Der letzte Palast (1/2)

Sacht fegte ein staubiger Windstoß durch die Ödnis. Ausgetrocknete Flussbette und abgestorbene Bäume säumten seinen Weg, das silbrige Mondlicht tanzte auf ihm und gelangte selbst in den rissigen Erdboden. Der Wind durchquerte die leblose Landschaft unter dem schimmernden Sternenhimmel. Keine einzige Wolke stand am Himmel.

Eine auffällige Felsformation, um die sich schwarzer Rauch wand wie ein hungriges Gespenst, erhob sich inmitten der Trostlosigkeit. Wie wabernder Nebel verschluckte er das fahle Mondlicht und verbarg sein Geheimnis vor neugierigen Augen.

Stille beherrschte die Einöde, bis mit einem Mal zwei gewaltige Lichtsäulen vom Sternenhimmel herunterfuhren und das halbdunkel zerrissen. Direkt vor der Felsformation bohrten sich die Säulen in den trockenen Boden und wirbelten eine Staubwolke auf. Einen Augenblick später waren sie verschwunden und zwei geisterhafte Schemen traten daraus hervor.

Gwen kniff die Augen zusammen und strich eine Strähne ihres karmesinroten Haares hinter ihr Ohr. Der Wind zog sacht an ihrem langen Umhang und zerrte feine Lichtfetzen aus der Spitze ihres langen Zauberstabs. Dabei hörte sie hämisches Flüstern und kurz glaubte sie, diabolische Augen blitzten sie aus der Dunkelheit heraus an.

Gwen hob entschlossen den Stab. „Ormozd!“

Eine Druckwelle aus Licht breitete sich um sie herum aus und fegte ihr beinahe den verzauberten Spitzhut vom Kopf. Das Wispern des Windes erstarb sofort und der Luftzug legte sich. Gwen atmete tief durch, als sie mit einem Mal eine Bewegung neben sich wahrnahm. Sofort wirbelte sie herum und hob kampfbereit ihren Stab. Ihre Lippen formten bereits Worte, bis sie ihre Freundin erkannte.

„Yuki!“, rief sie erleichtert. „Gravis sei Dank, es hat funktioniert!“

Die schweigsame junge Frau mit den wallenden schwarzen Haaren und den geschlitzten Augen nickte langsam. Sie trug einen bunten, fremdartigen Mantel, der einem langen Federkleid glich. Seine weiten Ärmel verbargen kaum die metallenen Kappen, die sich über ihre geballten Fäuste wölbten. Schwach glimmende Schriftzeichen bedeckten ihre harte Oberfläche.

Gwen atmete tief durch. Sie durften nun keinen Fehler begehen. Das Schicksal der gesamten Welt hing von ihnen ab.

Langsam suchte sie mit zusammengekniffenen Augen ihre Umgebung ab und erschauderte, als sie die toten Bäume erspähte. Sie wirkten wie Leichen, die im Todeskampf ihre dürren Arme in alle Richtungen ausstreckten.

Yuki zupfte an ihrem Ärmel und deutete hinter Gwen. Ihre unergründlichen schwarzen Augen verengten sich.

Als Gwen sich umwandte, sah sie zunächst nur schwarzen Nebel. Erst nach einigen Sekunden erkannte sie die Silhouette einer Felsformation.

„Das muss der Eingang sein!“, rief sie und schluckte. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie durften sich nun keinen Fehler erlauben. Langsam ging sie vorwärts, den Stab vorsichtig erhoben. Yuki folgte ihr mit forschen Schritten. Ihre Gewänder schleiften über den staubigen Boden.

Gwen strengte ihre Augen an, doch sie konnte die Schwärze des Nebels nicht durchdringen. Probeweise streckte sie eine Hand aus und erschauderte, als die Dunkelheit ihre Haut umschlang. Beinahe fühlte es sich an wie eine wahrhaftige Berührung.

Im nächsten Augenblick erhob sich bestialisches Brüllen. Gwen konnte nicht reagieren, als der Nebel sich verdichtete und ein dunkles Gesicht auf ihren Arm niederfuhr. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei.

Es verging kein Herzschlag, bis eine weitere Lichtsäule vom Himmel herabfuhr und das Wesen vor ihr in Stücke schnitt. Eine goldene Druckwelle fegte die Dunkelheit vor der Felsformation hinweg und offenbarte einen jungen Mann mit goldblondem Haar und blitzenden blauen Augen, dessen Langschwert im fahlen Mondlicht silbrig glitzerte. Er trug eine Rüstung und einen beeindruckenden Schild mit Schutzrunen.

„Ormozd Alvanalev!“, kam es aus seinem Mund.

Der dunkle Nebel verschwand und ein fernes Wimmern ertönte. Der junge Mann ließ seinen Schwertarm sinken und fixierte Gwen vorwurfsvoll.

„Das war gefährlich“, sagte er.

„Ich bin geschützt, Lameth“, erwiderte Gwen und ließ wie zum Beweis ihren Schild aufleuchten. „Abgesehen davon, was hat dich denn aufgehalten? Wir müssen die Welt retten, schon vergessen?“

Lameth lächelte verlegen und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Die ernste Aura fiel von ihm ab wie ein alter Mantel.

„Meister Gravis hatte noch einen Rat für mich“, sagte er. „Das könnte schließlich das letzte Mal sein, dass ich ihn gesehen habe.“

Gwen hob eine Augenbraue. „Ich weiß, dass er für dich immer wie ein Vater war, seitdem er dich im Wald gefunden hat. Aber du musst dich jetzt konzentrieren. Du bist der einzige, der den Dämonenkönig besiegen kann!“

Yuki stellte sich neben Gwen und nickte bekräftigend. Dabei schlug sie ihre metallenen Fäustlinge gegeneinander. Früher hatte dieses Geräusch Gwen immer zum Zittern gebracht, aber nach ihren gemeinsamen Reisen war sie mittlerweile schon daran gewöhnt.

Lameth atmete tief durch und nickte. „Ich weiß. Ich werde mich nicht zurückhalten.“ Seine Augen funkelten entschlossen. „Ich habe die besten Freunde an meiner Seite, die sich ein Mensch nur wünschen kann! Gemeinsam können wir diese ewige Geißel vernichten!“

Gwen und Yuki nickten zustimmend. Sie hatten so vieles gemeinsam erlebt. Sie waren bereit, den letzten Gegner zu besiegen!

Lameth hob den Schild und näherte sich der verräterischen Felsformation. Sie wirkte wie der unebene Rücken eines schlafenden Drachen.

„Belphegors Rücken“, flüsterte Gwen beeindruckt. Das schroffe Gestein wirkte rasiermesserscharf.

„Hier muss der Eingang sein“, murmelte Lameth. „Yuki! Das ist deine Aufgabe.“

„Gut.“ Wohlige Schauer liefen über Gwens Rücken. Yukis Stimme erinnerte sie an einen Fluss aus Milch und Honig, der sie warm umschloss. Dennoch umklammerte sie den Ebenholzstab fester. Sie durfte sich nun keinerlei Ablenkung erlauben.

Bedächtig schritt Yuki zum Eingang und nahm ihre Eröffnungsposition ein. Sie murmelte einige unverständliche Worte, bis die Symbole auf den Metallkappen zu glühen begannen. Yuki stieß einen bedrohlichen Schrei aus und schlug zu.

Ein roter Lichtblitz erfüllte die Luft und das Geräusch berstenden Gesteins zerriss die Stille der Einöde. Risse zogen sich durch die Felsformation. Einen Augenblick später erzitterten die Felsen und eine getarnte Wand stürzte ein. Gwen bedeckte ihre Augen mit den Händen und bewegte sich vorsichtig nach vorn. Yukis Angriff hatte einen kleinen Erker freigelegt. Mit ihren Sinnen erspähte sie eine verborgene Treppe hinter der gemauerten Wand.

„Geht zur Seite!“, rief Gwen und hob ihren Ebenholzstab. „Hier ist der Eingang!“

Yuki und Lameth traten zurück und Gwen klopfte gegen die Mauer. Sie löste sich in feinen Staub auf, der langsam zu Boden rieselte. Dahinter kam ein uralter Torbogen zum Vorschein, der sich über die abschüssige Treppe wölbte.

„Das ist es“, flüsterte Lameth. „Der unterirdische Palast des ersten Reiches.“ Kurz schloss er die Augen. Er schien Kraft zu sammeln. Als er sie wieder aufschlug, glühten sie golden.

„Ich gehe voran“, sagte Lameth schlicht und begab sich zur Treppe.

Die Anordnung war überflüssig. Die drei hatten bereits so oft miteinander gegen die Mächte der Finsternis gekämpft, dass Gwen ihm instinktiv nachfolgte und Yuki die Nachhut bildete. Gwen umklammerte ihren Stab fester und sprach einen Segen über ihre Freunde. Die magischen Energien mussten frei fließen, wenn sie den König bekämpfen wollten.

Die Treppe war lang und dunkel, jedoch überraschend gut erhalten. Gwen war überrascht, Jahrtausende waren seit dem Untergang des alten Reiches vergangen, doch die Stufen wirkten wie neu.

Kurz glaubte sie wieder, leise wispernde Stimmen zu hören. Gwen konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Bisher waren ihre Feinde stets Dämonen gewesen, deren Kräfte sich analysieren und bewerten ließen. Sie fürchtete die mystische Aura dieses Orts.

Geheimnisumwittert heißt lediglich informationslos.

Mit einem Mal legte sich Yukis Hand sanft auf ihre Schulter. Gwen ergriff und drückte sie. Yuki schien stets zu spüren, wann es ihr schlechtging.

Endlich erreichten sie das Ende der Treppen. Vor ihnen erhob sich ein prunkvolles Doppeltor, das von dämonischen Statuen flankiert wurde. Gwen erkannte die Darstellung. Der Künstler hatte zwei doppelköpfige Unholde verewigt, deren raubtierhafte Züge einem Geier ähnelten. Gwen erinnerte sich widerstrebend an einen Kampf gegen diese Wesen, den sie zusammen geführt hatten. In diesem Augenblick beruhigte sie die Anwesenheit von Yuki und Lameth mehr als jede Ehrengarde es je könnte.

„Dort oben steht etwas“, sagte Lameth leise. Gwen folgte seinem Blick und erkannte verwitterte Buchstaben auf dem Torbogen. Sie kannte weder die Schrift noch die zugehörigen Satzzeichen. Für sie wirkte es wie das Gekritzel eines wirren Hofnarrs.

„Fürchte dich selbst“, las Lameth zögerlich vor.

Gwen und Yuki musterten ihn verblüfft. Lameth sah sie verlegen an.

„Was ist das für eine Sprache?“, fragte Gwen sofort. „Wieso kannst du sie?“

„Ich … ich weiß es nicht“, gestand Lameth. „Sie wirkt irgendwie vertraut …“

Gwen seufzte. Solche Dinge geschahen ständig. Lameth besaß keine Erinnerungen an seine Kindheit und glaubte immer wieder, in alten Relikten Erinnerungsfetzen zu erkennen.

Wahrscheinlich steht dort in Wirklichkeit nur so was wie „Mit Schuhen betreten verboten“ oder „Keine Waffen erlaubt“. Dennoch stieg Unbehagen in Gwen auf. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass Yuki sorgenvoll die Stirn runzelte. Ihre Freundin wirkte ebenfalls besorgt.

„Egal …“ Lameth trat vor und untersuchte das gewaltige Doppeltor. „Ich glaube, das könnten wir sogar ohne Yuki schaffen … diese Seite gibt nach …“ Lameth stemmte sich dagegen. Kurz geschah nichts, dann knarrte der Torflügel und schabte über den steinernen Boden. Gwen starrte das Tor überrascht an.

Wie kann das Holz so viele Jahrtausende überstanden haben? Es hat nur die Farbe gewechselt. Statt bräunlich wirkte es im schwindenden Licht beinahe grau.

Lameth drückte das Tor ein Stück weit auf, dann ging er mit erhobenem Schild durch den so entstandenen Spalt. Gwen folgte ihm mit hämmerndem Herzen und hörte Yukis beruhigende Atemzüge. Sie zwang sich innerlich, ihren Puls dem ihren anzugleichen.

Als sie das Tor passierten, empfing sie plötzlich Helligkeit.

Gwen starrte überrascht auf die gewaltige Halle, die sich vor ihnen erstreckte. Reich verzierte Fackeln in der Form lauernder Gargoyles verbreiteten rötliches Leuchten. Gwen konnte trotz ihrer Magiesicht keine Fallen entdecken.

„Die Halle ist riesig!“, stieß sie atemlos hervor. „Und es gibt keine einzige Falle!“

Lameth betrachtete sie mit gehobener Augenbraue. „Keine einzige Falle? Bist du dir sicher?“

Gwen schob die Unterlippe vor. Musste er ausgerechnet jetzt an ihr zweifeln? Sie war auch ohnedies schon nervös genug!

„Natürlich sind hier keine Fallen! Hast du schon vergessen, dass Meister Gravis mich zum Oculus ernannt hat?“

Lameth leckte sich nervös über die Lippen. „Hier ist nichts“, murmelte er. „Keine Fallen, keine Feinde, keine Einrichtung. Wofür diente diese Halle?“

Gwen wollte bereits Vermutungen anstellen, als Yuki ihnen beiden die Hände auf die Schultern legte und mit dem Kinn auf die Wand vor ihnen deutete. Gwen wandte verwirrt den Kopf und entdeckte mit einem Mal im Halbdunkel der Wand eine Karte, die jemand in die Mauer gemeißelt hatte.

Lameth hob seinen Schild. „Bleibt zurück!“

Gwen verdrehte die Augen, bevor sie ihm in der gewohnten Formation nachfolgte. Eine goldene Aura tanzte wie ein Lichtermeer auf Lameths Körper und rang mit den roten Lichtern der Statuen an der Wand. Gespensterhafte Schatten wiegten sich an der Wand, während sie die Karte betrachteten.

„Scheint so, als hätte der Palast drei Ebenen“, flüsterte Lameth. „Das Grab des Dämonenkönigs ist ganz unten.“

Gwen zischte übellaunig. „Natürlich. Warum kann unser Ziel auch nie dort sein, wo unsere Karten es sagen?“

Yuki kicherte mit vorgehaltener Hand, während Lameth sie mit gehobener Augenbraue musterte. „Na hör mal“, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns. „Meinst du, die Welt zu retten wäre einfach?“

Gwen verkniff sich eine Antwort und setzte sich in Bewegung.

Sie gingen vorsichtig die Wand entlang und blieben im Schatten der gewaltigen Gargoyle-Statuen. Gwen hoffte zutiefst, dass sie nicht lebendig werden konnten. Ihr zweiter Kampf hatte ihnen ein ähnliches Problem bereitet und blieb immer noch ihre schlechteste Erinnerung.

Gleich nach den Unholden mit den zwei Köpfen.

Die Halle war leer, aber entsetzlich groß. Gwens Augen schmerzten bereits nach der Hälfte durch die konstante Magiesicht. Sie war sogar gewaltiger als Meister Gravis‘ Anwesen in Karfurth!

„Wir sollten uns beeilen!“, rief Lameth. Er wirkte nun todernst. Gwen entging nicht, dass er seinen Schild krampfhaft umfasste. „Das Heer der Dämonen wird Karfurth jeden Augenblick erreichen. Wir müssen das Grab vorher finden!“

Gwen nickte zustimmend und beschleunigte ihre Schritte. Die Geräusche hallten unnatürlich in der Stille der gewaltigen Halle wider. Gwen warf unsichere Blicke in alle Richtungen. Das rote Licht wirkte unheilvoll. Sie erschauderte, als sie die unnatürlichen Verrenkungen ihrer eigenen Schatten an der Wand beobachtete. Sie erkannte keine Fallen, aber war trotzdem beunruhigt. Dieser Ort strahlte mystische Bedrohlichkeit aus, wie ein gefährlicher Schemen eines gewaltigen Raubtiers, der sich in dunklem Nebel verbarg.

Endlich erreichten sie das Ende der Halle. Ein weiterer Torbogen überspannte eine gähnende Öffnung, die wie das Maul eines Raubtiers wirkte. Kurz glaubte Gwen, wieder entferntes Flüstern zu vernehmen. Die Stimmen klangen nun von Trauer erfüllt und schwebten aus der finsteren Öffnung zu ihnen empor.

„Das wäre der ideale Ort für einen Hinterhalt“, flüsterte Lameth und hob seine Waffen. „Dies sind die Ruinen eines vergessenen Reichs. Wir können nicht genau einschätzen, was hier auf uns lauert. Rechnet mit Unholden und anderen Dämonen der A-Klasse!“

Gwens Hände zitterten. Sie schluckte und umklammerte den Stab fester. Dann warf sie sich hinter Lameth in die Dunkelheit.

Kurz verlor die Welt ihr Licht.

Einen einzigen Augenblick lang meinte Gwen, durch eine durchscheinende Silhouette zu gleiten und hielt instinktiv den Atem an. Die seltsamen Formen um sie herum erinnerten sie an eine surreale Unterwasserwelt.

Dann endete das Gefühl und sie fand sich zwischen Lameth und Yuki in einem Tempel voller Statuen wieder.

Steinerne Säulen trugen tonnenschweres Gestein über ihren Köpfen. Zu ihrer Überraschung glich der Rest der Einrichtung einem gewaltigen Figurenkabinett aus Statuen. Doch hier standen keine Dämonen, keine Unholde und auch keine Geister, sondern Menschen. Gwen sah edle Ritter und grimmige Könige, die große Zepter schwangen. Sie erspähte auch Magier und Faustkämpfer wie Yuki, deren Handschutz von ebenso alten Symbolen bedeckt waren wie die ihrer Freundin.

Die Bildnisse standen wirr im Raum verteilt und schienen einer unbekannten Ordnung zu folgen. Instinktiv hatte Gwen das Gefühl, die Statuen starrten sie an. Sie wich zurück.

„Ich wette, sie erwachen zum Leben“, flüsterte Lameth entsetzt und hob einen Schild. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und er griff kampfbereit zur Schwertscheide. „Gwen? Was siehst du? Sind sie gefährlich?“

Gwen konnte ihren Blick nicht von den Statuen losreißen. Ihre Blicke wirkten nicht bedrohlich oder furchteinflößend, sondern wie ein kollektives Klagegeschrei, ein schmerzerfülltes Weinen, das tausende Seelen auf einmal anstimmten. Gwen schüttelte den Kopf und blinzelte, doch nichts änderte sich. Ihre Magiesicht zeigte keine Gefahren auf.

„Das sind nur … Statuen“, erwiderte sie leise.

Lameth musterte sie ungläubig. Sein Blick taxierte die Statuen genauer und er deutete mit seiner freien Hand auf die gewaltige Armee vor ihnen.

„Du willst mir weismachen“, sagte er langsam. „Dass keine einzige Statue verzaubert ist?“

Gwen nickte perplex. Sie konnte ihrer Einschätzung selbst kaum glauben.

Ohne Vorwarnung trat Yuki vor und strich ihr Haar aus dem Gesicht. Die Symbole auf ihren Handkappen glommen schwach. Sie wirkte angespannt.

„Das ist ein Ort der Geister“, murmelte sie mit einem Mal. Lameth und Gwen sahen sie beide erstaunt an. Yuki sprach zum ersten Mal an diesem Tag.

„Wieso Geister?“, fragte Lameth entrüstet. „Das hier ist das Grab eines Dämons!“

Yuki hob eine Hand und gebot Schweigen. „Schließt die Augen“, flüsterte sie.

Gwen befolgte den Rat ihrer Freundin. Es vergingen mehrere Herzschläge ohne jegliches Ereignis. Gwen wollte Yuki bereits anzweifeln, als sie mit einem Mal die sanften Klänge eines Lieds hörte.

Die Melodie schien von weither zu kommen und dennoch sehr nahe zu sein. Die Stimme eines jungen Mannes erklang in ihrem Inneren und erfüllte die Luft mit düsterer Melancholie. Obwohl das Lied Gwen zu Tränen rührte, nahm sie in der Musik auch unbegreifliche Schönheit wahr. Bilder aus ihrer Kindheit fluteten ihr Gedächtnis – Bilder ihres Heimatdorfs, das von herumstreunenden Dämonen zerstört worden war, Bilder ihrer Eltern und Geschwister, deren verwesende Leiber nun in kalten Gräbern lagen. Das Lied wirkte wie eine Litanei für die Vergangenheit, für die Dinge, die verloren waren.

Gwen schlug die Augen erst wieder auf, als sie Yukis handkappen an ihrer Schulter spürte. Das Lied erschien ihr nun lauter als zuvor. Die Melodie schwebte scheinbar aus dem Boden zu ihnen herauf. Der Sänger musste sich unter ihnen befinden.

Gwen bemerkte mit einem Mal, dass Yuki angespannt Lameth schüttelte. Ihr Freund lehnte mit dem Rücken an der Mauer und hatte seine Arme sinken gelassen. Der Schild entglitt seinen erschlafften Fingern und prallte geräuschvoll auf dem Boden auf. Kurz schien die Melodie anzuschwellen, bis sie wieder auf ihre ursprüngliche Lautstärke zurücksank wie ein ermattetes Geschöpf, das sich im Sterbebett aufbäumte.

„Lameth!“, rief Gwen panisch und griff nach ihm. Er war ihre einzige Hoffnung. Sein Schwert Alvanalev war die einzige Waffe, die den Dämonenkönig in seinem Grab in das Jenseits bringen konnte.

Yuki schüttelte ihn beinahe brutal und zum ersten Mal sah Gwen so etwas wie Panik in den Augen ihrer Freundin. Yuki blieb immer ruhig und bedacht, selbst in den heftigsten Kämpfen behielt sie einen kühlen Kopf. Nun wirkte sie wie ein verängstigtes Kind.

Gwen sprach einen schnellen Segen und stärkte Lameths Widerstandskraft gegen fremde Magie. Jemand sabotierte ihn. Eine andere Erklärung für seine Ohnmacht fand sie nicht.

Ein Zittern ließ Lameths Körper erbeben. Yuki schlug so vorsichtig wie möglich gegen seine Wange. Endlich öffneten sich seine Augen. Lameth brach schwer atmend zusammen. Schweiß strömte ihm plötzlich ins Gesicht und seine Arme zitterten.

„Lameth?“, fragte Gwen sanft. „Lameth?“ Sie konnte nicht verhindern, dass sich Sorge in ihre Stimme schlich.

Lameth hob eine Hand wie als Versicherung. Er nickte langsam und erhob sich. Entschlossen hob er den Schild hoch. Seine Augen glühten wieder golden, als er sie ansah.

„Etwas stimmt hier nicht“, flüsterte er.

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