Zwischen den Welten – Nele Breyer

Das Feuer tanzte im goldschwarzen Reigen über die Wände. Nur sein knackendes Flüstern füllte die Stille. Die Welt war verstummt und weit fortgerückt in die lichtlose See der Nacht. Worte einer längst vergessenen Sprache auf den Lippen, beugte Boranú sich näher über die Flammen und sie ließen die Runen über seine Haut kriechen. Der flimmernde Rauch trug den Duft von Eisen und Erde, den Geruch der Magie. Die Zeit war schwerelos und um ihn herum wurde die Finsternis lebendig.

Ich bin noch nicht ganz wach, da sind meine Gedanken schon aus dieser Welt in die nächste entglitten. Noch in die warme Decke und die letzten Traumfetzen geschmiegt, starre ich aus dem Fenster und, stelle mir vor, dass der Baum dort steht, in Larivas, in meiner magischen Welt. Ich verliere mich in dem Anblick des frühen Sonnenlichts, das zwischen den Zweigen hängt. Das Silbergrün der Rinde, jedes Blatt ein Smaragdsplitter, Tautropfen in unsichtbaren Spinnenfäden. In diesem Augenblick könnte ich ganze Seiten darüber füllen, wie sich der Morgen über die Moosflechten legt, aber später am Schreibtisch habe ich nicht einmal genug Worte, um ihre Farbe zu benennen.

Die Wände schienen näher zu rücken, ehe sie sich ausdehnten und unendlich wurden. Die Schwärze wurde dichter, greifbar, und die Schatten begannen, sich zu winden. Wispern und Raunen durchsetzten die Stille, der Widerhall von Boranús Beschwörungen. Er konnte sie spüren, ihre Stärke, ihre Erinnerungen. Der Schleier zwischen den Welten hatte sich gehoben.

Am Spiegel kleben die Formeln für die Klausur morgen, Buchstaben und Zahlen, die in einem anderen Leben vielleicht meine Art der Magie wären. Vorwurfsvoll warten sie darauf, gelesen zu werden, und ich versuche es, ehrlich. Aber es gibt so viel schönere Weisen, Buchstaben zu verwenden. Schwarz auf weiß, in endloser Abfolge, ein geheimnisvolles Muster, hinter dem sich die Farben einer ganzen Welt verbergen. Tintendunkle Runen auf heller Haut vor Augen steige ich unter die Dusche. Das Wasser wäscht die Müdigkeit fort und überspült mich mit Worten, flüstert mit seiner Stimme in meinem Ohr. Ich höre seine Gedanken, Gesprächsfetzen, Erinnerungen an eine Kindheit, die nicht meine war, der Nachhall eines Schmerzes, den ich nie empfunden habe.

Und dann – plötzlich – ist sie da: die Idee, die Lösung, nach der ich seit Wochen suche, die geniale Wendung. Die perfekte Formulierung. Mein Herz steht in Flammen. Noch tropfend springe ich aus dem Bad, greife den erstbesten Fetzen Papier. Der Stift jagt übers Blatt, die Buchstaben fließen ineinander. Ich muss es festhalten, bevor es mir entgleitet. Aber die Worte überlagern einander, verschlucken sich. Die Idee bleibt, doch die Worte waren andere, besser, perfekter, ganz bestimmt. Da war noch ein Satz, noch eine atemberaubende Metapher. Sie ist längst im Abfluss verloren.

Nur die Wendung lässt mich nicht mehr los. Sie bleibt genial, auch auf Papier gefangen. Sie begleitet mich zum Kleiderschrank und schließlich hinaus in den Morgen. Natürlich, die stumme Dienerin, die sieht, ohne gesehen zu werden, die Frau ohne Sprache. Ich habe sie unterschätzt, wie jeder sie unterschätzt. Wie er, wie Boranú habe ich sie vergessen. Aber sie war all die Zeit dort, unbeachtet in den Schatten.

Die Bahn hat Verspätung; es stört mich nicht. Es macht mir nichts aus, zu warten. Mir wird nicht langweilig, niemals. Ich brauche nur mich und die Welt in mir und gelegentlich das Notizbuch in meiner Tasche, um sie lebendig werden zu lassen. Der Morgen zieht an mir vorbei, während ich mich immer tiefer in Intrigen, Liebe, Verrat und der lautlosen Sprache einer vergessenen Frau verstricke.

Boranú ging vor dem Feuer auf die Knie, versenkte die Hände in der Asche. Hitze griff nach seiner Haut. Die Flammen schnappten verspielt nach seinen Ärmeln. Funken tasteten mit brennender Neugier über sein Gesicht, versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Unbeirrt fuhren Boranús Finger durch das erkaltende Grau, zeichneten Linien, bannten seine Worte in Formen. Mit jedem Zug, jedem Strich schwoll das Flüstern der Schatten an, dröhnend wie der wilde Gesang der Wellen, die sich an den Felsen der Küste brachen. Aus der Dunkelheit sickerte die Zweite Welt nach Larivas.

Das Geräusch eifriger Finger über den Tasten bringt mich schier um den Verstand. Nur ein Klick, und ich könnte nach Larivas zurückkehren, zurück zu Boranú. Aber ich bin hier eingesperrt zwischen Mitschriften und Präsentationsfolien. Ich versuche, aufzupassen, zuzuhören, im Hier und Jetzt zu bleiben. Ich bemühe mich wirklich.

Dann nur ein verträumtes Wort, ein flüchtiger Gedanke, eine besondere Wolke auf ihrer Durchreise vor den Fenstern und zwischen die Formeln mischen sich fremdartige Namen, Satzfetzen und die Magie einer stummen Sprache.

In der Asche füllten sie die verschlungen Linien mit Feuer; was tot gewesen war, erwachte erneut zum Leben. Die Luft selbst war lebendig, durchdrungen vom Flüstern der Vergangenheit und den Träumen der Zukunft. Nie zuvor hatte Boranú eine solche Macht gefühlt. Sie war hell und stark und vielschichtig und dunkel und sie setzte die Runen auf seiner Haut in Brand. Boranú war voller Angst und Freude, voller Reue und Zuversicht. Niemals hätte er gedacht, dass dieser einfache Zauber so viel Kraft besaß. Nur ein paar Linien im Staub, nur Worte in Stille gefangen, aber sie bedeuteten die Welt.

Schweigen hängt über dem Esstisch oder vielleicht hängt es auch bloß über mir. Ich bin hier, in unserer Küche, und doch bin ich ganz weit fort, entschwunden durch eine Tür, für die nur ich den Schlüssel trage. Hinter dieser Tür sitzt er mit mir am Tisch. Er ist mir so nah, so lebendig, dass die Worte von ganz allein um ihn herumfließen. Wie er mir seinen Kelch entgegenhebt, das leise Lächeln, das geschickt seine Gedanken verbirgt, die schwarzen Narben der Runen, die unter seinem Ärmel hervorblitzen. Er hat es bereits getan. Sein Geheimnis umgibt ihn wie ein flimmernder Nebel. Die Zeichen auf seiner Haut, die Zeichen in der Asche. Worte, Wissen. Schrift. Wir teilen dieselbe Magie.

An den Wänden nahmen die Schatten Gestalt an. Schwach zunächst, aber dann immer deutlicher. Szenen, die gewesen waren, Szenen, die sein würden. Szenen, die es in dieser Welt niemals geben konnte. Sie durchbrachen Zeit und Raum, versponnen Traum und Wirklichkeit miteinander. Flüsternd erzählten sie Boranú ihre Geheimnisse, Geschichten aus anderen Tagen und anderen Welten und er begann zu verstehen, warum diese Kunst verboten war. Sie war Wissen, sie war Macht. Sie war die Magie selbst.

An manchen Tagen frage ich mich, ob ich überhaupt gut bin. Machen die Wörter überhaupt Sinn, die ich da aneinanderreihe? Zu geschwollen oder doch zu platt? Ist das Kunst? Kann das weg?

Doch dann lese ich ein paar Zeilen, schreibe einige Sätze, versinke wieder in Larivas und dem Zauber des Schreibens. Es ist nicht von Bedeutung, wird mir klar. Von Bedeutung ist nur das flüssige Glück in meinen Adern, während mein Herz im Takt des Tastaturklapperns schlägt.

Noch waren die Bilder dunkel, an den Rändern verschwommen. Es würde noch die Kraft vieler Runen benötigen, sie bunt und klar zu zeichnen. Er würde mehr brauchen, so viel mehr, Unmengen an Zeichen, geschrieben und gelesen. Man erzählte sich von Orten, an denen sie ganze Hallen füllten, zwischen stoffdünne Scheiben und auf Rollen gebannt. Er würde sie finden, genug, um die Zweite Welt aus den Schatten zu locken und ihre Macht zu entfesseln. Er wusste bereits, wofür er sie nutzen würde.

Ich bin süchtig. Ich bin süchtig nach den geschwungenen Buchstaben auf Papier, nach dem Geruch von Notizbüchern und dem Gefühl des Stifts zwischen den Fingern. Tausend Leben habe ich gelebt, Welten erschaffen, Freunde gefunden und verloren, gelacht, geweint und ja, manchmal auch Gott gespielt.

Die Lernunterlagen warten. Draußen lockt der Sommer. Die Freundin hat nach heute Abend gefragt. Sollte ich gehen? Was ist mir wichtiger?

Larivas ruft nach mir. Nur wenige Stunden und ich bin schon wieder auf Entzug.

Verdammt. Ich bin süchtig.

Er konnte nicht glauben, dass ihnen all das verwehrt geblieben war. Ein einfacher Zauber mit der Macht, Ketten zu sprengen und Könige zu stürzten. Zwischen wenigen Strichen wartete eine zweite Welt, die tausend andere in sich trug. In diesem Moment hielt er die Gedanken der Zeit in seinen Händen.

Eine Welt war nicht genug.

Boranú begann, zu schreiben.

Endlich, endlich. Den ganzen Tag habe ich auf diesen Moment gewartet. Nur ich, hier am Schreibtisch, die Hände über der Tastatur. Vor den Fenstern senkt sich die Dämmerung herab, aber über Larivas geht eben die Sonne auf. Ich schließe die Augen und lasse mich fallen.

Eine Welt ist nicht genug.


Wettbewerb in der Schreibkommune 2021

3 Replies to “Zwischen den Welten – Nele Breyer”

  1. Ein wunderbarer Beitrag und einer weiteren Siegerin des Schreibwettbewerbs in der Schreibkommune würdig.

    Ich würde mich freuen, noch viele weitere Beiträge von Dir und Deinen Welten in der Schreibkommune zu lesen.

    Jetzt erstmal meine besten Grüße und Glückwunsch zu diesem Siegerbeitrag.

    Grüße
    Andi

  2. Beste Geschichte! Herzlichen Glückwunsch, liebe Nele. Ich warte schon darauf, eines Tages bei Thalia ein ganzes Buch mit deinem Namen darauf zu entdecken.

  3. Das ist ein sehr eindrucksvoller Text, der mich als Leserin hat staunen lassen, mitgenommen hat und als Autorin ein bedingungsloses „Ja“ mir entlockte. Fantastisch. Gratulation.
    Gruß
    Enya

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