Vom ersten Satz – von Miriam Krunkel

            Es war einmal – nein, ein Märchen sollte das hier nicht werden. Nachdenklich tippte ich mit dem Stift auf meiner Lippe.

            Es geschah in einer finsteren und stürmischen Nacht – bloß nicht, so fing doch heutzutage jeder zweite Roman an. Es musste mysteriöser beginnen.

            Vor langer Zeit, lange bevor du oder ich in dieser Welt existierten – das letzte Wort noch nicht zu Ende geschrieben und ich wusste schon, dass mir dieser Anfang ebenso wenig gefallen würde wie seine Vorgänger. Ich grübelte weiter.

            Ich erwachte aus meinem Schlaf wie ein Ertrinkender die Wasseroberfläche durchstößt; ruckartig, zuckend, panisch; tief nach Luft schnappend und desorientiert – dieser Satz machte keinen Sinn, mein Protagonist sollte nicht erst wach werden müssen, bevor ich mit der Handlung beginnen konnte. Wie schwer konnte es wohl sein, einen einfachen kurzen Satz auf das Papier zu bekommen.

            Nachdenklich blickte ich aus dem Fenster und beobachtete die Regentropfen, die sich in unwillkürlichen Spuren am Glas entlang einen Weg nach unten suchten – und schon wieder Wetter, langsam bemerkte ich ein Muster. Erst die stürmische Nacht und dann auch noch Regen, das sollte ich besser sofort wieder verwerfen. Niemanden fesselte es, über das Wetter zu lesen.

            Eine dunkle Gestalt huschte durch die finstere Hintergasse, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und mit gesenktem Blick, sodass man nicht erkannte, wer der Fremde war – ich sollte es für heute Abend aufgeben. Oder es wäre sinnvoller, wenn ich den ersten Satz einfach übersprang und mir später Gedanken darüber machte.

            Frustriert und enttäuscht von mir selbst ließ ich den Stift auf die Tischplatte fallen und stieß mich mit einem Ruck von ebendiesem fort. Mit dem Schreibtischstuhl rollte ich den halben Weg bis zu meinem Bett, auf das ich mich stöhnend sinken ließ.
            Dieser eine erste Satz sollte mir nicht schwerfallen, die Begebenheiten waren perfekt. Inspiriert und motiviert, eine heiße Tasse leckeren Kaffee auf dem Schreibtisch stehend und draußen regnete und gewitterte es, die beste Atmosphäre, um am späten Abend zu schreiben.

            Was war also das Problem? Wieso plagten mich ein paar harmlose Worte? Lag es daran, dass das Papier noch komplett leer war? Die wichtigste Frage jedoch: Wollte ich mich von ein paar Anfangsschwierigkeiten unterkriegen lassen?

            Entschlossen kämpfte ich mich von der verlockenden Wärme meines Bettes hoch und trat ans Fenster. Anstatt wie in einem der eben geschriebenen Gedankenfetzen den Regentropfen zuzuschauen, schob ich die Gardinen aus dem Weg und öffnete es. Augenblicklich schlug mir die kühle, nasse Luft entgegen und das andauernde Grummeln und Grollen in der Ferne erfüllte meine Ohren.

            Mein Blick schweifte durch die schmale Gasse, die unter dem Zimmer her verlief. Nur wenige Menschen nahmen diesen Weg, die wenigstens kannten ihn überhaupt. Es war nötig, einmal um ein altes Fachwerkhaus herum zu laufen, damit man diese Lücke zwischen zwei Häusern entdeckte und dann dafür nutzte, schneller in die Parallelstraße dahinter zu gelangen.

            Meistens waren die Objekte meiner Beobachtung streunende Katzen und rastende Vögel, manchmal verirrten sich Ratten und Mäuse hierher, die vor den lauernden Raubtieren eilig die Flucht suchten. Nie war diese Gasse Schauplatz eines besonderen oder aufregenden Ereignisses.

            Doch an diesem Abend war alles anders. Nicht nur, dass mir der Beginn einer neuen Geschichte mehr Sorgen bereitete als jemals zuvor in all der Zeit, seit ich Worte zu Papier brachte. Dieser Abend sollte noch so viel mehr bereit halten.

            Trotz der späten Stunde und dem miserablen Wetter sah ich zu meiner Verwunderung eine Person den Weg unter dem Fenster einschlagen. Zwar war diese nicht in einen schweren Mantel gehüllt und mit Kapuze verschleiert, wie in meinem literarischen Versuch vorhin, stattdessen durch eine dicke Daunenjacke und eine Wollmütze verhüllt.

            Das Resultat war das gleiche, der- oder diejenige wirkte geheimnisvoll und zwielichtig. Dunklen Machenschaften nachjagen, trügerischen Geschäften nachgehen, verbotenen Handel tätigen – ein einziger Blick auf diesen Menschen im fahlen Laternenschein und meine Fantasie, die wenige Augenblicke zuvor zu wünschen übrig ließ, spielte die wildesten Szenarien durch. Wenn doch nur das Schreiben so unbeschwert voran ging, wie meine Gedanken in solchen Situationen sprießten.

            War es ein Drogendealer? Ein Entführer, vielleicht sogar ein Mörder? Suchte diese Person etwas von Bedeutung? War sie einem Geheimnis auf der Spur? Sah ich dort jemanden, der auf der Flucht war. Steckte er oder sie in Gefahr? Sollte ich vor der Tür nachschauen, ob man meine Hilfe brauchte? Oder war es hier sicherer für mich, wenn ich mich aus allem, was dort unten vor sich gehen würde, raushielt?

            Starr vor Neugier, Schock, Angst und Unsicherheit verharrte ich am offenen Fenster, spürte den eisigen Regen und Wind im Gesicht nicht, krallte mich nur gebannt an den Gardinen zu meinen Seiten fest. Sobald dieser Mensch hochschaute oder um Hilfe rief, schwor ich mir, würde ich aus dem Zimmer rennen und mit dem Baseballschläger der neben der Tür lehnte bewaffnet in die enge, gepflasterte Gasse stürmen.

            Je weiter sich diese Person bewegte und sich somit meiner Wohnung näherte, desto schneller schlug mein Puls. Mir wurde mein rasches Luftholen bewusst und wie ich am ganzen Körper zitterte, als stände ich selbst dort unten im nasskalten Wetter. Nun lebte ich schon über ein Jahr hier und nie war etwas vergleichbar Spannendes geschehen. Dies waren die Geschichten, die ich sonst nur aus meinem Kopf heraus zu Papier brachte.

            Mein Herz klopfte inzwischen wild in der Brust, die Bewegung spürte ich bis in den Hals. Jede einzelne Faser in mir war gespannt, bereit, wenn nötig, sofort in Aktion zu treten. Nur noch wenige Sekunden und diese Gestalt würde sich unmittelbar unter dem Fenster aufhalten. Falls dieser jemand Hilfe benötigte, würde man das Licht aus meinem Zimmer heraus bemerken. Spätestens auf dieser Höhe würde die Person also hochschauen, mit einem Blick oder Ruf zu verstehen geben, dass sie in Not war. Und dann wäre meine Zeit gekommen, einzuschreiten, mutig und entschlossen zu handeln und einzugreifen.

            Die wenigen Meter zogen sich dahin, voller Erwarten und Tatendrang hielt ich die Luft an, schließlich durfte ich selbst den leisesten Ruf nicht überhören. Die letzten drei Schritte, zwei, ein einziger noch.

            Und ohne auch nur kurz innezuhalten, aufzublicken oder einen Ton von sich zu geben, passierte die durch die Gasse eilende Person mein Fenster und huschte im selben Tempo weiter, wie sie bereits bis zu dieser Stelle gekommen war.

            Wie ein Ertrinkender schnappte ich nach Luft, jegliche Spannung und Aufregung fiel von mir ab. Was auch immer ich erwartet hatte, mit ein wenig Enttäuschung gestand ich mir ein, dass es nur ein gewöhnlicher Mensch war, der sich bloß passend gegen das Wetter gekleidet den schnellsten Weg zu seinem Ziel gesucht hatte.

            Soviel also dazu. Eine dramatische Begebenheit, die sich ausnahmsweise mal im realen Leben abspielte, anstatt nur aus einer Idee heraus den Weg auf das Papier zu finden, war letztendlich nur ein Hirngespinst, das meiner übermüdeten und verzweifelt nach einem Geschichtenanfang suchenden Fantasie entsprungen war. Ich war beinah etwas enttäuscht.

            Da sich sowohl Herzschlag als auch Atmung beruhigt hatten, schloss ich die Fensterläden und setzte mich fest entschlossen zurück an meinen Schreibtisch. Wessen Kopf ohne Probleme ein solches Abenteuer in eine eigentlich langweilige und alltägliche Szene hinein interpretieren konnte, der sollte es immerhin schaffen, endlich einen ersten Satz für eine neue Geschichte zu schreiben.

            Schmunzelnd dachte ich an die letzten Minuten, griff nach Stift und Papier und schrieb einen Satz, dessen Wortwahl mir nur allzu bekannt vorkam: ‚Eine dunkle Gestalt huschte durch die finstere Hintergasse, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und mit gesenktem Blick, sodass man nicht erkannte, wer der Fremde war.‘

            Und da war es, das Gefühl, das mir den gesamten Abend gefehlt hatte. Der Funken, den die ersten Worte einer neuen Geschichte auslösten. Die Bilder, die ausgelöst durch einen einzigen Satz vor den eigenen Augen her huschten. Das Gespür und das Wissen, wohin dieses neue Abenteuer in den nächsten Seiten führen würde. Die grobe Vorstellung, was der Protagonist alles durchleben musste auf seinem Weg durch die Seiten.

            Beflügelt von all dem, versorgt mit inzwischen kaltem Kaffee, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf und der Beginn der Geschichte war nur noch ein kleines Hindernis, das ich in einer nächtlichen Schreibsitzung problemlos hinter mich bringen konnte.

            Und wer hat nochmal gesagt, dass dieser eine erste Satz so schwierig war? Manchmal fehlte nur ein ausschlaggebender Moment und jeder noch so hartnäckige Anfang stellt sich letztendlich nur als kleine Hürde heraus.

 


 

Wettbewerb in der Schreibkommune 2021

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