Gottes Hammer: Folkvang IXX
Ein Blitz, ein Hieb, dann kehrte Stille ein.
Azrael atmete schwer. Murakamas Klinge glühte brennend heiß. Blutstropfen benetzten den von heiliger Magie durchdrungenen Stahl.
Ashaya hatte ihm das Leben gerettet.
Durch die Verbindung zwischen Murakama und dem Dämonenkönig war es ihm gelungen, das Licht des Chorals in die alte Klinge zu bannen. In der Zügellosigkeit seines Angriffs löste Irodeus seine Sphäre auf. Ein Wort der Macht genügte und Azrael stand vor ihm, Astavals legendäres Schwert in Ilianas Brustkorb, noch während der alte König begierig den Hals reckte, um einen Blick auf seine Überreste zu erhaschen.
Einen langen Augenblick lang schien die Welt stillzustehen, schienen die stechenden Dämpfe seiner Hölle sie vor den grausamen Augen der Realität zu behüten. Einen Moment lang füllte die Ewigkeit Azraels Gedanken. Er wagte erst wieder zu atmen, als Ilianas Augen erloschen und sie in seine Arme sank. Seine Gedanken verstummten, als er das Schwert herauszog. Seine linke Hand, die den zierlichen jungen Körper hielt, schien zu zittern.
Ist es jetzt vorbei?
Die Frage formte sich in seiner Seele, ohne je sein Gehirn zu erreichen. Er taumelte. Iliana entglitt ihm und fiel zu Boden. Ein Loch klaffte in ihrer Brust. Er hatte genau das Herz getroffen.
Eine gewöhnliche Waffe hätte sie niemals töten können.
Der Gedanke erschien ihm fremd. Er stieß Murakama ungelenk in die Scheide zurück. Eine Blutlache breitete sich um seine Stiefel aus.
Er verharrte reglos, als Halgin neben ihm landete.
„Was hast du getan?“, krächzte der Vogelkönig fassungslos. Er flatterte wild mit den Flügeln. „Warum?“
Azrael sah ihn verwirrt an, so als ob er die Worte des anderen nicht erfassen könnte. In seinem Verstand herrschte Leere.
Iliana war seine Schwester. Nein, sie war viel mehr. Das letzte Kind seines Vaters, das noch Hoffnung auf Erlösung hatte. Wer waren schon Seimos und er? Was sagte Irodeus noch gleich?
„Der eine verbrennt wehrlose Frauen und der andere will die Menschheit gegen ihren Willen versklaven“, flüsterte er. Er sank auf die Knie. Was hatte er in den vergangenen Wochen wirklich erreicht?
Halgin entfernte sich kopfschüttelnd von ihm. In den schwarzen Augen des Königs stand grenzenlose Bitternis.
„Scheinbar habt Ihr wieder versagt“, flüsterte Azrael kaum hörbar. „Iliana ist nicht nur gestorben. Ihr habt mir bei ihrer Ermordung geholfen.“
Halgin stieß ein Wort der Macht hervor, doch Azrael verzerrte schlicht den Raum seiner Hölle und saß mit einem Mal in der kleinen Menschenstadt. Dort waren sie, die Folterinstrumente. Er hatte den Menschen ein friedliches Leben angeboten, fernab aller gesellschaftlichen Konventionen und Zwänge, mit der Möglichkeit, alte Konflikte zu begraben und neue zu vermeiden. Und was taten sie?
Halgin tobte in der Ferne, doch er achtete nicht darauf. Er betrachtete stumpfsinnig die grässliche Bühne. Überall war es dasselbe. In Aminas, in Hrandamaer, sogar in Raureif. Wie konnte er nur hoffen, die Menschen je zu verbessern?
„Saskia“, flüsterte er. Er war sicher, dass sie nun kommen würde. „Warum nur?“
Azrael musste sich nicht umwenden, um den gesegneten Windstoß zu fühlen. Seine Heiligkeit brannte auf seiner Haut.
Doch es war nicht Saskia, die vor ihm stand.
„Esben.“ Azraels Stimme versagte. „Du auch?“
Esben nickte langsam. Er trug nicht mehr seine schmutzige Kutte, sondern einen weißen Mantel, gewoben aus Mondlicht. In seinem Arm lag ein Foliant, dessen Aura Azrael dazu zwang, sich abzuwenden.
„Ich habe wohl versagt, nicht wahr?“, murmelte er. „Ich habe auf ganzer Linie versagt. Ich war anmaßend. Was habe ich erreicht? Irodeus ist besiegt. Aber ist er tot? Nein, ich fühle die Verbindung von Murakama. Er lebt. Und die Menschen? Wollen sie hören? Wollen sie mich annehmen? Nein. Und Iliana?“ Seine Stimme brach.
Esben erwiderte nichts. Er musterte ihn lediglich mit ausdrucksloser Miene.
„Verdammt!“ Azrael schluckte, doch er schien an seinem eigenen Speichel zu ersticken. In der Ferne hörte er ein Wort der Macht, das die Erde erbeben ließ. Halgin gab nicht auf. „Bin ich wirklich so ein Narr?“
„Ich kann dir diese Frage nicht beantworten“, entgegnete Esben. Seine Stimme klang hell und klar, wie Kirchenglocken an einem Feiertag. „Aber ich kann dich zu jener Person bringen, die es kann.“
Azrael fühlte ein Aufwallen heiliger Magie. Instinktiv griff er nach Murakama, doch hielt er sich zurück. Es spielte keine Rolle mehr. Er würde nun alles tun, um Saskia wiederzusehen.
Im nächsten Augenblick stand er in Folkvang. Mondlicht erfüllte die Halle wie sich sanft kräuselnder Rauch. Esben war verschwunden, doch dort, vor dem Thron mit der Feder, stand die eine Person, die seine Wunden heilen konnte.
Er hatte Saskia seit ihrem Tod nicht mehr gesehen, sondern nur von ihr gehört. Ihre gewaltigen Flügel und ihr Harnisch aus Mondlicht wirkten auf ihn wie prachtvolle Boten einer anderen Welt. In ihren Augen glitzerte eine allumfassende Sicherheit, die ihr eine höhere Macht verliehen zu haben schien.
Der Augenblick der Stille dehnte sich unendlich lange. Azrael tat einen tiefen Atemzug, so als wollte er seine Seele aushauchen und trat vor. Bereits beim zweiten Schritt sank er nieder.
„Berith hat all das geplant, nicht wahr?“, stieß er schließlich hervor.
„Ja.“ Saskias Stimme erzeugte wohlige Schauer auf seiner Haut. Er hatte sie noch nie zuvor sprechen hören.
Azrael kicherte. Er konnte nicht anders. Plötzlich schien alles auf grauenhafte Art und Weise Sinn zu ergeben.
„Berith hat mir damals berichtet, dass du erwacht bist. Berith hatte Kontakte im Lager der Tempelsöhne und nach Hrandamaer. Er wollte Iliana von Anfang an als Gefäß für Irodeus benutzen, richtig? Deshalb hast du Iliana im Lager geheilt! Sie musste willig sein und ihr musstet sicherstellen, dass das Ritual während meiner Abwesenheit durchgeführt wird!“ Azrael hustete. „Aber warum? Warum wolltet ihr Iliana töten?“
Saskia schwieg. Ein Blitz teilte ihre vor Entschlossenheit funkelnden Augen.
„Denk nach“, flüsterte sie.
Azrael schüttelte den Kopf. „Weil sie ein Dämon ist? Weil sie meine …“ Saskia schüttelte den Kopf und zog Esbens Kutte hervor. Er brach ab. Langsam verstand er.
„Weißt du, wie Folkvang und Hornheim entstanden?“, fragte Saskia leise. „Durch einen uralten Fluch des letzten Königs von Hrandamaer, der Leben und Tod verdammte. Seitdem erheben sich die Toten in seinem Heimatland aus den Gräbern. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.“ Saskia spreizte die Flügel und ein Speer aus Mondlicht manifestierte sich in ihren Händen. „König Androg verachtete nichts mehr als diese neue Religion, die ihm sein Reich genommen hatte, und den Tod, der ihm seine Familie raubte. Ein Fluch zwang die Lasterhaftesten unter den Menschen, als Dämonen oder als Elphahim wiederzukehren – um einander zu bekämpfen und die Welt mit Krieg und Leid zu überziehen.“ Ihre Augen funkelten. „Wir beide haben im Leben viel Schuld auf uns geladen, Teshin. Wir sind verflucht. Und nur ein verfluchtes Leben kann ein verfluchtes Leben retten.“
„Unsinn!“ Azrael hustete erneut. Das strahlende Mondlicht schien sich in seine Lunge zu drängen und sie langsam zu zersetzen. Ein Aufwallen seiner Magie stieß die Heiligkeit aus seinem Körper. „Soll ich mich etwa opfern, um Iliana ins Leben zurückzuholen?“
„So wurdest du ins Leben zurückgeholt“, erwiderte Saskia.
Azrael schnaubte erbost. Doch dann standen ihm die Ereignisse der letzten jahre wieder deutlich vor Augen und entsetzliche Müdigkeit befiel ihn. Was hatte erreicht? Worauf konnte er zurückblicken? Er alterte kaum und hatte diesen Vorteil nur benutzt, um zu kämpfen und Leid über andere zu bringen. War er es Iliana nicht letztlich sogar schuldig, diesem Mädchen, das stets ein Opfer war?
„Wenn ich mich opfere“, flüsterte Azrael. „Wird Iliana als Dämon wiederauferstehen oder als Engel?“
Saskia zuckte mit den Schultern. Ihre gewaltigen Flügel erbebten. „Das hängt davon ab, ob sie dem Licht folgt oder sich der Dunkelheit erneut verschreibt.“
Azrael lachte unkontrolliert, Murakama entglitt seiner Hand und er fiel auf die Knie. Seine Augen weiteten sich, bis sie schmerzten, während er Folkvangs Fresken betrachtete.
„Ja, ich verstehe!“, rief er lauthals. „Das war Beriths Plan! Er wusste, mich im Kampf zu besiegen wäre schwer – also erfand er eine Lösung. Er wollte, dass ich mich opfern muss – nicht, weil mich jemand dazu zwingt, sondern aus freien Stücken.“ Er schluckte und ein martialisches Grinsen entstellte sein Gesicht. „Aber diesen Gefallen tue ich euch nicht! Niemals! Ich werde die Menschheit retten!“
„So wirst du das niemals schaffen“, entgegnete Saskia ruhig.
Azrael spreizte die Finger. Er konnte nicht verhindern, dass sich ein Kichern seiner Kehle entrang. „Beweise es mir. Beweise es mir, indem du mich jetzt und hier, an diesem Ort besiegst! Zwinge mich zu einer guten Tat, du Engel!“
Saskia nickte langsam.
„Komm“, flüsterte sie.
Azrael hob Murakama auf und stieß sich kraftvoll vom Boden ab. Er schoss auf Saskia zu, ein glühender Blitz in Folkvangs schimmernder Heiligkeit.
Dann kreuzten sich ihre Waffen.
Bilder füllten Azraels Kopf und er schnappte nach Luft. Er sah Saskia als junge Novizin unter einem unerbittlichen Meister, er sah sie bei einer Hexenverbrennung jubeln und ihre Kräfte als Inquisitorin schärfen. Er sah den Verrat, den andere an ihr übten, weil sie eine Frau war, und ihre Flucht nach Aminas. Er sah, wie sie dem redseligen Söldner namens Teshin begegnete und letztlich in Hornheim ihr Leben verlor.
Azrael taumelte. Saskia folgte ihm langsam und vollführte einen schwachen Schlag. Azrael parierte mühelos, doch erneut füllten Erinnerungen seinen Kopf. Diesmal betrafen sie Esben. Als nächstes sah er Iliana, Berith, Malfegas, Ungoros und Velis. Dem nächsten Schlag versuchte Azrael auszuweichen, doch vergebens. Ashaya grinste ihn an, Abigor hob grimmig sein Schwert, Lifas und Elinor folgten Seimos auf seinen Feldzug nach Hornheim. Als letztes blickte ihn Arion an, mit von Trauer schwerem Blick.
Azrael schrie vor Schmerz. Er hatte all das Unglück der vergangenen Monate zu verantworten. Er war kein Held. Von dieser Sünde konnte er sich nie reinwaschen.
Er hatte verloren.
Saskias Speer war seine Rettung. Als sie ihn herausfordernd hob, sstürzte Azrael nach vorn. Ein Zittern ließ seinen Körper erbeben, als die willkommene Spitze sich durch seine Brust bohrte.
Stille kehrte ein. Er stand dicht vor Saskia, sein Körper eng an den ihren gepresst. Er spürte das warme Blut, das seinem Körper entfloh. Murakama entglitt ihm, diesmal für immer.
„Werde ich je …“ Ein Blutschwall unterbrach seine Worte und er hatte das Gefühl zu ersticken. Sein Blick verschwamm und er sah nur noch Saskias leuchtende Augen. Sie beantwortete seine letzte Frage mit einem Nicken.
Azrael schluckte. Keine Pein war größer gewesen, als in die Seelen seiner Opfer und Untergebenen blicken zu müssen.
Er verschwand mit der Erkenntnis, dass Gottes Hammer nun endgültig gefallen war.
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Sechs Monate später
Aminas feierte.
Iliana betrachtete die tanzende Menge durch das flimmernde Licht des Nachmittags. Heute war Sankt-Esbens-Tag, ein Fest für jeden Menschen. Eine Woche lang fasteten die Bürger in Anbetracht dieses Ereignisses. In dieser Zeit durften keine Todesurteile vollstreckt werden. Jeder sollte diesen Tag, den Tag der Vergebung der Sünden, miterleben.
„Ich wusste gar nicht, dass Menschen feiern können, ohne jemandem wehzutun“, flüsterte Velis neben ihr erstaunt. Ihr Sklavenmacher erntete verwirrte Blicke der vorbeigehenden Menschen. Niemand dachte an Folter und Tod.
Iliana zuckte mit den Schultern. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, trat Esben in ihr Blickfeld. Der ehemalige Wanderpriester reichte ihnen zwei Tüten mit Backwerk, die er von einer gebeugten Straßenhändlerin erstanden hatte. Iliana dankte ihm lächelnd. Velis betrachtete die Süßigkeiten verwirrt, so als ob sie nicht genau wüsste, was damit anzufangen wäre.
„Und?“, fragte Esben mit einem verschmitzten Lächeln. „Wie fühlt man sich als Königin von Hornheim auf einem solchen Fest? Brüskiert Euch das muntere Treiben?“
Iliana tat, als werfe sie mit einem Kieselstein nach ihm. „Sei du bloß still, du unsterblicher Engel.“
Esben verschränkte die Arme vor der Brust. Sein strahlend weißer Mantel reflektierte das Sonnenlicht. „Als ich deine Einladung erhielt, dachte ich zunächst, ich höre nicht recht.“
Iliana lachte. „Kann ich mir denken. Aber ich schulde Folkvang mein Leben. Dass ich zufällig als Dämon zurückgekommen bin, ändert nichts daran. Folkvang und Hornheim müssen nicht stets Feinde bleiben.“
„Das ist radikal“, murmelte Esben. „Vergiss nicht, wir sind wie Tag und Nacht. Folkvang ist ein Thron der Engel, Hornheim eine riesige Folterkammer.“
Iliana zuckte mit den Schultern. „Die Dinge können sich ändern. Arion wollte aus mir eine Herzogin machen, Irodeus einen Folterknecht und Arinhild ein Dorfmädchen. Die Dinge müssen nicht immer einen vorgezeichneten Weg gehen.“ Dabei blickte sie Velis an, die verzückt errötete, als sie eine der Süßigkeiten probierte.
Esben seufzte. „Vermutlich hast du recht.“ Kurz hielt er inne und ließ seinen Blick in weite Ferne schweifen. Wir können wohl alle noch viel von dir lernen.“
Iliana lächelte. Aus den Augenwinkeln sah sie Halgin, der das Geschehen von einer Dachkante aus aufmerksam beobachtete. Er hatte sich nicht von ihr abgewandt. Sie würde Hornheim verändern, sodass auch er die Existenz von Dämonen akzeptieren konnte.
Gottes Hammer war gefallen. Nun konnte eine neue Zeit anbrechen.