Die Feder – von Saigel

Eine Feder. Sie lässt sich vom Wind treiben, erscheint beinahe strahlend weiß und glücklich, dort im Strudel der Lüfte zu schweben, sich nicht daran zu stören, dass sie getrennt von dem Körper, der sie nährte, alsbald zwar in schwindelerregende Höhen hinaufschrauben und den Ausblick genießen, aber auch zu Boden fallen wird. Ob sie mit im Alleingang dort oben schwebt, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich hier unten sitze und sie dabei beobachte, wie sie ihren ersten und letzten Flug vollzieht, im puren Genuss dahinschwelgt, sich alles genau ansieht und dennoch keine Kontrolle darüber hat, was sie zu sehen bekommt.
Es könnte sein, dass sie schlicht zufrieden ist. Dass sie auch vor ihrer Trennung zufrieden war. Dass selbst dieser letzte Augenblick bittersüß an ihr vorübergeht und sie des Genusses fähig ist.
„Warum kann ich das nicht?“, frage ich mich selbst. Laut und verständlich für jedermann, der um mich herum steht und mich fragend, neugierig beäugt. Kopfschüttelnd stehe ich da, blicke in den Himmel auf diese Feder und beginne damit, sie zu beneiden, nicht um ihren Flug, denn ich habe Höhenangst, aber um ihre Gleichgültigkeit, die sich so leicht und locker auf ihren feinen Fasern abzeichnet, dass mir um meine Anspannung angst und bange wird. Eine zufriedene Gleichgültigkeit. Eine frohe, bejahende, verräterisch stille Gleichgültigkeit. Die Frage, die mich erfasst, ist beinahe schmerzhaft. Immer wieder frisst sie mich auf, diese Frage, warum ich das nicht auch kann.
Warum brauche ich das neue Auto, wenn ich doch eines habe, das noch fährt. Warum brauche ich das neueste Handy, den besten Computer, das schnellste Internet?
Warum verzichte ich stattdessen auf ausgedehnte Spaziergänge? Frische Luft? Ruhiges abendliches Lesen, Zeit? Zeit, die ich einfach so damit verbringe, ich selbst zu sein. Wie diese Feder. Die Welt kann sie nicht schrecken, sie ist ihr nicht gewachsen. Die Feder weiß, dass sie keinen Einfluss nehmen kann auf das, was um sie herum geschieht. Sie kann nicht darüber entscheiden, ob sie auf ein Inferno blickt oder auf eine verträumte Landschaft mit Bäumen und Flüssen und frei laufenden Hasen. Sie kann nur das beobachten, was sie zu sehen bekommt, von hoch dort oben, aus den unantastbaren Lüften. Bis sie wieder heruntersteigt und die Winde keine Lust mehr haben, sie zu tragen. Bis sie sich zufrieden auf die Erde legen kann, die entweder weich oder hart, feucht oder trocken ist und dankbar in dem Zufriedenheit finden kann, was sie erleben durfte. Und um mich herum steht die unzufriedene Menschentraube, die nach oben schaut, anstatt nach unten auf sich selbst und seine Zeit damit verbringt, sich zu fragen, was ich dort wohl sehe.

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