Die Wölfe von Asgard – In die Enge getrieben (1/2)

Aegir tastete sich vorsichtig durch den engen dunklen Raum, in den man ihn eingesperrt hatte. Er bot kaum Platz, um sich zu bewegen, und kaltes Holz umschloss seine breiten Schultern, wenn er versuchte, sich irgendwie zu rühren. Hätte man ihm die Hände nicht auf den Rücken gefesselt, hätte er vermutlich bessere Aussichten gehabt. Nun jedoch, schien er sich in einer ausweglosen Lage zu befinden. Aegir stieß einen gedämpften Fluch aus. Er hätte nicht so naiv sein dürfen, anzunehmen, dass Islav nichts von dem ganzen Spiel um ihn herum mitbekam.
Nun oblag es seinem Bruder Snorri, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Du wolltest ein Mann werden, Bruderherz. Nun hast du die Gelegenheit dazu. Und sie kommt schneller als du es für möglich gehalten hättest. Jetzt musst du Stärke zeigen oder wir werden heute Nacht zu unseren Vorfahren stoßen.
Langsam aber sicher versteiften sich seine Glieder. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm sein Kettenhemd abzunehmen und langsam zerrte das Gewicht und seine geduckte Haltung an seinen Kräften.
Wartet nur, bis ich hier raus bin, grollte er innerlich. Seine aufgestaute Wut verdrängte jeden Gedanken an die Nächstenliebe, die ihn der Fremde gelehrt hatte. 
Vergib mir, Vater, denn ich werde eine Sünde begehen.
Plötzlich ertönte ein greller Schrei, so laut, dass Aegir stocksteif zusammenfuhr. Es klang so, als müsse jemand wieder und wieder durch das Feuer der Hölle selbst wandern. Dann war es für einen Augenblick totenstill. 
Jeder Muskel in seinem Körper zuckte vor Erregung. 
Es hat begonnen, wurde ihm klar. 
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. 
Dann ertönten wütende Rufe. Schreie. Kampflärm. Die schrille Melodie von Stahl, der auf Stahl traf, wanderte durch Aegirs Ohren. 
Der Riese schloss die Augen und versuchte sich auf Einzelheiten zu konzentrieren, was ihn bei den Schreien der Männer einfach nicht gelingen wollte.
Ich muss hier raus. Nur wie?
Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Doch selbst wenn es einen gab, so offenbarte er sich nicht. Er war gefangen. Und somit verdammt, das Schicksal seiner Kameraden zu teilen. 
Selbst, wenn es den Untergang bedeutete.

***

Snorri rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Äste peitschten ihm entgegen, verkratzten sein Gesicht, doch es kümmerte ihn nicht. Seine Lungen brannten, verlangten nach Luft. Doch er durfte sie nicht gewähren lassen. 
Hinter ihm befand sich eine tosende Meute, bestehend aus über einem Dutzend Ustenströmern, die ihm hinterherjagten.
Blind vor Aufregung hatte er gehandelt, die Fackeln von sich geschleudert, Männer und Zelte in Flammen gehüllt. Dann hatte er die Beine in die Hand genommen und sich davongemacht, wie sie es geplant hatten. 
Bäume zogen an ihm vorbei, während er die Anhöhe emporhechtete. 
Ein kurzer Blick nach hinten verriet ihm, dass die Männer des Magnar allmählich aufholten. Snorri biss die Zähne zusammen. Er musste durchhalten, fast hatte er die Felsen erreicht. 
Ein Pfeil bohrte sich unweit von ihm in einen Baumstamm. 
»Verdammter Mist!« Die Anspannung ließ ihn Flüche zischen. 
»Komm endlich her, du elender Bastard! Stell dich wie ein Mann!«
Die Stimme kam ihm bekannt vor und dennoch gelang es Snorri gerade nicht, sie einzuordnen. 
Er stolperte über eine Wurzel und geriet ins Straucheln. Fast wäre er gestürzt. Im letzten Moment rappelte der junge Nordmann sich auf und rannte weiter. 
Endlich waren die großen Findlinge in Sicht. Hechelnd steuerte er darauf zu und wie eine Schlange wandte er sich zwischen ihnen hindurch. Dann erreichte er die Barrikade, wo genau ein Pfahl fehlte, damit er die Möglichkeit besaß, hindurchzuschlüpfen. 
Hastig eilte Snorri an den angespitzten Ästen vorbei, griff sich den letzten verbliebenen Pfahl und rammte ihn mit voller Wucht in die Erde. Dann zog er sein Schwert. 
Ihm blieb keine Zeit für eine Atempause.
Der erste Ustenströmer kam zwischen den Felsen hervorgeschnellt. Als er die angespitzten Pfähle bemerkte, blieb er mit weit aufgerissenen Augen ruckartig stehen.
Sein Nachfolger stolperte irritiert in ihn hinein und stieß seinen Vordermann dadurch in die schreckliche Todesfalle. 
Der Speer bohrte sich durch den Leib des Kriegers und brüllend vor Schmerz sackte er darauf zusammen. Ein kleiner Faden aus Blut rann an seinem Mundwinkeln hinab, während das Licht in seinen Augen erlosch.
»Es ist eine Falle!«, schrie einer der Männer des Magnar. 
Dann ertönte Kampflärm. 
Sie haben den anderen Zugang verriegelt. Jetzt oder nie!
»Steine!«, brüllte Snorri nach Leibeskräften. 
Auf seinen Ruf hin, tauchten die Männer auf den Findlingen auf und schleuderten die Felsen in die schäumende Menge. 
Es knackte entsetzlich, als das Genick eines Ustenströmers unter dem Gewicht zerbrach und er leblos zusammensackte. 
»Ihr Scheißkerle!«, zischte plötzlich die Stimme, die Snorri gerade schon erkannt zu haben glaubte. 
Der fettleibige Ustenströmer, der damals schon versucht hatte, ihn umzubringen, erschien hinter einem der Felsen. Sein wutverzerrter Blick traf Snorri mit der Kraft einer alles versengenden Flamme.
»Ich lass dich deine eigenen Gedärme fressen und daran ersticken, du Wurm!«, schrie er voller Hass und rannte auf den jungen Nord zu. 
Snorri machte sich bereit, dem Ansturm seines Gegners standzuhalten. 
Mit einer, für seinen wanstigen Leib ungeahnten Geschicklichkeit, steuerte der Mann an den Pfählen vorbei. Schon hatte er Snorri erreicht und deckte ihn mit einer Welle von Hieben ein, die ihn allmählich zurückdrängten. 
Ein stöhnender Schrei hallte durch die Klamm. Dann ein Aufschrei.
»Da kommen noch mehr! Formiert euch! Formiert euch!« Die Stimme gehörte Knutson. Er schien außer Atem. 
Snorri biss die Zähne zusammen. Er durfte seine Kameraden nicht im Stich lassen. Er duckte sich unter einem Schwerthieb hindurch und versuchte es mit einem Konter.
Sein Gegner parierte den Schlag mühelos. Sein nächster Hieb galt Snorris Kopf und er hätte ihn mit Leichtigkeit gespalten, wäre der junge Nord nicht im letzten Moment nach hinten ausgewichen. 
»Das nächste Mal kriege ich dich«, zischte sein Gegenüber und holte zum nächsten Schlag aus. Wieder und wieder drängte er Snorri zurück, fort von den anderen, hinein in den Wald. 
Der junge Nord suchte fieberhaft nach einer Gelegenheit für einen Gegenangriff, doch seine Schläge verpufften scheinbar wirkungslos.
»Ohne faule Tricks bist du ein Niemand«, höhnte der Dicke, während er Snorri mit einem scharfen Seitenhieb attackierte.
Die Wucht des Aufpralls ließ ihn straucheln. Schmerz pochte durch seinen Schwertarm, bis zur Schulter empor. 
Er hat Recht. Im direkten Kampf bin ich ihm deutlich unterlegen. Ich muss mir etwas einfallen lassen.
Wieder schlug sein Gegner zu und dieses Mal gelang es Snorri nicht, dem Hieb zu entkommen. Die Klinge rutschte an seiner eigenen ab und glitt über seinen linken Arm, wo sie die Haut aufschlitzte und eine blutige Schramme hinterließ. Vor Schmerz stöhnte der junge Nordmann laut auf. Das Blut rauschte in seinen Ohren und übertönte selbst den weit entfernten Schlachtenlärm.
Dann rammte der Ustenströmer ihm den Knauf seiner Waffe ins Gesicht und schickte ihn zu Boden. 
Schwarze Punkte spielten vor seinen Augen Fangen, während der Dicke sich grinsend vor ihm aufbaute. »Ich reiße dir jede Gliedmaße einzeln heraus«, quiekte er vergnügt, während er sein Schwert erhob. 
Snorris Schädel dröhnte von dem Schlag und er kämpfte mit der Ohnmacht. Warmes Blut sickerte aus seiner Nase, die sich schmerzhaft verbogen anfühlte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. 
Dann erblickte Snorri einen Schemen, der ihn durch ein Gebüsch durchdringend anzuschauen schien. Es war ein Blick voller Wärme und Hoffnung, voller Träume und Sehnsüchte und dennoch ein Blick des qualvollen Todes.
Dyggur!
Als Snorri genauer hinsehen wollte, war der Schemen verschwunden. 
An seiner statt, traf ein Stiefel seine Rippen. 
Qualvoll ächzte der junge Nord auf. Sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst.
»Und wieder kriechst du vor mir im Staub«, höhnte der Große. Er setzte zu noch einem Tritt an.
Staub! Das ist es!
Seine Reaktion folgte so instinktiv, dass es seinem Gegner nicht möglich war zu reagieren. Snorris Hand griff nach der trockenen Erde zu seinen Füßen und er schleuderte sie dem Ustenströmer ins Gesicht. 
Brüllend ließ der Mann sein Schwert auf ihn niedersausen, doch der Schlag blieb unpräzise und verfehlte ihn knapp. »Meine Augen! Du Hundesohn!« Der Mann schien den gesamten Wald niederschreien zu wollen, so laut brüllte er.
Snorri rollte zur Seite und griff seine Waffe. »Du bist auch wirklich zu blöde, zweimal auf denselben Trick reinzufallen«, keuchte er. Dann rammte er seinem orientierungslosen Gegenüber das Schwert in die Brust. Blut tropfte seine Klinge hinab, während der Körper seines Feindes erschlaffte und zu Boden sackte. Er drehte das Heft einmal herum, dann riss er die Waffe aus der Brust heraus. Schwer atmend hielt er inne. 
Ich habe es getan. Ich habe getötet. 
Nichts daran fühlte sich so an, wie er es sich vorgestellt hatte. Kein Glanz, kein Ruhm, nur eine endlose Leere. Er blickte zu dem Gebüsch, wo sich ihm gerade noch sein Bruder offenbart hatte.
Das war ein Zeichen der Götter. Wir können diese Schlacht gewinnen.
Er schüttelte sich einmal, als wolle er alles Schlechte von sich werfen, dann eilte er zurück zu den Findlingen. 
Leichen begrüßten ihn stumm, während die lauten Schreie von den Lebenden zeugten. 
Mittlerweile waren die anderen Krieger ein gutes Stück zurückgedrängt worden. 
Als Knutson ihn sah, eilte er auf ihn zu. Sein Kettenhemd war über und über mit Blut bespritzt und seine Gesichtszüge ähnelten mehr denen eines Raubtieres, als denen eines Menschen. 
»Bei Tyr, wo hast du gesteckt? Sie haben die Barrikade überwunden und uns mit Pfeilbeschuss von den Felsen gedrängt. Nun heißt es Mann gegen Mann, aber unsere Zahl schwindet, während die ihre zunimmt. Wir müssen uns zurückziehen!«
Snorri schluckte. Es war seine Aufgabe gewesen, die Bresche zu halten, doch sein Feind hatte ihn einfach in den Wald gedrängt. Dafür hatten Kameraden mit dem Leben bezahlt. 
»Keine Zeit zum Nachdenken. Wir ziehen uns zurück zur zweiten Barriere!«, schrie Knutson aus vollem Halse. 
Die Männer versuchten, so gut es ging Folge zu leisten.
So wenige nur noch? Es bestürzte Snorri, dass sie es nicht geschafft hatten. Der Feind war zu zahlreich und drohte sie zu überwältigen. 
Die wenigen Verbliebenen scharten sich zusammen und eilten tiefer in den Wald hinein, wo Knutson ein weiteres Hindernis errichtet hatte. 
Sie gelangten zu einer steilen Felswand, die mehrere Manneshöhen vor ihnen emporragte. Davor befanden sich weitere Speere, die der Nordmann zu ihrer Verteidigung in den Boden gerammt hatte. 
Die Aussicht auf etwas Schutz verlieh Snorri ein wenig Zuversicht, die jedoch binnen eines Augenblicks zwischen seinen Fingern zerrann. 
Denn nun befanden sie sich in einer Sackgasse und es gab keinen Ausweg mehr. Wenn sie hier scheiterten, würde das für sie das Ende bedeuten. 
Snorri schluckte einen Kloß, groß wie eine Faust herunter. Er bezog Stellung, hielt seine Waffe in festen Händen. Ein dumpfer Schmerz pochte durch seinen linken Arm, dort, wo die Wunde in seinem Fleisch klaffte. 
Dann stürmten ihnen die Ustenströmer brüllend entgegen und die Welt tauchte ein in Blut und Stahl. 

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