Die Kinder Kains (3/3)

Ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Die Erkenntnis überwältigte mich. Eine Flut aus Bildern, Stimmen und Eindrücken brach über meinen Verstand herein. Ich schluckte und barg den Kopf in Händen. Unzählige Punkte tanzten vor meinen Augen. Plötzlich glaubte ich, ferne Stimmen hinter dem Felsentor zu vernehmen. Sie sprachen lockende, hämische Worte.

Jede Faser meines Körpers schrie nach Flucht. Ich wollte mich erheben, aber meine Beine zitterten zu sehr. Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren, als Tiph meine Hand in ihre nahm.

Sofort verstummten die Stimmen.

Ich hob langsam den Kopf und sah Tiph so, wie sie wirklich war – ich sah Tiphareth Sefer Qadmon, die auserwählte Heldin, die die Welt gerettet hatte. Ihre Augen glühten wie funkelnde Sonnen und ein seltsames Schimmern ummantelte ihre Haut. Sie lächelte sanft, aber mir entging die Trauer in ihrem Blick nicht.

„Ich erinnere mich“, krächzte ich. Meine Hände zitterten unablässig. In meiner Erinnerung hörte ich die Stimmen tausender Menschen, die um Gnade winselnd vor mir im Staub lagen. Jedes Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ich schüttelte wie wild den Kopf und senkte den Blick. Die schroffen Felswände der Höhle schienen ihre Gesichtszüge hämisch zu imitieren.

„Du trägst keine Schuld, David“, sagte Tiphareth leise. „Du warst nicht du selbst.“

„Könnte das nicht jeder behaupten?“ Meine Stimme zitterte. Ich konnte es nicht verhindern. „Könnte nicht jeder diese Ausrede benutzen?“ Ein Schluchzen entfuhr meiner Kehle. „Großer Gott, ich habe es wirklich getan …“

Tiphareth zog mich näher an sich heran. Die Wärme ihres schimmernden Körpers vertrieb einen Teil der eisigen Furcht in meinem Herzen. Sanft streichelte sie meinen Kopf. Ich starrte sie mit großen Augen an.

Schlagartig wurde mir bewusst, dass sie mir eher vergeben würde als ich mir selbst.

„Es ist einfach, ein Held zu sein“, flüsterte ich. „Ein Held tut immer das Richtige. Selbst wenn er scheitert – er hat sich nichts vorzuwerfen. Auf deinen Schultern lasteten die Hoffnungen der gesamten Menschheit. Niemand kann dir Vorwürfe machen.“ Ich schluckte. Die Worte kamen mir nur zögerlich über die Lippen. „Aber bei mir ist das anders. Wenn ich stärker gewesen wäre – wenn ich besser gewesen wäre – dann hätte die Eklipse nie stattgefunden.“ Entsetzt fuhr ich hoch. „All die Kinder in deiner Obhut – ihre Eltern würden noch leben!“

Tiphareth schwieg, bis ich wieder erschöpft zurücksank. Sie seufzte.

„Erinnerst du dich an den letzten Kampf?“

Ich versuchte es. Aber eine Ansammlung aus Schreien und schmerzverzerrten Gesichtern legte sich wie blutiger Nebel um meine Gedanken. Ich schüttelte den Kopf.

Tiphareth holte tief Luft. Ihre Augen schweiften in weite Ferne.

„Wir wurden damals verraten und mussten uns zurückziehen. Gerade hatten wir noch die Unterstützung der UNO – keine Woche später hatte der alte Mann auf dem Berg sämtliche Kontinente assimiliert. Wir zogen uns an den letzten Ort zurück, der uns blieb: in die Antarktis.“

Ich spitzte die Ohren. Auch davon hatte ich in offiziellen Stellungnahmen nichts gehört.

Tiph lächelte verträumt, als sie die Erinnerung erneut durchlebte.

„Wir waren nur noch zu fünft“, erzählte sie. „Ches, Nah und ich hatten als einzige Waffen. Die anderen beiden waren einfache Fischer. Mit einem viel zu kleinen Boot legten wir die gesamte Strecke von Neuseeland bis in die Antarktis zurück.“ Sie kicherte. „Zugegeben, wir wandten ein wenig Magie an, aber anders hätten wir es auch nicht geschafft.“

Beim Anblick ihres fröhlichen Gesichts formte sich sofort ein Bild in meinem Inneren, wie die drei zur Rettung der Welt über das Meer kreuzten. Ich musste ebenfalls lächeln.

Tiphareth lehnte sich leicht nach vorn, so als ob sie den Kindern im Waisenhaus eine Geschichte erzählen würde. Ihre Augen wurden groß und sie gestikulierte mit ihrer freien Hand. Sofort war ich im Bann der Geschichte.

„Tief unter dem Eis der Antarktis befindet sich eine alte, vergessene Zivilisation. Dort liegt der Ursprung des alten Manns – der Ursprung aller Entitäten, die wir Menschen schlicht über die Jahrhunderte hinweg vergessen haben. Aber sie leben fort – in unseren Geschichten, Ängsten, Legenden.“

Sie holte tief Luft. „Darum nannten wir diesen Ort auch die Stadt der Mythen. Er war unsere letzte Hoffnung.“

Ich hing an ihren Lippen. Als sie mich ansprach, fühlte ich mich, als hätte sie mich geschlagen.

„Dann kamst du“, fuhr sie fort. „Wir hatten ein paar Tage Vorsprung, aber du kamst bald über das Meer. Das endlose Weiß der Antarktis verwandelte sich in Rot. Die Stadt der Mythen leuchtete und hieß dich willkommen – wie in alter Zeit.“

Erinnerungen überwältigten mich. Diesmal waren es nicht meine. Ich sah den alten Mann auf dem Berg in seiner ursprünglichen, entsetzlichen Gestalt und wie er sich zwischen den gewaltigen Gebäuden im Eis langsam hin- und herwiegte, während seine einhundertvierundvierzigtausend Augen die Gestirne beobachteten und den Tag der Eklipse herbeisehnten. Ich musste einen Schrei unterdrücken. Mir entfuhr ein leises Wimmern.

„In der Stadt der Mythen kam es zum letzten Kampf. Und soll ich ehrlich zu dir sein? Ich wusste am Ende nicht, wie ich mich verhalten sollte.“

Ich sah überrascht auf. „Wie meinst du das?“

„Du wirktest so glücklich.“ Tiphareth musterte mich nachdenklich. „Die Präsenz des alten Manns gab dir Sicherheit – dir und all den anderen Menschen. Die beiden Fischer ließen sich überreden und liefen über. Am Ende gab es keinen einzigen Menschen mehr auf der Welt – nur noch Ches, Nah und mich.“ Sie seufzte. „Wir sind Wesen aus einer anderen Dimension. Haben wir das Recht, den Menschen eine Entscheidung abzunehmen? Nein.

Der alte Mann auf dem Berg richtete seine Stimme an uns. Sie war wie ein Chor aus Millionen von Menschen, jung und alt, reich und arm, gut und böse. Er wollte uns mit Worten überzeugen, dass wir niemanden retten müssten. Ich weigerte mich, es zu glauben. Aber in Wirklichkeit war ich kurz davor. Ches, Nah und ich hätten einfach in die endlose Kathedrale zurückkehren können. Unsere Mission wäre gescheitert, aber das betraf uns nicht. Wir waren – und sind – keine Menschen mehr.

Also überließen sowohl der alte Mann als auch ich die Entscheidung einem anderen.“

Dabei richtete sie den Blick ihrer flammenden Augen auf mich und lächelte. „Dir.“

Ich sah sie überrascht an. „Mir?“

„Du warst der erste, der dem alten Mann und mir begegnete. Du kanntest uns beide am längsten. Du warst der einzige Mensch, der den Anfang der Geschichte kannte – wir überließen es dir, ihr Ende zu schreiben.“

„Moment!“ Ich hob eine Hand. „Der alte Mann auf dem Berg kontrollierte mich doch – oder nicht?“

Plötzlich erklangen wieder die Stimmen hinter dem Felsentor. Diesmal klangen sie aber bedauernd, beinahe gekränkt.

„Er gab dich frei.“ Tiph lächelte. „Er wollte mir beweisen, dass ein Mensch sich aus freiem Willen für ihn entscheiden würde. Für eine neue Welt. Für eine bessere Welt.“

Die Erinnerung erfasste mich ohne Vorwarnung. Plötzlich stand ich wieder mitten in der Antarktis, auf der abgeflachten Spitze einer gewaltigen Pyramide. Unter mir breitete sich das gewaltige Bild einer riesigen Stadt aus, in der zeitlose Schatten zu kosmischen Flötentönen tanzten und mir ihre formlosen Hände wie im Gebet entgegenstreckten. Über meinen Köpfen schwebten zwei Götter.

Diesmal konnte ich meinen Schrei nicht unterdrücken. In meiner Erinnerung sah ich Tiphs wahre Gestalt.

Wenn der alte Mann eine schattenhafte Schlange war, glich sie einer riesigen, geflügelten Masse aus Licht. Ein einziges Auge schwebte darin und entblößte in seiner Iris ein funkelndes Dreieck, in dem sich das Universum selbst zu brechen schien wie in einer kosmischen Schnittstelle zwischen Zeit und Raum. Entsetzt fuhr ich herum und betrachtete die Tiphareth neben mir in der Höhle. In ihren Augen leuchtete ihre wahre, weltenzerbrechende Gestalt.

„Ich bin kein Mensch, David“, bekräftigte sie leise. „Ich bin von derselben Art wie der alte Mann. Dieser zerbrechliche Menschenkörper ist nur ein kleines Schmuckstück, ein Accessoire, mit dem ich spiele.“

Ich nickte. Ich konnte ihren Worten kaum noch einen Sinn abgewinnen. Die Erinnerung beherrschte mein Bewusstsein.

„Ich habe mich für dich entschieden“, flüsterte ich. „Aber warum?“

Tiph hob eine Augenbraue. „Das fragst du mich?“

Ich erhob mich und runzelte die Stirn. „Ich erinnere mich, dass ich in euren Augen Bilder sah“, fuhr ich zerstreut fort. „Der alte Mann auf dem Berg zeigte mir Reichtum, Friede, Macht – aber auch Einsamkeit.“ Ich schüttelte den Kopf. „Was hast du mir gezeigt?“

Tiph zuckte verwirrt die Schultern. „Ich habe dir nichts gezeigt und der alte Mann auch nicht – du hast es dir wahrscheinlich eingebildet.“

Ich dachte noch lange darüber nach, selbst als wir uns auf den Weg zurück zur Villa Paradiso machten. Tiph warf mir immer wieder neugierige Seitenblicke zu. Wir schwiegen beide.

Eigentlich wollte ich mich unbemerkt aus dem Staub machen, sobald wir die Villa erreichten, aber Chessed Sefer Qadmon verstellte mir den Weg. Er war ein gutaussehender, junger Mann mit schneeweißen Zähnen und grünen Haaren, der mir sofort die Hand entgegenstreckte.

„Sie bleiben doch noch zum Abendessen, oder?“

Ich wollte eigentlich ablehnen, aber ein Blick in Binahs Augen überzeugte mich schnell anderweitig. Die Kinder nutzten diese kurze Ablenkung, um Tiph in den Bauch zu piksen. Sie quietschte schrill und die Kinder brachen in schallendes Gelächter aus.

Ich blieb noch bis zum späten Abend. Als die Kinder schliefen, begleitete mich Tiphareth allein zum Ausgang.

„Ich denke, ich weiß, was ich gesehen habe“, murmelte ich.

Tiphareth sah mich interessiert an. „Was?“

Ich lächelte. „Nicht so wichtig. Am Ende habe ich es mir doch nur eingebildet.“

Tiph zuckte mit den Schultern. „Diese Einbildung hat die Welt gerettet.“ Sie musterte mich forschend. „Wirst du der Welt die Wahrheit erzählen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich glaube kaum, dass mir irgendeine Zeitung diese Story abkaufen würde.“ Ich rang mir ein raues Lachen ab. „Ich schätze, es wird bei der Schneewanderung bleiben.“

Wir verharrten kurz schweigend. Dann trat Tiphareth unvermittelt auf mich zu und schlang die Arme um mich. Ihre Wärme erfüllte mein Innerstes.

„Versprich mir eines“, flüsterte sie. „Vergiss niemals, dass du die Welt gerettet hast.“

Sie verharrte in der offenen Tür und winkte mir zu, bis mein Wagen die Einfahrt verlassen hatte. Ich lächelte und winkte zurück.

Dann nahm ich eine Biegung und die Heldin, die die Welt gerettet hatte, verschwand aus meinem Sichtfeld.

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