle erreichte. Esben hatte ein altes Deckenlicht entzündet, dass unzählige Meter über ihren Köpfen silbriges Licht verströmte. Halgin meinte, die Runen um den magischen Gegenstand bedeuteten soviel wie „Vater Sonne“. Zu seiner Zeit beteten die Menschen Himmelskörper als Götter an. Offenbar stammte das Bauwerk aus der Ära des Verlorenen Reiches.
Als sie die kalten Stufen hinabstieg, fiel ihr Blick zuerst auf die drei großen Portale in der dem Eingang gegenüberliegenden Wand. Jemand hatte sie zugemauert und mächtige Schutzzauber in den Stein gewoben. Siegel prangten auf der Oberfläche und drei grässliche Fratzen aus Marmor warnten jeden neugierigen Betrachter. Dennoch ertrug Iliana lieber diesen Anblick als ein Gespräch mit Teshin zu führen.
Halgin hatte sie bereits vor dem Söldner gewarnt, doch Iliana bedurfte keiner Mahnung. Zwar war Teshin kein Monster, wie sie wohl wusste, aber er war in namenlose Dunkelheit abgeglitten, deren Hohngelächter sie nach ihrer Befreiung empfangen hatte. Niemand musste sie von Teshins Gefährlichkeit überzeugen. Sie hatte seinen Angriff als Schwertdämon miterlebt … sie würde ihn nie vergessen.
Nie hatte sie solch grimmige Genugtuung verspürt.
Iliana lebte nicht in dem kleinen Dorf Raureif, wie Halgin meist erzählte. Sie war bei einer alten Frau aufgewachsen, deren Hütte sich abseits von allen Straßen im Wald an einen gewaltigen Baum duckte. Bei ihrer Ziehmutter Arinhild.
Die Erinnerung jagte Freude und Schmerz gleichermaßen durch Ilianas Geist. Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, sah sie die verwinkelten Innenräume der schiefen Hütte vor ihrem inneren Auge, sie hörte Arinhilds stets rauchige Stimme und roch die zahlreichen Kräutersorten, die sie in Schränken und Regalen aufbewahrte. Arinhild kannte die Pflanzenwelt besser als jede andere Person und zahlreiche Dorfbewohner kamen zu ihr, um sich von Krankheiten kurieren zu lassen. Auch Iliana befreite sie von so manchem Schnupfen. Arinhild hatte ihr wahrlich vieles beigebracht. Iliana wusste, dass dieses Wissen nichts mit Magie zu tun hatte.
Dennoch konnte sie dem Volkszorn nicht Einhalt gebieten.
Vor genau vier Jahren war Raureif von einem schrecklichen Hagelsturm heimgesucht worden, der Felder verwüstete und Bäume fällte. Die Bewohner verloren Habseligkeiten oder sogar Angehörige an das Toben der Natur. Alle hatten sie Verluste zu beklagen, mit Ausnahme von Arinhild und Iliana. Der große Baum im Wald hatte ihrer kleinen Hütte genügend Schutz geboten.
Als Medardus auf Bitten des Dorfältesten kam, schloss der Inquisitor sofort auf Hexenwerk. Er beschrieb die Zauberinnen dieser Gattung als entweder alt und durchtrieben oder als jung und lustvoll. Es gab nur ein „armes altes Weib mit Kräuterkenntnissen“, dessen man habhaft werden konnte. Ihre liebe Mutter.
Iliana ließ sich auf die steinerne Treppe sinken und betrachtete eine der Fratzen. Sie befand sich über dem mittleren Portal und funkelte sie ohnmächtig an. Ein ähnlicher Blick war auch den Dorfbewohnern zuteilgeworden, als sie Arinhild zum Scheiterhaufen schleppten. Iliana zwangen sie, sich das Spektakel der Hinrichtung genau anzusehen. Medardus dachte, wenn sie sich abwandte, wäre sie ebenfalls als Hexe überführt. Doch Iliana konnte sich nicht abwenden. Der Anblick verwandelte sie in eine Statue.
Dieses Ereignis höhlte sie innerlich aus, raubte ihr jeden Teil kindlichen Glücks, der ihrer jungen Seele noch anhaftete. Nach Medardus‘ Abzug fühlte sie sich nur noch mit einer Waffe sicher. Zu ihrem Glück fand Halgin sie, als einige junge Männer sie mit Stöcken aus dem Dorf jagten. Der König rettete sie nicht nur einmal vor gewalttätigen Übergriffen. Dennoch bedurfte es eines Schwertdämons, um sie aus den Fängen der Ritter zu befreien.
Iliana schluckte. Die Fratze rechts daneben funkelte sie kalt an, ohne jede menschliche Regung in den verunstalteten Zügen. Ebenso hatte Teshin sie angesehen, als er auf dem Marktplatz blutig erntete.
Ein grimmiges Lächeln legte sich auf Ilianas Gesicht. Die Ältesten, die Arinhild verurteilt hatten, die jungen Burschen und Mädchen, die vor ihrem Scheiterhaufen ausgelassen getanzt hatten – sie fielen durch Murakama. Nur wenige entkamen dem Massaker. An diesem Tag hatte Raureif die Hälfte seiner Bewohner verloren.
Obwohl Iliana nicht geflohen war, blieb sie verschont. Für die verbliebenen Dorfbewohner galt dies als Beweis für ihre Verbindung mit den Dämonen Hornheims. Es glich einem Wunder, dass sie nicht zu Tode geprügelt worden war. Vielleicht hatte die Aussicht, Iliana bei lebendigem Leib zu verbrennen, ihre Fäuste ruhig gehalten.
Iliana schluckte. Nein, sie musste Teshin sogar dankbar sein. Nicht nur für ihre Errettung, sondern auch für ihre Rache. Mehr als dieses freudlose, ergrimmte Lächeln hatte sie in den vergangenen vier Jahren nicht zustande gebracht. Die Bilder von Arinhilds Hinrichtung machten jedes Lachen unmöglich.
Iliana wandte sich von den Portalen ab. Sie sollte keine dermaßen finsteren Gedanken hegen. Sie wollte nicht werden wie Teshin. Während sie die Stufen auf der anderen Seite erklomm, zweifelte sie an der Richtigkeit ihrer Entscheidung. Sie hätte Teshin nicht aufsuchen sollen. Was, wenn er nun vollkommen den Verstand verlor?
Nein, sie war ihm die Wahrheit schuldig. Auch wenn er ihr Angst einflößte, verdiente er nichtsdestotrotz, alles über seine Vergangenheit zu erfahren. Wenn sie ihm dabei helfen konnte, musste sie es tun.
Ilianas Zweifel und Erinnerungen erloschen, als sich ihre Finger um den Bogen schlossen. Sie hatte ihn auf die zweite Galerie gelegt, die gegenüber der ersten lag. Von der ersten zweigte unter anderem der Gang zur Terrasse ab, von der zweiten der zu Esbens Basis. Iliana setzte sich in Bewegung. Sollte Teshin zurückkehren, konnte er ja einfach nach ihnen rufen, falls er sie nicht finden sollte.
Dieser Gang war eben und weitaus kürzer als der andere. Nach wenigen Schritten gelangte Iliana in einen quadratischen Raum, der ebenfalls über ein magisches Deckenlicht verfügte. Inmitten der steinernen Konstruktion thronte Esben auf einem gewaltigen Ebenholzstuhl, vor ihm erhob sich ein abstruses Gebilde wie ein dämonischer Arm aus dem Boden. Auf der Spitze ruhte eine leuchtende Kugel, deren rötlicher Schein verrenkte Schatten an die Wände warf. Esben starrte konzentriert in die Tiefen der Kugel, Halgin saß auf seiner Schulter.
„Was siehst du?“, fragte der König just in dem Moment, als Iliana den Raum betrat.
Esben antwortete nicht sofort. Stattdessen kniff er die Augen zusammen und lehnte sich leicht vor. Das Licht der Kugel verlieh seinen Zügen etwas Gespenstisches.
„Noch nichts“, erwiderte er schließlich und sank erschöpft in den Stuhl. Halgin krächzte und erhob sich von seiner Schulter. Er flog zu Iliana und ließ sich vor ihr nieder.
Iliana kratzte sich fragend am Hinterkopf. „Was ist das für eine Kugel?“ In ihrer Gegenwart trat ihr kalter Schweiß auf die Stirn.
„Ein Artefakt“, erwiderte Halgin. „Mit diesem mächtigen Objekt kann Esben einen bestimmten Radius um Androgs Halle sehen. Wir rechnen damit, dass früher oder später Gesandte des Inquisitors Medardus hier auftauchen werden.“
Der Name versetzte Iliana einen Stich. „Wieso das?“
Diesmal antwortete Esben. „Vor dem Krieg hatte die Denomination mit einer heidnischen Unterorganisation zu kämpfen, die den Dämonenkönig Irodeus anbetete. Wenn die Inquisitoren solche Ketzer verhafteten, wurden sie meist auf dem Weg zur nächstgrößeren Stadt von diesen Kultisten überfallen und überwältigt. Daher arbeiteten die Inquisitoren ein System aus Außenposten und einen straffen Zeitplan aus. Jedes Kommando der zuständigen Ritter musste Vögel an alle Außenposten auf ihrem Weg schicken und ihnen somit berichten, wann sie voraussichtlich dort ankommen würden. Verspäteten sie sich, schickte der Außenposten eine Rettungseinheit, da man von einem Angriff der Kultisten ausging. Allein auf dem Weg von hier bis Aminas befinden sich zehn solcher Außenposten, die noch immer genutzt werden, obwohl der Kult des Irodeus längst zerschlagen ist. Teshin hat dich heute kurz nach Sonnenaufgang gerettet, mittags hätten die Tempelsöhne wahrscheinlich bereits den ersten Außenposten erreicht. Wir müssen also jeden Moment mit einem Suchtrupp oder einer Rettungseinheit rechnen.“
Iliana nickte beeindruckt. Sie hatte nicht gedacht, dass die Inquisition über ein solches System verfügte. „Und diese Außenposten sind alle mit Rittern und Inquisitoren besetzt?“
Esben schnaubte. „Das waren sie vielleicht einmal. Du darfst dir diese Einrichtungen nicht als uneinnehmbare Burgen vorstellen. Meistens wurden die Außenposten in Ruinen oder verlassenen Häusern eingerichtet. Einer hier ganz in der Nähe gleicht eher einem Bauernhof. Manche verfügen nur über wenige Waffen oder es sind keine Magier dort stationiert. Ich bin sicher, dass man dieses System leicht lahmlegen könnte. Aber da es den Kult nicht mehr gibt, spielt das keine große Rolle mehr. Heutzutage besteht die Hauptaufgabe der Inquisitoren in der Verfolgung von Hexen. Diese Maßnahmen werden im Allgemeinen vom Volk begrüßt.“ Bitternis schlich sich in Esbens Stimme.
Iliana nickte langsam. Sie interessierte sich mehr für die Kultisten. „Wie hat die Denomination diese Teufelsanbeter denn besiegt?“
Esben legte die Stirn in Falten. „Wenn ich mich richtig erinnere, schleuste sich ein mutiger Adeliger bei ihnen ein. Er versorgte die Denomination mit wertvollen Informationen, bis sein Verrat entdeckt wurde. Die Kultisten verwüsteten sein Gut und töteten seine Familie. Zwei Kinder entkamen angeblich. Der Adelige selbst wurde hinterrücks ermordet und sein berühmtes magisches Schwert verschwand. Aber durch diese Aktion hatten die Anhänger des Irodeus sich zu weit in die Öffentlichkeit gewagt. Ein mächtiger Inquisitor übernahm den Oberbefehl über ein Heer aus geistlichen und weltlichen Rittern, die die Schlupfwinkel der Kultisten stürmten und sie vernichteten. Einige flohen hierher nach Hornheim.“ Esben deutete in die Richtung des Ganges. „Als der Inquisitor Androgs Halle einnahm, flohen die Kultisten durch die drei Portale, die dir sicher schon aufgefallen sind. Dahinter liegen weitere Gänge, die ins wahre Hornheim führen, wo angeblich bis heute Dämonen hausen. Anstatt sie zu verfolgen, versiegelte der Inquisitor die Gänge. Was mit den Kultisten geschah, weiß niemand.“
Iliana erschauderte. „Das klingt wie eine Gespenstergeschichte! Musstest du mir das jetzt am Abend erzählen?“
Esben lachte. Der Laut klang fremdartig in dem dunklen Gewölbe. Dennoch fühlte sich Iliana dadurch seltsam befreit.
Halgin legte den Kopf schief und schlug mit den Flügeln. „Dieses magische Schwert, das dem Adeligen gehörte … das hieß nicht etwa Murakama?“
Iliana sah Halgin verwirrt an. „Wie Teshins Klinge?“
Esben schüttelte den Kopf. „Man nannte die Waffe Megingjormar. Das bedeutet „Heilsbringer“ in der Alten Sprache.“
Halgin nickte. Seine Augen glitzerten. „Das ist mir wohl bekannt. Nur gab es neben der hohen Alten Sprache in südlicheren Gebieten einige Dialekte, von denen heute nur noch wenige bekannt sind. Das Wort Meging wird in dieser Variation als Mura ausgesprochen, Jormar als Kama. Ich weiß nicht, woher Teshin es weiß, doch so interpretiert heißt die Klinge Murakama.“
Iliana starrte Halgin fassungslos an. Bevor sie ihre Schlüsse ziehen konnte, hallte Applaus durch den Raum. Iliana fuhr herum. Teshin lehnte im Eingang, sein blauer Blick ruhte auf Halgin. „Wie ich sehe, versucht Ihr, meine Geheimnisse zu lüften, Majestät. Das nenne ich nicht besonders ehrenhaft.“
Ein Blitz durchfuhr Halgins schwarze Augen. Als er sprach, klang seine Stimme beinahe bedrohlich. „Eines Königs erste Pflicht ist es, sein Volk zu schützen. Man kann das Volk jedoch nicht vor dem beschützen, was man nicht kennt. Du hast mir den Lehenseid verweigert, mir deinen wahren Namen nicht genannt und meine Fragen nur ausweichend beantwortet. Ich kann dich weder als Freund noch als Feind bezeichnen. Also muss ich Informationen sammeln, um deine Rolle in diesem Spiel zu durchschauen.“
Teshins Augen funkelten gefährlich. „Ich bin nicht der einzige, der Geheimnisse hat. Iliana wollte mir von ihrer Vergangenheit ebenfalls nichts berichten und Ihr habt vor mir die wichtigste Information überhaupt verheimlicht!“
Ilianas Herz vollführte einen angstvollen Satz. Er konnte nur ihren Hinweis meinen.
Halgin wirkte verwirrt. „Wovon sprichst du, Angnaur?“
Teshin trat einen Schritt auf ihn zu. Iliana erinnerte sich an die Ritter und wich instinktiv zurück. Würde es zum Kampf kommen? Sie hätte ihm nichts verraten sollen! Ängstlich umklammerte sie den Bogen. Teshins Worte spukten durch ihre Gedanken.
Ich verstehe, dass du Angst hast.
Sie fürchtete nicht Teshin selbst. Sie fürchtete den Wahnsinn, der von ihm ausging und sie gleichermaßen zu verschlingen drohte. Teshin verhieß Blut und Rache. Egal, wer er vorgab zu sein, für sie würde er immer der Angnaur, der Schwertdämon bleiben.
Teshin holte tief Luft. „Wann gedachtet Ihr, mir von den besonderen Eigenschaften jener zu berichten, die Eure Stimme zu hören vermögen? Nur diejenigen, die einen geliebten Menschen vor ihren Augen sterben sahen, ist das richtig?“
Einen Moment lang starrte Halgin ihn nur an. Esben wirkte überrascht und erhob sich vom Stuhl.
Kurz legte sich Stille über sie. Dann begann der König zögerlich zu sprechen.
„Deine Definition ist nicht völlig zutreffend. Nur diejenigen, vor deren Augen ein geliebter Mensch getötet wurde, können meine Stimme hören. So lautete der Fluch, der über mich gesprochen wurde.“ Er brach ab. Esben sank zurück auf den Stuhl, die Augen von Entsetzen geweitet. Iliana umklammerte den Bogen fester. Das rote Licht der Kugel verunstaltete Teshins Züge und verlieh ihm etwas Raubtierhaftes.
„Ich wollte dir deine Hoffnung nicht rauben“, fuhr Halgin schließlich fort. „Ein geliebter Mensch … wer weiß schon, wem man diesen Titel verleihen kann und wem nicht? Wenn ein Kind der Hinrichtung einer ihm bekannten Person beiwohnt, kann das oftmals ausreichen, ohne dass es diese Person als geliebt bezeichnen würde.“ Iliana fuhr bei diesen Worten zusammen. Schmerz durchzuckte sie wie ein Kugelblitz. Erneut loderten die Flammen vor ihrem inneren Auge.
Halgin blieb ihre Reaktion nicht verborgen. „Verzeih, mein Kind“, sagte er sanft. „Damit wollte ich nicht auf deine Ziehmutter anspielen. Natürlich hast du sie innig geliebt und hättest genau das auch gesagt.“
Teshin wirkte verwirrt, schwieg aber dankbarerweise. Die Bitternis jedoch verschwand nicht aus seinem Blick.
„Dennoch“, knurrte er mit unheilsschwangerer Stimme. „Ihr hättet …“
Ein Aufschrei schnitt ihm das Wort ab. Esben war erneut aufgesprungen, den fassungslosen Blick auf die Kugel gerichtet. Erschrocken starrte Iliana ihn an.
„Lasst den Streit!“, rief der gefallene Priester und verlor sich in hektischer Gestik. „Ein Heer! Ein Heer nähert sich Androgs Halle!“
Sofort stürzten sie zu Esben. Iliana sah die Kugel an, doch sie erblickte nur rötlich schimmernden Rauch. Halgin landete auf ihrer Schulter. Er schien ebenfalls nicht mehr zu entdecken. Teshin starrte das Artefakt mit fragend gerunzelter Stirn an, schien seinen Verwendungszweck jedoch sofort zu durchschauen. Ob er ein solches Instrument vielleicht sogar schon einmal gesehen hatte?
„Beruhige dich, Esben!“, rief er bestimmt. „Was für ein Heer? Wer führt es an?“
Esben atmete schwer, als er zögernd antwortete. Der Name glich einem Dolchstoß in Ilianas Herz. „Medardus.“