„Sie hat Verspätung“, bemerkte Milan und warf einen demonstrativen Blick auf die Armbanduhr. Seine Finger trommelten einen Staccatorhythmus auf die polierte Holzfläche vor der Trennscheibe.
Der alte Hans bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. Milan hob entschuldigend die Schultern. Er legte Wert auf Genauigkeit.
„Die Führung ist gleich vorbei“, sagte der Justizwächter beruhigend.
„Musst du uns wirklich die ganze Zeit über beobachten?“, fragte Milan. „Ich kann mich nicht natürlich verhalten, wenn mich jemand von hinten anstarrt.“
„Der Elternverein wollte es so“, entgegnete Hans mit zusammengekniffenen Augen.
Milan seufzte. „Was denken die denn, was ich tue? Durch den Hörer greifen und ihre Tochter erwürgen?“
„Du bist ein Mörder. Das solltest du nicht vergessen.“
Da war es wieder, jenes Wort, das ihn vom Rest der Menschheit abgrenzte. Milan zuckte zusammen und ballte die Hände unmerklich zu Fäusten.
Es ist nicht so, wie du denkst, hätte er am liebsten geschrien. Hätte ich mich einfach beugen sollen?
Doch Milan blieb still. Er wusste, es hatte keinen Sinn. Stattdessen steckte er die Hand in seine Hosentasche und ertastete die Spielkarte. Dame. Herz. Das Bild der roten Musterung am Kartenrand loderte in seinem Gedächtnis auf. Er hatte die Karte Tag und Nacht betrachtet, immer und immer wieder.
Zur Ablenkung ließ er seinen Blick über den Raum schweifen. Er war bisher noch nie hier gewesen – schließlich müsste ihn jemand dafür besuchen.
Verbitterung stieg in ihm hoch und er atmete tief durch, um sich nicht zu übergeben. Er war allein, auf sich gestellt. Daraus bestand die Wahrheit seiner Existenz.
Oder was davon noch übrig ist.
Er hielt seine andere Hand beharrlich geschlossen. Er wollte eigentlich nicht, dass Hans den Inhalt sah. Wenn sich das herumsprach, wäre er wieder einmal das Gespött des ganzen Gefängnistrakts.
Endlich öffnete sich die Tür. Sie glitt ganz langsam, beinahe zaghaft über den sterilen Boden. Milan straffte sich. Der erste Eindruck zählte. Er wollte dieses Gespräch nicht vermasseln. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Wie lange hatte er nun schon keine Person von außerhalb zu Gesicht bekommen? Er wagte es nicht, die Rechnung aufzustellen. Auch wenn es sich nur um ein seltsames Schulprojekt handelte, stellte er sich einen Moment lang sehnsüchtig vor, dass diese Person ihn aus freien Stücken besuchen kam.
Sein Herz drohte zu bersten, als ein junges Mädchen in den Raum trat.
Milan wusste nicht, aus welcher Schulstufe die Klasse kam, doch schätzte er sie auf ungefähr sechzehn Jahre. Ein verlegenes Lächeln dehnte ihr Gesicht, während sie auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz nahm und die kastanienbraunen Haare zurückstrich. Sie fielen ihr offen auf die unbedeckten Schultern. Milan zwang sich, nicht in das Dekolleté ihres Oberteils zu starren. Er fühlte, dass er errötete. Das Mädchen wich seinem Blick aus und zog stattdessen einen karierten Schreibblock und einen Kugelschreiber hervor.
„Ähem … bin ich hier richtig?“, fragte sie.
Der alte Hans nickte. „Krähenberger Akademie?“
Das Mädchen wirkte erleichtert, doch Milan nahm wahr, wie sich ihre Glieder verkrampften. Sie zwang sich zu einem Lächeln und sah ihn knapp an, während sie immer wieder auf den Schreibblock linste. Milan versuchte, so harmlos wie möglich auszusehen. Die Tatsache, dass sie ihm offenbar vorgefertigte Fragen stellen würde, enttäuschte ihn ein wenig.
Was erwartest du?, höhnte eine Stimme in seinem Kopf. Du bist ein Mörder, vergiss das nicht!
Milans Finger fanden die Spielkarte in seiner Hosentasche und falteten sie gewohnheitsmäßig zusammen. Die Linien bildeten ein perfektes Kreuz über dem Bild.
„Na gut …“ Das Mädchen räusperte sich. „Ich heiße Alina. Wer bist du?“
Milan setzte ein vertrauenswürdiges Lächeln auf. Er fand es erfrischend, dass sie ihn duzte. „Milan. Wie alt bist du eigentlich?“
Alina hatte scheinbar mit keiner Gegenfrage gerechnet und hielt einen Augenblick inne. Ihr Blick glitt schnell zum alten Hans, der sich jedoch gerade intensiv mit seinem VW-Golfförmigen Schlüsselanhänger auseinandersetzte.
„Sechzehn. Und … du?“
Milan vermutete, dass diese Frage nicht auf dem Schreibblock stand.
„Neunzehn.“
Alina schien ihn zum ersten Mal genauer in Augenschein zu nehmen. Ein leichtes Stirnrunzeln zeigte ihm, dass sie sich einen Mörder ganz offensichtlich anders vorgestellt hatte.
Sie bestätigte seine Vermutung. „Du siehst nicht aus wie ein Mörder.“
Milan zuckte mit den Schultern. „Was hast du erwartet? Dass ich ein Schild um den Hals trage?“
Der Anflug eines Lächelns glitt über ihre Lippen, doch sie wandte sich wieder dem Block zu. Milan schluckte. Die Luft kam ihm plötzlich so zähflüssig wie Honig vor.
„Ich werde dir ein paar Fragen für meinen Psychologieaufsatz stellen“, sagte Alina wie einstudiert. „Ist das in Ordnung?“
„Dafür sind wir doch hier, oder nicht?“
Alina nickte, ohne ihn anzusehen. „Warum bist du hier?“
Milan hob eine Augenbraue. „Das weißt du doch. Wegen Mordes.“
„Das meinte ich nicht.“ Alina hob den Kopf und ihre Augen glühten mit einem Mal vor Entschlossenheit. „Warum beantwortest du meine Fragen? Warum nimmst du an einem Schulprojekt teil?“
Milan straffte sich. Das versprach interessant zu werden.
„Schätze, es interessiert mich, was junge Leute so über uns denken“, erwiderte er.
„Und was versprichst du dir davon?“, bohrte Alina nach.
„Na, du stellst Fragen.“ Milan kratzte sich am Hinterkopf. „Ehrlich gesagt wollte ich nur wieder einmal mit jemandem sprechen, der weder Insasse noch Justizwächter ist – irgendjemand von außen, der noch nicht mit Verbrechen konfrontiert wurde.“
Alinas Augenbrauen hoben sich kaum merklich, doch sie nickte und machte sich Notizen. Dabei wanderte ihre linke Hand nach oben und strich ihr Haar zurück. Milan nutzte die Zeit für einen kurzen Blick über die Schulter. Hans sah stur an ihm vorbei. Zumindest diesen Gefallen tat ihm der alte Justizwächter. Der Anflug eines Lächelns huschte über Milans Gesicht. Er mochte Hans.
„Hattest du Träume, bevor du hier gelandet bist?“, fragte Alina.
„Träume?“ Milan kaute auf seiner Unterlippe herum. „Das ist eine sehr persönliche Frage.“
„Du musst sie nicht beantworten, wenn du nicht willst.“
„Schon gut.“ Milan sah sie direkt an. „Ich beantworte sie, wenn du mir deine Träume auch verrätst.“
Alina zuckte zusammen, so als ob sie nicht erwartet hätte, plötzlich selbst Gegenstand des Gesprächs zu sein. Doch sie räusperte sich und zwang sich zur Ruhe.
„Von mir aus.“
Milan nickte mit einem Lächeln. Er wollte kein Interview. Er wollte nicht nur Informationen verschenken, sondern auch selbst mehr über sein Gegenüber erfahren.
„Nichts Bestimmtes“, erklärte er schließlich. „Ich wollte einfach nur leben, eine Frau finden, Kinder haben … ich brauche keine hochtrabenden Ziele.“
Dabei faltete er erneut die Spielkarte in seiner Tasche. Sie würde ihn stets daran erinnern.
„Was ist mit dir?“, fügte er hinzu, als Alina nur schrieb.
„Ich lebe meinen Traum schon“, antwortete sie mit verschmitztem Grinsen. „Ich bin ein Model.“