Gottes Hammer: Folkvang IV

Die hellen Sonnenstrahlen flimmerten im Zelteingang. Esben blinzelte müde und setzte sich langsam auf. Kurz bereitete es ihm Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Er warf verwirrte Blicke um sich, erzeugt von einem ermatteten Geist, bis seine Gedanken wieder aus dem Meer des Schlafes auftauchten.

Lifas hatte ihn als Gast in das Zelt der Ritter von Hrandamaer eingeladen. Es handelte sich um eine gewaltige Unterkunft, die selbst Medardus‘ taktischen Stützpunkt inmitten des Lagers übertraf. Esben erschien dies befremdlich. Außer ihm und Lifas nächtigten nur Abigor und ein Mann namens Siegbert hier. Esben sah auch in der äußerst bescheidenen Inneneinrichtung keinen Grund, solche Dimensionen anzustreben.

Habt Ihr wohl geruht?“

Esben bedeckte die Augen mit einer Hand. Im Zelteingang erblickte er Lifas‘ Silhouette. Er trug bereits seine Rüstung und den gewaltigen Streithammer. Erneut bewunderte Esben die Körperkraft des jungen Mannes. Seine Statur ließ nicht auf solche Macht schließen.

Durchaus. Was ich nur Eurer Gastfreundschaft zu verdanken habe“, erwiderte Esben höflich, während er sich erhob und ankleidete.

Und der Gnade des Herrn.“ Lifas‘ Augen funkelten, als er vom Schöpfer sprach.

Esben entdeckte Siegbert in einer Ecke des Zeltes. Es handelte sich um einen kleinen, gedrungenen Mann, dessen Leibesumfang das Beeindruckendste an ihm darstellte. Sein Gesicht wirkte wie ein Flickwerk aus rohen Fleischklumpen. Aufgedunsen und gerötet hing die Haut von seinem Schädel. Esben fühlte sich an die Pest erinnert, die Aminas vor vielen Jahren heimsuchte. Flüchtlinge aus Astaval hatten die schreckliche Seuche in die große Handelsstadt gebracht. Möglicherweise zählte Siegbert zu den glücklichen Seelen, die dem Tod trotz einer Infizierung von der Schippe gesprungen waren.

Esben grüßte ihn mit einer Geste. Siegbert warf ihm einen überraschten Blick zu, so als hätte er ungeheuerliche Anschuldigungen von sich gegeben. Nach einem kurzen Moment erwiderte er jedoch stumm den Gruß und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Wie Esben nun erst bemerkte, schnitt er Karotten.

Lifas beachtete den Diener nicht, obwohl seine Mundwinkel zuckten. Offenbar schätzte er Siegbert gering. „Kommt!“, sagte er nur. „Mein Onkel meinte, ich soll Euch das Lager zeigen!“

Esben folgte dem jungen Ritter nach draußen. Sein Herz klopfte. Er hatte bereits viele Geschichten über das sündige Leben der Soldaten gehört. In Lagern wie diesen ertränkten angeblich Söldner ihre Sorgen in Wein und boten Konkubinen ihre Körper an. Zwar hätte er vor einigen Monaten den Tempelsöhnen solche Verfehlungen niemals zugetraut, aber mittlerweile erschien ihm auch dies nicht mehr abwegig. Die Welt war fürwahr ein wüster Ort und die Sünde führte ein unvergleichbares Regiment.

Folglich überkam ihn große Überraschung, als der morgendliche Anblick ihm das Gegenteil demonstrierte.

Überall sah er gerüstete Gestalten, die sich vor ihren Zelten zum Morgengebet niederließen. Manche murmelten mit geschlossenen Augen Worte, andere sangen in Gruppen heilige Choräle. Das Bild der Frömmigkeit linderte Esbens Schmerz einen himmlischen Moment lang, in dem er beinahe den Glauben an die Vorsehung und die Schöpfung zurückgewann.

Lifas sah ihn ausdruckslos an. „Habt Ihr heute schon gebetet?“

Esben schüttelte den Kopf. „Nein.“

Dann tut es jetzt.“ Lifas ließ sich ebenso nieder wie die übrigen Ritter und faltete die Hände. Er betete stumm.

Esben tat es ihm nach. Doch im nächsten Moment hielt er inne. Was sollte er beten?

Als Priester waren ihm die meisten Texte bekannt und er hatte die Worte öfter gesprochen als er zählen konnte. Aber die meisten trugen den Geschmack von Aminas in sich. Sie blieben ihm im Halse stecken, während die bewundernden, Trost suchenden Gesichter der Gläubigen vor seinem inneren Auge schwebten. Er hatte sie begleitet und beschützt, sie getröstet und geeint. Wie konnten sie alle zu Bestien werden und seine Schwester angreifen?

Esben verschloss sich diesem Gedanken. Auf seiner Reise nach Hornheim hatte er ihn oft genug gequält. Stattdessen begann er zu sprechen. Es handelte sich um ein Gebet aus Kindertagen, das ihm auch jetzt noch ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit vermittelte.

Kurze Zeit später ließen die beiden das Zelt von Hrandamaer hinter sich und Lifas begann mit der Führung.

Dort seht Ihr das Speisezelt“, erklärte Lifas. „Euch wird es nicht betreffen, da Ihr als unser Gast mit uns im Zelt die Mahlzeiten einnehmen werdet. Mein Onkel ist ein Apostel des Heeres, weshalb wir einen eigenen Koch anstellen durften.“

Soweit Esben wusste, spielte das gemeinsame Mahl für die Tempelsöhne eine große Rolle. Die Apostel hingegen mussten alleine speisen, um ungehindert die Taktiken für die Schlacht erarbeiten zu können. Esben entsann sich der Worte seines Namensgebers, dem Erbauer der ersten Kirche. Sankt Esben hatte einst über Ähnliches sinniert.

Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen. Als solches versteht er die Gefahr der Sünde und sieht von ihr weitgehend ab. Die Menschen hingegen sind ein närrisches Konglomerat von animalischen Trieben. Die Menschen verlieren ihr Bewusstsein und lassen sich als Teil einer großen Masse auf die Sünde ein wie kein anderes Geschöpf Gottes es vermag.

Gesellschaft fördert Sünde“, zitierte Esben.

Lifas nickte. „Und dennoch können wir nur in Gesellschaft das Böse bekämpfen.“

Esben betrachtete den jungen Ritter genauer. Sein Gesicht verriet keine Regung.

Lifas war ihm ein Rätsel. Er wirkte stets zurückhaltend und distanziert, so als wollte er mit niemandem eine Bindung eingehen. Esben erschien es vollkommen unrealistisch, dass Lifas weinen oder lachen konnte. Er wirkte vielmehr wie in Stein gemeißelt, kalt und unzerstörbar.

Sie durchstreiften weiter das Lager, bis Esben mit einem Mal ein Gedanke kam. Er wollte bereits seit dem gestrigen Abend danach fragen.

Gibt es hier einen Schmied?“, fragte er.

Lifas musterte ihn überrascht. Zum ersten Mal schien Esben ihn aus der Fassung gebracht zu haben. „Benötigt Ihr etwa einen Harnisch?“, fragte Lifas. „Den müsst Ihr nicht erst schmieden lassen. Unser Rüstmeister verfügt über einen großen Vorrat an offensiver und defensiver Kampfausstattung.“

Bei dem Gedanken, sich erneut mit den Mächten Hornheims messen zu müssen, erbebte Esben. Er räusperte sich verlegen. „Nein, es geht um etwas anderes.“

Lifas fragte nicht nach. Er führte ihn in die Rüstkammer, die in Form mehrerer schwer beladener Wagen neben Medardus‘ Zelt lag.

Unser Rüstmeister Hartfried ist auch ein Schmied“, erklärte er. „Seine Ausrüstung liegt natürlich noch im Tempel des Vaters, da man einen Amboss schlecht transportieren kann.“ Esben war unschlüssig, ob er Sarkasmus in Lifas‘ Stimme vernahm. „Sprecht am besten mit ihm.“

Esben war in Aminas mehreren Schmieden begegnet, doch Hartfried stellte sie alle in den Schatten. Er war ein Hüne, sicherlich mehr als vier Ellen groß, und schritt hastig mit geballten Fäusten und leicht vornübergebeugt auf Esben zu, so als ob er sich stets um ein Maximum an Geschwindigkeit bemühte. Er trug einen Lendenschurz und einen langen Mantel, der ihn wie eine Gewitterwolke umgab.

Ihr seid neu? Gut. Braucht Ihr Waffen? Helme? Stulpen? Den Sax kann ich durchaus empfehlen!“

Was ist denn ein Sax?“, fragte Esben mit zitternder Stimme, während Hartfried ihm die Hand schüttelte. Der Rüstmeister schien ihm den Arm ausrenken zu wollen.

Kaum waren die Worte verklungen, entschwand Hartfried und kehrte mit einer kleinen Hiebwaffe zurück. Bis Esben ihm verständlich machte, dass er keine Waffen brauchte, türmte sich bereits ein Arsenal stählerner Tötungsinstrumente vor seinen Augen.

Was ist dann Euer Begehr?“, fragte Hartfried verblüfft.

Ich brauche eine Kette“, erklärte Esben und zog den Folianten hervor. „Eine Verbindungskette zwischen meinem Arm und diesem Buch. Handschellen, sozusagen. Könnt Ihr eine solche Vorrichtung herstellen?“

Zum ersten Mal fehlten Hartfried die Worte. Aber scheinbar nur, weil seine Gedanken wie ein Sturm durch seinen Kopf fegten. Schließlich leckte der Hüne sich nervös die Lippen und schüttelte den Kopf.

Herstellen kann ich diese Kette nicht, dafür müsste ich in meiner Schmiede sein. Aber ich glaube, ich habe dennoch etwas, was Euch helfen könnte.“

Sprach’s und war verschwunden. Esben sog erschöpft die Luft ein. Das Gespräch mit dem dynamischen Schmied ermüdete ihn zunehmend. Ob Hartfried sich wohl je Ruhe gönnte?

Einen Moment später kehrte der Hüne mit einer seltsamen Vorrichtung zurück. Esben erinnerte sie an ein Folterinstrument.

Sie bestand aus einem quaderförmigen metallenen Gerüst, von dem mehrere Ketten ausgingen. Hartfried trug es mit spitzen Fingern, so als missfiele ihm allein dessen Existenz.

Das könntet Ihr Euch um den Oberkörper schlingen“, erklärte er. „Wenn das Buch in das Gerüst passt, könnt Ihr es stets bei Euch tragen und habt dennoch beide Hände frei.“

Esben nahm die seltsame Vorrichtung entgegen. Der Foliant passte tatsächlich. So dürfte es selbst Berith schwerfallen, ihm das Buch zu entreißen. Bei der Erinnerung an ihren Kampf in Velis‘ Halle liefen eiskalte Schauer über Esbens Rücken.

Damit habt Ihr mir einen großen Gefallen getan! Möge der Herr es Euch vergelten!“, sagte Esben und neigte den Kopf.

Hartfried wirkte dennoch unglücklich. „Ihr solltet nur gut auf Euch achtgeben!“, erwiderte er in einem deutlich langsameren Ton. „Man erzählt sich, dieses Konstrukt sei verflucht. Der ehrwürdige Inquisitor und Clavis Medardus hat es mir nach mannigfaltigem Gebrauch überlassen.“

Esbens Inneres gefror. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen.

Lifas stellte keine Fragen, als er Esben mit dem Gerät sah. Falls er dessen Zweck kannte, ließ er es sich nicht anmerken.

Sie setzten den Rundgang fort, bis sie zum Lazarett gelangten. Esben sah bereits von Weitem, das etwas nicht stimmte. Eine Ansammlung von Menschen blockierte den Eingang.

Lifas runzelte die Stirn. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er beschleunigte seinen Schritt.

Esben folgte ihm. Furcht umklammerte sein Herz wie eine eiskalte Klaue. War Iliana etwas zugestoßen?

Verzeiht!“, rief Lifas und wandte sich einem älteren Tempelsohn zu. „Was geht hier vor sich?“

Der Mann wirkte beunruhigt. „Das junge Mädchen, das gestern angekommen ist, scheint von dämonischen Mächten heimgesucht zu werden. Bischof Abigor führt in diesem Moment einen Exorzismus durch.“

Bei diesen Worten zerriss ein markerschütternder Schrei die Luft.

Panik ergriff Esben. Iliana war die letzte Person aus seinem Leben, der letzte Anker, an dem er sich festhalten konnte. Er hatte bereits seine Schwester verloren, dann Teshin und auch seinen Lehensherr Halgin … Iliana durfte nicht die nächste Person sein.

Von grimmiger Entschlossenheit erfüllt schob Esben das Buch in das Gerüst und schlang die Kette um seine Brust. Das kühle Metall presste die dünnen Gewänder schmerzvoll gegen seine Haut.

Unsanft bahnte Esben sich einen Weg durch die Menge und betrat das Zelt.

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