Gottes Hammer XII

„Medardus?“, wiederholte Halgin überrascht. Iliana umklammerte ihren Bogen so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wie konnte das sein? Hilfesuchend sah sie vom einen zum anderen. Esben wirkte hilflos, Halgin erstarrt wie eine Statue und aus Teshins Augen starrte ihr Zorn entgegen.

Ebenso hatte Ilianas Gesicht ausgesehen, als sie sich nach der Verbrennung ihrer Mutter in einer Pfütze betrachtete.

Einen Moment lang regierte Stille die Kammer, bis Halgin entschlossen das Wort ergriff. „Es ist mir zutiefst rätselhaft, wie dieser Inquisitor in solch kurzer Zeit von Aminas hierhergelangen konnte. Dennoch, wir dürfen keine Zeit mit Erklärungsversuchen verschwenden. Es steht wohl außer Frage, dass er von uns weiß, sonst wäre er nicht mit einem solchen Aufgebot auf dem Weg hierher. Wir müssen eine Strategie erarbeiten.“ Kurz atmete er durch. „Aus welchen Einheiten besteht das Heer?“

Esben strich sich mit seiner zitternden Hand Schweiß von der Stirn. „Ausnahmslos berittene Männer in schweren Rüstungen, etwa fünfhundert Mann, denke ich. Sie alle tragen die Abzeichen der Tempelsöhne.“

Es war, als hätte er ein Wort der Macht gesprochen. „Ein Heer aus Rittern?“, fragte Teshin fassungslos.

Iliana sah ihn überrascht an. „Ist das nicht normal?“

Teshin schüttelte angespannt den Kopf. „Nein. Die Denomination verfügt nur über wenige geistliche Ritter. Sie alle durchlaufen eine harte Ausbildung, wodurch sie zu ausgezeichneten Magiern werden. Die Tempelsöhne sind die absolute Elite unter ihnen. Als im großen Krieg vor ein paar Jahren der Herzog von Aminas eine große Kirche plündern wollte, hielten zehn Tempelsöhne seine ganze Armee auf. Die bestand aus fünftausend Mann.“

Iliana fasste sich benommen an den Kopf. Sie konnte solche Stärke kaum erfassen. „Aber … ich wurde doch auch von Tempelsöhnen gefangen genommen! Du hast sie besiegt!“

Teshin lachte freudlos. Der Laut ließ Iliana erschaudern.

„Ich hatte das Überraschungsmoment auf meiner Seite“, erwiderte er. „Außerdem waren die vier in der Kutsche nur Anwärter. Und selbst die hätten mich wahrscheinlich überwältigt, wenn sie vorbereitet gewesen wären.“ Er sah Iliana direkt in die Augen. „Fünfhundert Mann auf einem Feldzug können wir nicht überraschen. Wir sind nur zu viert, außerdem sind das keine Narren. Sie wissen, dass sie nach Hornheim reiten. Sie werden wachsam bleiben.“

Halgin nickte zustimmend. „Wann werden sie hier sein, Esben?“

Der gefallene Priester riskierte einen weiteren Blick. „Sie kommen in unsere Richtung, aber noch sind sie im Wald. Wenn wir jetzt fliehen, könnten wir vielleicht entkommen!“

„Fliehen?“, fragte Teshin und lachte. „Das wird nicht funktionieren!“

Esbens Augen glommen hoffnungsvoll im roten Licht. „Warum nicht? Mithilfe der Navali …“

Teshin schüttelte den Kopf. „Denk bitte nach, Esben. Ein Heer aus Tempelsöhnen steht nicht zufällig vor unserer Haustür. Ich bin mir fast völlig sicher, dass Medardus unseretwegen gekommen ist. Ich bin mir ebenfalls sicher, dass er Androgs Halle kennt. Sonst würde er nicht so schnell in diese Richtung ziehen.“

Ilianas Herz sank gen Boden, als Halgin entmutigt nickte.

„Ich fürchte, er behält recht. Noch weiß ich nicht, wer sie ersonnen hat, aber dies war eine Falle und wir sind hineingetappt. Im Wald würden wir ihm in die Arme laufen und in Hornheims Ödnis kann man sich nicht verstecken. Unsere einzige Hoffnung ruht auf dem Gang vor dem Haupttor.“

Der Hoffnungsschimmer in Esbens Blick erstarb. „Ihr meint, wir sollen den Gang verbarrikadieren? Womit?“

„Mit uns selbst.“ Halgin flatterte energisch mit den Flügeln. „In ihren schweren Rüstungen können die Ritter höchstens jeweils zu zweit nebeneinander durch den Gang marschieren. Wenn wir alle vier gemeinsam kämpfen, könnten wir einige von ihnen aufhalten.“

Teshin lachte erneut. „Diese Strategie haben die zehn Tempelsöhne beim Heer des Herzogs angewandt und sie hatten Erfolg. Aber wisst Ihr was, Majestät? Das funktioniert nur bei Armeen, die durch schiere Masse siegen. In einem engen Gang können sie diesen Vorteil nicht ausspielen und werden der Reihe nach niedergemacht. Aber wir haben es hier nicht mit einfachen Soldaten zu tun, wie die im Heer des Herzogs. Das hier sind Tempelsöhne. Jeder von ihnen beherrscht heilige Magie und wäre uns wahrscheinlich ebenbürtig. Wir können vielleicht ein paar von ihnen mit in den Tod nehmen, aber wie viele sollen das sein? Vier? Zehn? Sechzehn? Am Ende wird uns die Erschöpfung überwältigen, während der Feind immer wieder zwei neue, ausgeruhte Gegner gegen uns ins Feld schickt. Und eine Sache habt Ihr noch übersehen.“ Teshin winkte sie zurück in die Halle. Kaum standen sie auf der Galerie an der linken Wand, deutete er auf den Eingang. „Der Gang vom Haupttor zu Androgs Halle ist abfallend. Die Ritter werden folglich über uns stehen und daher im Vorteil sein. So haben wir keine Chance.“

„Dennoch wäre es ein ehrenhaftes Ende“, erwiderte Halgin. Iliana schluckte angsterfüllt. Täuschte sie sich oder schwang tatsächlich Furcht in der Stimme des Königs mit?

Teshin schnaubte. „Majestät, vergebt mir, aber wollt Ihr unsinnig morden? Euer Heldentod würde nichts Gutes bewirken, im Gegenteil. Wenn wir uns wehren, erregen wir nur den Zorn des Gegners. Wir würden sinnlos Blut vergießen, sinnlos gute und schlechte Männer gleichermaßen in einer verlorenen Schlacht töten. Wenn wir uns ergeben, erregen wir vielleicht eher ihre Gnade.“

„Dir geht es also nur um dein Leben, Angnaur!“, fauchte Halgin ungehalten. „Hast du nicht selbst gesagt, der Inquisitor habe Grund genug, jeden von uns zu verbrennen? Was nützt dir diese Torheit?“

Teshin blieb ruhig. Ein Hauch von Melancholie schlich sich in seine Stimme. „Mir geht es um Iliana.“

Stille breitete sich aus. Iliana sah Teshin überrascht an. Gleichzeitig regte sich Trotz in ihrem Innersten. „Ich will mich nicht ergeben!“, brauste sie auf. Zu lebendig waren die Erinnerungen an Arinhilds Tod. Lieber wollte sie durch ein Schwert sterben als auf dem Scheiterhaufen.

Teshin beachtete sie nicht, sondern fixierte Halgin. „Denkt nach, Was, wenn wir Iliana fesseln und so tun, als wäre sie unsere Gefangene? Wir lassen die Ritter hereinkommen und erwarten sie in Androgs Halle. Wir werden so tun, als hätten sie uns überrascht. Uns drei werden sie wahrscheinlich töten, aber Iliana könnte überleben, indem sie ihr Mitleid erregt. Ein solches Heer wird nicht wegen einer entflohenen Hexe ausgeschickt. Sie hätte gute Chancen, nicht erkannt zu werden und vielleicht sogar Hilfe zu erhalten. So könntet Ihr Euren Eid erfüllen und auch im Kampf sterben, wenn Ihr das unbedingt wollt. Wäre das nicht ehrenhafter?“

Iliana musste an Medardus denken. Würde er sie erkennen? Sie starrte Halgin hilfesuchend an, doch die Miene des Königs war nicht zu deuten. Schweigend betrachtete er Teshins Gesicht.

Iliana biss die Zähne zusammen. Ihr ganzer Körper bebte und erst im nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie in Tränen auszubrechen drohte. Medardus hatte ihr einst alles geraubt, nun würde er es wieder tun. Halgin, ihr König, ihr heimlicher Verbündeter und Beschützer … sie wollte, sie konnte ihn nicht auch noch verlieren.

Teshin bemerkte ihre Trauer. „Du wirst leben“, sprach er überraschend sanft. „Du musst, hörst du? Ich werde Medardus herausfordern und vielleicht kann ich ihn in meinen letzten Momenten dazubringen, Saskias Aufenthaltsort zu nennen. Vorausgesetzt, er kann seine Stimme wirklich außerhalb eines Heiligtums einsetzen.“ Seine blauen Augen glitzerten. „Falls er es tut – bitte such nach ihr. Bitte sag ihr, was geschehen ist.“

Iliana konnte nur nicken. Eisige Klauen gruben sich in ihr gepeinigtes Herz. Teshin wandte sich ab und lockerte Murakama in der Scheide. Seine Hände zitterten leicht, als sich seine Finger um den verzierten Griff der Waffe schlossen.

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, sagte Esben unvermittelt und deutete auf die drei versiegelten Portale in der gegenüberliegenden Wand. „Können wir das Siegel brechen, Majestät?“

Ilianas Blick flog zu den drei gewaltigen Toren. Ein Hoffnungsschimmer regte sich in ihrer Brust. Kurz breitete sich überraschtes Schweigen aus, dann schüttelte Halgin fassungslos den Kopf. „Wenn wir unsere Kräfte vereinen, dann hege ich daran keinen Zweifel. Doch weißt du, wohin dieser Weg führt? In tiefste Finsternis, ins wahre Hornheim!“

„Dort hausen Dämonen, ich weiß.“ Esben hielt sein Buch hoch. Die Augen der Fratze glitzerten hell. „Aber hier drin steht eine Anleitung, wie ich Dämonen an mich binden kann. Es ist ein schreckliches Ritual … aber es verschafft uns einen Vorteil, den wir gegen die Tempelsöhne nicht haben.“ Er sah in die Runde. „Wir müssten dort nur solange ausharren, bis das Heer wieder abgezogen ist.“

Halgin wirkte entsetzt, doch Teshin nickte. Seine ernste Mine konnte die Erleichterung in seiner Stimme nicht verbergen. Offenbar war er für den Tod doch noch nicht bereit. „Auch wenn ich so die Wahrheit nicht erfahre, ich bin dabei. Los, brechen wir das Siegel!“

Esben wandte sich ab. „Ich habe nicht weit von hier eine Vorratskammer angelegt. Brecht ihr beide bitte das Siegel, Iliana und ich holen einige Nahrungsmittel. Wer weiß, wie lange Medardus Androgs Halle besetzt halten wird.“

Noch ehe Iliana eine eigene Entscheidung treffen konnte, hastete sie bereits Esben nach. Der gefallene Priester führte sie eine steinerne Treppe hinab, an einer bärtigen Statue vorbei, die sich schwach regte. In der Kammer fanden sie zwei Taschen und füllten sie mit verschiedensten Früchten und mit Gemüse. Esben hatte gut vorausgeplant.

Kaum kehrten sie in Androgs Halle zurück, empfing sie ein heller Lichtblitz. Iliana bedeckte geblendet die Augen. Halgins Magie glich einem Mantel aus reinem Licht, der ihn bedeckte. Schon zeigten sich Risse im Stein. Iliana betrachtete die Fratze über dem zugemauerten Tor. Es war die mit den kalten Zügen.

Einen Moment später brach die Barriere zusammen. Sofort entströmte ungewöhnlich warme Luft dem Gang dahinter. Verwesungsgeruch stieg Iliana in die Nase und ließ ihren Körper erbeben. Das Gefühl, eine von göttlicher Kraft gezogene Schwelle zu übertreten, machte sich in ihr breit.

„Geht voran“, orderte Halgin. „Ich baue die Barriere hinter uns wieder auf.“

Teshin winkte ihnen energisch und durchschritt als erster das Portal. Iliana atmete tief durch und stürzte sich nach ihm in die Finsternis.

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