Gottes Hammer IX

Unter der Kapuze der Gestalt herrschte gähnende Leere. Kein Kopf, kein Gesicht, nicht einmal die leiseste Andeutung von fester Materie. Teshin starrte die Gestalt perplex an, als der Mantel plötzlich zu Boden fiel. Die Ketten rasselten unheilvoll und der Stab zerstob zu feinem Rauch. Es war, als hätte die düstere Kreatur niemals existiert.

Im nächsten Moment stürzte ein bärtiger Mann hinter einem kleinen Hügel hervor. Er hielt ein in Leder gebundenes Buch vor sich wie einen Schutzschild und war in eine vielfach geflickte Mönchskutte gehüllt. Teshin erkannte ihn erst auf den zweiten Blick.

„Esben?“, fragte er ungläubig.

Der Priester hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Sein weiches Gesicht furchten nun harte Züge, ein Auge schien gerötet wie von aufkeimenden Tränen. Er wirkte hager und ausgezehrt, Bitternis und Gram hatten seinem Leib ihre schadhafte Schirmherrschaft aufgedrängt. Dennoch erleuchtete Freude seinen unheilsschwangeren Blick, als er Teshin sah. Er breitete in weiter Geste seine Arme aus, so als wollte er die gesamte Welt umfassen. Beinahe entglitt ihm der gewaltige Foliant.

„Teshin, mein Freund! Ich war schon in Sorge! Du hättest doch bereits vor einer Woche hier sein sollen!“

„Kennst du diesen schwarzen Hexenmeister, Angnaur?“, gab Halgin misstrauisch von sich.

„Das ist kein Hexenmeister!“, entgegnete Teshin schnell. „Er heißt Esben und war mir ein guter Verbündeter in Aminas. Er wirkt dort als Priester.“ Tatsächlich hatte er sich noch nie so gefreut, einen Menschen zu treffen. Scheinbar konnte Esben ihm Antworten liefern. An den Geistlichen gewandt fügte er hinzu: „Es tut mir leid, Esben, dass ich dich warten ließ. Du musst wissen, ich habe mein Gedächtnis verloren. Ich weiß nichts mehr bis zu dem Punkt, an dem Saskia und ich uns dem Dämon in Aminas stellten. Alles andere ist wie ausgelöscht.“

Esben starrte ihn entsetzt an. „Was? Wie kann das sein?“

Teshin seufzte resigniert und glitt mäßig elegant vom Kutschbock. Trockener Staub erhob sich in die Lüfte, als er den Boden berührte. „Ich bin an diesem Morgen im Wald erwacht, direkt neben der legendären ersten Kirche von Sankt Esben. Das letzte, woran ich mich erinnern konnte, war der Kampf gegen den Dämon.“

Esben nickte ernst. Seine Finger schlossen sich fester um das große Buch. „Dabei hatte ich gehofft, dass du mir noch einige Fragen würdest beantworten können“, flüsterte er. „Das Leben hat einen zynischen Humor.“ Er seufzte. „Das sind Themen, die wir besser nicht ungeschützt hier draußen besprechen sollten. Folge mir in dein ehemaliges Heim, dort werde ich dir alles erklären, was ich weiß.“

Teshin nickte dankbar, aber er hatte die Rechnung ohne Halgin gemacht. Der König der Navali plusterte sich zu voller Größe auf und warf Esben einen glühenden Blick zu.

„Einen Moment!“, gebot er. „Teshin und ich sind immer noch Bundesgenossen, die schworen, Hornheim zu vernichten. Ich frage Euch, Esben, steht Ihr mit jenen dunklen Mächten im Bunde, mit denen Ihr uns empfangen habt?“

Teshin sah den Priester überrascht an. „Die Kapuzengestalt war dein Werk?“

Esben nickte beschämt. Er verneigte sich tief vor Halgin, bevor er das Wort ergriff.

„Verzeiht den rauen Empfang, ich hielt Euch für einen gefährlichen Eindringling. Jedoch drohte Euch keine ernste Gefahr. Lediglich eine Ilusion hat Euch angefallen. Was Hornheim betrifft, so bin ich nur ein wandernder Gelehrter, der sich in den äußersten Ausläufern einquartiert hat. Mit den finsteren Mächten dort habe ich nichts zu schaffen.“

Halgin wirkte überrascht. „Ausläufer? Gibt es etwa mehr Tempel als nur den einen dort?“ Bei diesen Worten deutete er mit dem Schnabel auf die mächtige Ruine vor den Bergen, die am Rande der Ödnis wie ein furchteinflößendes Untier thronte.

Esben lächelte. „Bitte, folgt mir, dann wird sich so manches Rätsel lösen. Doch zuvor, seid so gut und verratet mir Euren Namen.“ Zum ersten Mal glitt sein Blick auch über Iliana, deren Finger sich fest um den geraubten Bogen schlossen.

„Ich bin Halgin, König der Navali und des Waldes zu Hornheim, Prinz des verlorenen Reiches und letzter lebender Nachfahr von König Aranos dem Himmlischen.“ Als Iliana nichts erwiderte, fügte er hinzu: „Und dies ist mein junges Mündel, das ich um jeden Preis zu schützen gedenke. Ihr Name lautet Iliana. Teshin rettete ihr das Leben, als ich versagte.“ Die letzten Worte bereiteten ihm offenbar Unbehagen.

Esben verneigte sich ein weiteres Mal. „Ich fühle mich durchaus geehrt. Erlaubt mir eine Frage, Majestät … was haltet Ihr von Hexen und von der Inquisition? Schließlich nanntet Ihr mich vor kurzem Hexenmeister.“

Halgin gab einen kaum definierbaren Laut von sich. „Ihr seid ein weiser Zuhörer, doch glaube ich nicht an bösartige Frauen und Männer aus dem Volk, die gefährliche Tränke mischen und auf Besen reiten. Ich bin mit der Magie vertraut genug, um den Aberglauben von der Realität zu trennen.“

Esben nickte zufrieden. „Diese Antwort ist eines Königs würdig. Bitte, akzeptiert meine Einladung. Ich werde Euch in ein sicheres Heim führen. Hier draußen könntet Ihr von einem wirklichen Dämon angefallen werden.“

Diesmal hatte Halgin offenbar keine Einwände mehr, obwohl sein Schweigen deutlich sein Misstrauen kundtat. Mit energischem Flügelschlagen folgte er ihnen weiter in die Ödnis. Iliana folgte in leicht geduckter Haltung, den Bogen bereit. Ein Pfeil ruhte im tödlichen Gespann.

Kaum bogen sie um den Hügel, vernahm Teshin das Klappern von Hufen. Ihre Pferde hatten wohl samt dem Wagen die Flucht ergriffen. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Die dunkle Ausstrahlung des Ortes bereitete auch ihm Sorgen. Um sich abzulenken, begann er ein Gespräch mit Esben.

„Ich wusste nicht, dass du so ein mächtiger Magier bist. Konntest du den Trick mit der Illusion schon in Aminas?“, fragte er interessiert.

Esben schüttelte den Kopf, während er mit den Füßen den Staub von einem beinahe überdeckten Pfad trat. Sie folgten ihm tiefer in das verheerte Land. „Das habe ich in den letzten Monaten gelernt. Aber dazu später mehr. Wir sind gleich da.“

Der Weg endete abrupt an einem weiteren Hügel. Darin war ein schweres Holztor eingelassen, dass Esben mit einem gemurmelten Wort der Macht öffnete. Dahinter lag ein dunkler Gang, der abwärts führte.

Teshin hörte, wie Halgin scharf die Luft einsog. In einem engen Korridor würde ihm sein Flugfähigkeit zu keinem Vorteil gereichen.

„Keine Angst. Ich werde Euch nicht verraten“, beruhigte Esben den König. „Wenn Ihr wollt, gehe ich voran, sodass Euer Mündel mich sofort unschädlich machen kann, wenn Ihr es als notwendig empfindet.“ Dabei deutete er auf Iliana, die den Bogen unverhohlen auf ihn gerichtet hielt.

Halgin wollte sich wohl nicht der Angst zeihen lassen und nickte herrschaftlich. „So gehet voran“, orderte er mit ruhiger Stimme.

Ein weiteres Wort der Macht von Esben ließ mit einem Mal das Buch erglühen. Der Priester hob es über den Kopf. Teshin erkannte nun ein großes Gesicht, das der Autor in den kunstvollen Buchdeckel eingearbeitet hatte. Zorn und Schmerz schienen die Züge zu entstellen, das Licht kam von zwei großen Rubinen, die in den Augenhöhlen saßen. Erleichterung ergriff Teshin, als Esben den Folianten umdrehte, sodass die abscheuliche Fratze nach vorn blickte. So stiegen sie hinab in die Tiefe. Der Gang war höher als erwartet und seltsame Schriftzeichen bedeckten die gemauerten Wände. Teshin erkannte Worte der Alten Sprache, doch die meisten blieben ein Rätsel für ihn. Ihn schauderte. Diese Stätte unterschied sich auf jede nur denkbare Weise von Sankt Esbens legendärer Kirche.

Endlich erreichten sie das Ende des Ganges. Vor ihnen erstreckte sich eine gewaltige Halle, an deren Wände sich Galerien sowie Treppen und Statuen schmiegten. Zahlreiche Öffnungen verwiesen auf weitere Gänge. Teshin schluckte, als er drei gewaltige Tore auf der ihnen gegenüberliegenden Seite erkannte, die mächtige Schutzsiegel zierten. Wohin sie wohl führten?

Esben breitete die Arme aus. „Dies ist Androgs große Halle, Hornheims Vorraum sozusagen. Wie ihr alle sehen könnt, führen von hier aus viele Gänge ins Innere der Erde. Der große Tempel am Fuß der Berge ist nur der größte Ausläufer eines gewaltigen Höhlensystems.“

Teshin konnte nur nicken. Er fragte sich, ob er schon einmal hier gewesen war. Es regten sich keine Erinnerungen.

„Unglaublich!“ rief Halgin überwältigt. „Wie kann es sein, dass ich diesen Komplex nie gespürt habe? Ich fühle hier allerorts Reste uralter Magie!“

„Magie, die diesen Ort verstecken soll.“ Esben deutete auf kaum leserliche Schriftzeichen auf einer steinernen Tafel, die eine Statue mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze in die Höhe hielt. „Hier befinden sich überall Maßnahmen zur Verteidigung, jedoch sind sie alle schwach geworden. Hin und wieder regen sich noch Statuen, das sollte Euch nicht wundern. Vor Jahrtausenden dürften sie die Wächter Hornheims gewesen sein, aber die Magie hat sie beinahe vollständig verlassen. Nun sind sie ungefährlich.“ Wie als Protest hob die Statue leicht den steinernen Kopf und ein breites Grinsen wurde unter der Kapuze sichtbar. Iliana wich ängstlich zurück.

Halgin nickte stumm. Allein Teshin konnte der Anblick nicht zum Schweigen bewegen.

„Esben, was ist seit Aminas passiert? Ich muss endlich wissen, was los war!“

Esben nickte traurig. „Ich kann dir leider nur wenig verraten. Aber was ich weiß, will ich mit dir teilen.“ Langsam ließ er sich auf einem umgekippten Sockel nieder und holte tief Luft. Teshin zitterte erwartungsvoll.

„Am Tag, an dem meine Schwester verbrannt werden sollte, wurden Saskia und du vermisst“, begann er. „Jedoch nahmen wir alle an, ihr wärt in der Kirche und würdet den Dämon bekämpfen. Erst später erfuhr ich von dir, dass ihr bereits in der Nacht aufgebrochen seid. Aber wir haben nicht nach euch gesucht. Besonders ich war mit meinen Gedanken woanders. Ich habe meine Zeit beim Gebet für meine arme Schwester verbracht.“ Schatten verdunkelten seine Augen. „Als sie zum Scheiterhaufen geführt wurde und Medardus das Urteil verlesen ließ, zogen plötzlich Wolken auf, obwohl der Himmel davor noch klar war. Dann sahen wir plötzlich einen gewaltigen roten Blitz, der von der verfluchten Kirche zu stammen schien. Im nächsten Moment warst du schon auf dem Marktplatz. Du hattest rote Augen, genau wie dieses Gesicht.“ Dabei deutete er auf die düstere Verzierung des großen Buches, das in seinen Armen ruhte. „Die Menschen haben die Flucht ergriffen. Du bist herabgesprungen und hast eine Zeit lang mit Medardus gekämpft. Die Kerkerknechte rüsteten bereits zum Kampf, als er überraschend durch deine Hand starb. Ich kann mich noch genau erinnern. Er sang einen mächtigen Choral, obwohl er nicht einmal in einem Allerheiligsten stand, doch du hast ihn irgendwie … verstummen lassen, ihm die Magie geraubt. Dann starb er duch deine Hand.“

Teshin starrte Esben verwirrt an. „Aber Medardus lebt! Das weiß ich von den Rittern, die Iliana nach Aminas bringen wollten!“

Esben schien zu verstehen, was ihr wiederfahren war, doch ging er nicht darauf ein. Stattdessen nickte er kurz und seufzte.

„Ich weiß. Es ist mir selbst ein Rätsel. Nach dem Kampf haben sie seinen Leichnam sofort weggebracht. Eine Woche später hieß es überall, ein Wunder sei geschehen, Gottes Hammer sei erwacht und habe ihn wieder zum Leben erweckt. Angeblich handelt es sich dabei um eine wundertätige Person. Die Gerüchte berichten davon, Gott habe einen Heiligen entsandt, um die Welt von den Wunden des Krieges zu heilen. Mehr weiß ich auch nicht.“

Teshin nickte. Er konnte sich bei bestem Willen an keinen zweiten Kampf gegen Medardus erinnern.

Plötzlich mischte sich Iliana ein. Sie schien sofort begriffen zu haben, welches Schicksal sie mit Esbens Schwester verband. „Hat deine Schwester überlebt?“

Trauer furchte Esbens Züge, als er weitersprach. „Nein. Die Bewohner von Aminas hielten Teshin für einen Dämon und glaubten, dass er von meiner Schwester herbeigerufen worden wäre. Sie bewarfen sie mit Steinen, um sie unschädlich zu machen und schließlich entzündete der Bürgermeister eigenhändig den Scheiterhaufen.“ Esbens Augen schienen weit in die Ferne zu blicken. „Das war der eine Moment, der mich dazu bewog, Aminas zu verlassen. Ich kannte all diese Menschen. Für sie hatte ich in der Kirche gepredigt, ich habe manche von ihnen geheilt oder ihnen Trost gespendet. Vor meinen Augen verwandelten sie sich in blutrünstige Monster. Nichts konnte ihre verhärteten Herzen erweichen, weder Flehen noch Schmerzensschreie. Das ist wahre Dämonie.“ Esben schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe danach Aminas fluchtartig verlassen und mich als Wanderpriester verdingt. Eines Tages gab mir ein Totengräber dieses Buch. Er hatte es beim Ausheben eines Grabes entdeckt und verspürte große Angst vor seiner Macht, obwohl er keine magische Begabung besaß. Ich habe es an mich genommen und ihm versprochen, es zu läutern. Stattdessen habe ich es studiert.“ Der ehemalige Priester strich sanft über die kunstvoll verzierten Ränder des Folianten. „Ich hatte noch nie wirklich Talent für Magie, aber dieses Wissen kann sogar ich anwenden. Das Buch beinhaltet nämlich nicht nur Anleitungen, es ist auch eine Waffe, wie ihr gesehen habt.“ Im rötlichen Schein glitzerten seine Augen gefährlich.

Kurz breitete sich Schweigen aus, bis Teshin sich räusperte. Die Neugier überwog seine Beklommenheit.

„Was ist dann passiert? Was habe ich noch gemacht?“

Esben zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Erst vor wenigen Wochen war ich soweit, dich auf magischer Ebene zu spüren. Ich kam so schnell ich konnte hierher nach Hornheim. Hier hast du mir von deinem Kampf gegen den Dämon erzählt. Bevor ich aber mehr erfahren konnte, musstest du weg. Das war vor zwei Wochen.“ Esben seufzte. „Ein Mädchen hat dich begleitet.“

„Ein Mädchen?“, fragte Teshin verwundert. „Du sprichst nicht etwa von Saskia?“ Seine Gefährtin war zwar eine erwachsene Frau, aber vielleicht verwendete Esben nur das falsche Wort.

Esben schüttelte den Kopf. „Nein. Deine Begleiterin war jünger und zierlicher, noch jünger als Iliana hier. Ich wunderte mich ebenfalls, aber sie sprach nicht mit mir und als ich dich nach Saskia fragte, meintest du bloß, du würdest sie nun bald aufsuchen. Ihren Aufenthaltsort wolltest du mir ebenfalls nicht verraten. Dann seid ihr beide aufgebrochen, sichtlich angespannt.“

Teshin befiel eine üble Vorahnung. „Dieses Mädchen hatte nicht zufällig Hörner auf dem Kopf?“

Esben runzelte die Stirn. „Ja! Kannst du dich etwa doch erinnern? Du hast mir damals versichert, es handle sich lediglich um Körperschmuck.“

Teshin rang nach Luft. Sein Verdacht bestätigte sich. „Esben, ich glaube, ich habe dir damals nicht alles über den Kampf gegen den Dämon erzählt.“

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