Das letzte Gänseblümchen (2/2)

„Ich lebe meinen Traum schon“, antwortete sie mit verschmitztem Grinsen. „Ich bin ein Model.“
Milans Mund klappte auf. Das hatte er nicht erwartet. Auch Hans wirkte überrascht. Sein Schlüsselanhänger schlug mit einem markerschütternden Geräusch auf dem schneeweißen Fußboden auf.
„Ein Model!“ Milan kratzte sich am Hinterkopf. „Ist das nicht ziemlich hart?“
Er ließ seinen Blick über Alinas Körper gleiten, doch er konnte nicht sagen, ob sie schlank oder krankhaft dünn war. Über ihre hohen Wangenknochen spannte sich glatte Haut, sie war nicht eingefallen. Dennoch glaubte er plötzlich, eine gewisse Mattheit in ihren Bewegungen wahrzunehmen, so als ob sie im Zustand permanenter Erschöpfung wäre. Ihre Lider waren halb geschlossen und ihren Augen schien ein bestimmter Glanz zu fehlen.
Alina lächelte schwach und zuckte mit den Schultern. „Für den eigenen Traum muss man eben Opfer bringen.“
„Welche Opfer ist dabei die Frage“, konterte Milan.
Er konnte sehen, dass er gefährliches Terrain betrat. Alina runzelte ihre Stirn und ihre Augenbrauen bildeten eine sorgenvolle Linie. Offenbar hatte sie diese Reaktion nicht erwartet.
„Machen wir weiter“, sagte sie schließlich und konzentrierte sich auf ihren Block. „Willst du mir von deiner Kindheit erzählen?“
„Das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Milan verschränkte grinsend die Arme vor der Brust. „Wenn du etwas von mir haben willst, musst du auch etwas dafür geben.“
Alina seufzte. „Du willst ernsthaft, dass ich dir von meiner Kindheit erzähle?“
„Diese Frage gebe ich gern zurück.“
Alina warf Hans einen hilfesuchenden Blick zu, doch der alte Justizwächter nickte nur. Es war Milans gutes Recht, Fragen zu verweigern.
Alina stöhnte. „Na gut. Ich hatte eine glückliche Kindheit mit zwei Brüdern und einem liebenden Vater, der alles für uns tat.“
„Bist du das Sandwichkind?“, fragte Milan.
Alina klang misstrauisch. „Ja. Wieso?“
„Das war geraten.“
Nun war es an Alina, die Arme vor der Brust zu verschränken. Sie fühlte sich scheinbar unwohl und sehnte sich nach einem schützenden Schild. Milan beschloss, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.
„Ich hatte eine jüngere Schwester und zwei liebende Eltern. Eigentlich lief alles immer genauso, wie es laufen sollte. Ich kann also auch nicht klagen.“
Alina runzelte die Stirn. „Das klingt irgendwie unspektakulär.“ Im nächsten Moment wirkte sie, als ob sie sich am liebsten selbst ohrfeigen wollte.
Milan starrte sie einen Augenblick lang an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
„Du hast recht! Es war unspektakulär. Zumindest für einen Verbrecher.“
Alina sah ihn verwundert an, bevor sich ein zaghaftes Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete.
„Also, was ist die nächste Frage?“ Milan rieb sich die Hände. Das Gespräch weckte längst vergessene Lebensgeister in ihm.
„Das wird dir vielleicht schwerfallen“, murmelte Alina unsicher. „Aber warum hast du einen Mord begangen?“
Milan versuchte, sein Lächeln aufrechtzuerhalten, obwohl sich seine Innereien verkrampften. Er schluckte und ertappte sich dabei, die Spielkarte erneut zusammenzufalten.
„Das ist wohl die Preisfrage, nicht wahr?“, erwiderte er leise. „Wenn ich ganz ehrlich sein soll – ich kann mich kaum noch erinnern. Ich weiß nur noch, dass jemand meiner Schwester etwas angetan hatte … und dass ich sie weinend in der Garage fand. Dann erinnere ich mich an diese Wut … an diese schreckliche Wut … hast du schon einmal jemanden aus ganzem Herzen gehasst? So sehr gehasst, dass du ihm alles Mögliche angetan hättest?“
Alina wirkte vorsichtig. Einen Augenblick lang zögerte sie, so als ob tatsächlich so jemand existierte. Doch dann wanderten ihre Augen weiter zu Hans und sie schüttelte den Kopf.
„Das dachte ich mir. Ich hoffe, dass du dieses Gefühl nie erfahren wirst.“ Milan holte tief Luft und schloss die Augen, während er sich an jenen Abend zurückversetzte. „Meine Schwester und ich, wir waren wie in einem Gefängnis. Sie hatte keine andere Wahl … sie musste es tun … aber ich konnte es nicht mehr ertragen, sie so zu sehen. Jeden Tag schien sie ein bisschen weniger Leben in sich zu tragen.“ Bei diesen Worten zog er die ramponierte Spielkarte aus seiner Tasche und zeigte sie Alina. Die Falten bildeten ein perfektes Kreuz über der Dame. Die Abbildung lächelte gezwungen, so als ob sie innerlich Schmerzen leiden würde. In der Hand hielt sie ein kleines Gänseblümchen.
„Ich bin aus dem Gefängnis ausgebrochen“, erklärte er. „Für sie.“
„Um hier zu landen“, entgegnete der alte Hans von hinten. Milan zuckte zusammen. Er hatte beinahe schon vergessen, dass der Justizwächter dort stand.
„Bereust du es?“, fragte Alina leise.
Milan schloss die Augen. Er dachte zurück an seine Schwester, an ihre Angst und an die Abscheu und die Erleichterung in ihren Augen, als die Gefahr endlich vorüber war. Milan wusste, dass er in diesem Moment eigentlich lügen sollte, aber etwas in Alinas Blick brachte ihn dazu, die Wahrheit zu sagen.
„Nein“, erwiderte er mit fester Stimme. „Ich habe es nicht für mich getan, sondern um sie zu beschützen.“
Alinas Stift huschte leise über den karierten Block. Milan hörte, wie Hans wieder mit seinem Schlüsselanhänger zu spielen begann. Die Stille war unerträglich.
„Was ist mit dir?“, fragte Milan herausfordernd. „Hattest du schon einmal den Mut, dich gegen die Masse zu stellen?“
Alina hob eine Augenbraue. „Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.“
Milan beugte sich ein wenig vor. Ihm entging nicht, dass Hans sich anspannte. Er achtete nicht auf den alten Justizwächter, sondern blickte Alina direkt in die Augen.
„Du hast gesagt, dein Traum ist das Modeln“, sagte er leise. „Hattest du je den Mut, das Wohl anderer Menschen über deinen Traum zu stellen?“
Alina zögerte. Die Luft knisterte vor Spannung. Sie schluckte.
„Verurteilst du mich?“, fragte sie langsam. Milan hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme.
Er seufzte. „Versteh mich nicht falsch. Von mir bekommst du keinen Vorwurf. Nur Mitleid.“
Damit öffnete er seine rechte Hand und offenbarte das Gänseblümchen, das er auf dem Gefängnishof gepflückt hatte. Er streckte seine Hand langsam zu dem vorgesehenen Spalt in der Glasscheibe aus und schob es hindurch. Alina starrte das kleine Blümchen entgeistert an, bevor sie es mit zitternden Händen aufnahm.
„Ich möchte gern zurück in die Zelle“, sagte Milan zu Hans. „Ich hoffe, ich konnte dir deine Fragen beantworten“, fügte er an Alina gewandt hinzu.
Alina schwieg. Ihr Blick pendelte nur zwischen dem Gänseblümchen und seinem Gesicht hin und her. Milan schenkte ihr ein letztes mitleidiges Lächeln, als er sich abwandte und Hans ihn durch die Tür führte.

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