Ilianas Herz gefror.
Seit dem Tod ihrer Ziehmutter hatte sie gedacht, wahre Furcht zu kennen. Nun erst demonstrierte ihr Hornheim, wie falsch sie mit dieser naiven Annahme lag. Der Anblick bannte ihre Gedanken und verwandelte sie in eine hilflose Statue, auf ewig dazu verdammt, die grausame Realität zu verneinen.
Vor ihnen schob sich das Grauen selbst in Murakamas kalt glimmenden Lichtkreis. Es handelte sich um eine gewaltige Spinne mit blutrot glühenden Augen und dichtem Pelz. Von ihrem bösartig verzerrtem Gesicht reckten sich ihnen zwei pechschwarze Scheren entgegen, von denen giftiger Eiter tropfte, sowie mehrere dünne Fühler, die ein gespenstisches Eigenleben zu führen schienen. An ihrer Spitze saßen weitere Augen, blutunterlaufen und voller Hohn. In unmöglichen Winkeln verkrümmte Stacheln ragten aus den acht dicken Beinen hervor, grinsende Mäuler bedeckten den Körper darüber. Rauch schwebte zwischen den spitzen Zähnen.
Über dem gierig blickenden Spinnenkopf erkannte Iliana die weiß gewandete Frau. Zunächst hielt sie sie für ein weiteres Opfer der dämonischen Stätte. Im nächsten Moment erkannte sie jedoch, dass die Frau an der Taille mit der Spinne zusammengewachsen war. Als hätte die Erkenntnis den Startschuss gegeben, regte sich die Gestalt über dem Pelz und grinste Iliana und Teshin breit an. Einst hatte sie wohl große Schönheit ihr Eigen genannt, nun aber zierten Narben die Hälfte ihres jungen Gesichts. Eiter tropfte aus den Wunden und giftige Dämpfe umnebelten den humanoiden Körper.
Iliana würgte. Ihr Magen rebellierte.
„Endlich!“, rief das Ungetüm mit furchteinflößender Stimme. Zu Ilianas Überraschung sprach nicht die Frau, sondern der schreckliche Spinnenkopf. Bei den Worten benetzte Eiter die schwarzen Scheren. „Endlich schöne junge Beute! Wir werden viel Zeit miteinander verbringen. Schade, dass hier keiner eurer Artgenossen mehr am Leben ist!“ Bei den letzten Worten trat das Biest zur Seite und gab den Blick auf ein giftig glitzerndes Spinnennetz frei, in das mehrere Körper eingewoben waren.
„Sie waren so herrlich!“, schwärmte es und streichelte mit einem behaarten Bein den kleinsten der Körper. „Kinder habe ich immer am liebsten. Ihre Schreie sind höher als die von anderen. Leider sterben sie viel schneller.“ Die roten Augen richteten sich auf Iliana. „Länger als einen Monat wirst du wohl auch nicht durchhalten, kleines Menschlein.“ Ein grässlicher Laut wie von aufeinanderschabenden Steinbrocken ertönte. Es war ein Lachen. Rauch stob aus den zahlreichen Mäulern auf dem Körper der Bestie.
Iliana konnte nicht mehr. Ihre Knie gaben nach und der Bogen entglitt ihren Händen. Es war zu viel. So etwas konnte es nicht geben!
Im selben Moment stellte sich Teshin schützend vor sie und hob Murakama.
Ein weiteres Lachen ließ Ilianas Körper erbeben.
„Ihr wollt euch wehren? Nur zu, ihr könnt Sitraxa nicht besiegen!“
Der Name fühlte sich wie ein Peitschenhieb an.
Im selben Moment setzte sich der gewaltige Körper in Bewegung. Sitraxa erhob sich auf ihre hinteren sechs Beine und fiel mit ihren Scheren und stachelbewehrten Vorderbeinen über Teshin her.
Ein blauer Feuerball flammte auf und Teshin wagte die Flucht nach vorn. Mit einem Kampfschrei prallte der Söldner gegen den gewaltigen Körper und brachte Sitraxa ins Wanken. Einen Augenblick später war er in der Luft und trieb die schimmernde Klinge der Bestie tief ins Auge.
Ein markerschütternder Schrei hallte durch die dunkle Kammer, als Siraxa auf ihre acht Beine fiel. Dampfendes schwarzes Blut tropfte Iliana vor die Füße. Zu ihrem Entsetzen saß sie nun Auge in Auge mit dem grässlichen Spinnenkopf.
Teshin zerrte wild an der Klinge, konnte sie jedoch nur ein Stück weit befreien. Der Frauenkörper deutete mit wutverzerrrten Zügen auf ihn. Iliana fühlte Hitze, als mit einem Mal eine Feuersäule aus dem Boden schoss. Teshins Körper glühte blau auf, als eine Art Schutzschild ihn vor den magischen Flammen bewahrte. Dennoch schleuderte ihn die Wucht des Angriffs gegen die Wand.
Ein Splitter drang in Ilianas Herz, als Sitraxa sich ihr zuwandte.
„Kleines Menschlein“, zischte der Spinnenkopf. Einer der Fühler näherte sich langsam und betrachtete Iliana näher. Sie starrte in ein rotes Auge, dessen erblindete Pupille mit Blut gefüllt zu sein schien. „Ich freue mich. Ja, ich freue mich wirklich. Dein Gefährte hat mich verletzt. Du vertraust auf ihn, nicht wahr? Dass er dich mit seinem magischen Schwert beschützt?“ Sie erwartete keine Antwort, sondern lachte erneut. Dampf stob aus den Mäulern. Iliana konnte den Blick nicht von Murakama abwenden, das im Kopf des entsetzlichen Wesens steckte. Sein Gehirn müsste längst durchdrungen sein, dennoch schien ihm die Wunde kaum etwas auszumachen.
Iliana realisierte dies mit schwächelndem Bewusstsein, wie in einem letzten Aufbäumen des Verstandes, bevor sie ihn endgültig verlor.
„Lass uns Spaß haben.“ Plötzlich kam Bewegung in sämtliche Körperteile der Bestie und sie sprang auf IIliana zu. Schon glaubte sie, von giftigen Scheren und eitrigen Fühlern umschlossen zu werden, als Murakama aufleuchtete und eine Druckwelle aussandte.
Sitraxa blieb davon unberührt, aber Iliana wurde von dem magischen Stoß quer durch den Raum geschleudert und landete vor dem Spinnenetz. Ihre Hose zerriss und sie schürfte sich ein Knie auf. Dennoch, sie war der Bestie entronnen. Als sie sich langsam in die Höhe stemmte, nickte Teshin ihr zu, seine ausgestreckte Hand schien eine Verbindung zu dem magischen Schwert zu formen. Iliana betrachtete sorgenvoll seine Stirn. Eine Platzwunde bezeugte die Macht der Dämonin.
Sitraxa landete mit einem amüsierten Laut. Der Pelz raschelte auf dem gemauerten Boden, als sie sich umwandte. „Schön, so zu spielen. Aber beschädigt euch nicht zu sehr! Ihr müsst noch lange Zeit halten!“ Die roten Augen blitzten. „Schreit für mich!“, brüllte der Spinnenkopf, als das Monster sich erneut auf sie zubewegte.
Iliana hob mit zitternden Händen den Bogen, doch ihr Schuss beinhaltete keine Kraft und prallte wirkungslos von dem dichten Pelz ab. Sitraxa heulte wollüstig. Ehe sie Iliana erreichen konnte, warf sich Teshin zwischen sie, sein Körper schimmerte eisig blau im roten Schein der Spinnenaugen. Er griff nach Murakama und Wellen hellen Lichtes umgaben ihn.
Gleichzeitig schloss Sitraxa ihn laut lachend in eine Umarmung. Ein Schrei entrang sich Ilianas Kehle, als Beine und Scheren Teshin umklammerten und Gift ihn einhüllte. Die grinsende Frau deutete erneut auf ihn. Diesmal legte sich eine schwarze Wolke auf ihn wie ein Schatten. Blut spritzte und Teshin schrie auf.
„Schreit für mich!“, rief Sitraxa wie von Sinnen.
Ilianas zitternde Hand fand den Bogen. Wie in Trance legte sie erneut einen Pfeil ein, doch ihr Schuss blieb wirkungslos. Stattdessen lehnte sich die Frau zur Seite, so dass Iliana ihr vernarbtes Gesicht sehen konnte.
Sie muss wirklich schön gewesen sein, dachte Iliana ermattet, als die Frau auf sie deutete.
Eine dunkle Wolke legte sich über ihre Augen und umhüllte ihren Körper. Der Schmerz folgte einen Augenblick später. Tausend Nadeln schienen in Ilianas Haut einzudringen, pelzige Gliedmaßen betasteten sie und animalisches Gelächter erhob sich. Iliana wählte den einzigen Ausweg, der ihr blieb.
Sie schrie.
Nicht einmal die Verliese der Inquisition konnten derartig schrecklich sein. Sie lag erblindet in einer Sphäre aus Finsternis, allein mit einem unsichtbaren Ungeheuer und dem Schmerz. Ihr Bogen war verschwunden. Nun hatte das Leben sie wieder zu einem hilflosen Kind degradiert.
Iliana wand sich, kämpfte gegen nicht vorhandene Fesseln an. Aber es gab keine Fesseln, die ganze Welt war eine einzige Fessel, sie war nur noch dunkel und kalt, ohne Halt und Liebe. Überall drang der Schmerz auf sie ein, er verfolgte sie. Sie konnte ihm nicht entkommen, überall war Schmerz. Es gab nur Schmerz, er war allumfassend, allwissend, er war der große, wahre Gott …
Iliana schluchzte und rollte sich in der Dunkelheit zusammen, während heiße Hände ihre gepeinigte Haut versengten. Sie flehte um Gnade, sie bettelte, sie lief über die gestaltlose Oberfläche der finsteren Welt, sie schrie und bettelte erneut, doch es kam keine Mutter, kein Heiliger, kein Gott. Es gab nur den Schmerz.
Im nächsten Moment endete es.
Iliana lag wieder in Sitraxas Verlies. Noch immer hielt die Bestie Teshin umklammert. Doch er leuchtete nicht mehr blau. Nun umgab ihn rötlicher Schein.
„Was ist das?“, rief Sitraxa überrascht. Eiter tropfte auf die schwarzen Zangen. „Du bist ja ein Dämon!“
„Ich kenne dich“, flüsterte Teshin. Trotz der geringen Lautstärke schien seine Stimme alles und jeden zu durchdringen. „Ich kenne dich!“, schrie er im nächsten Moment und der rote Schein explodierte.
Sitraxa heulte auf, als er Murakama aus ihrem Körper zog. Auch die Farbe der Klinge hatte sich verändert. Sie wirkte nun wie ein blutiges Eisenstück. Mit einem Wutschrei ging Teshin auf die Dämonin los. Vor Ilianas Augen verschwammen seine Bewegungen zu einem rötlichen Schemen, als er schneller als ein Blitz durch die Luft flog. Ein Schnitt, zwei Schnitte, drei … Iliana konnte sie nicht mehr zählen. Sitraxas Wutgeheul wurde zu Schmerzensschreien, als Murakama Fleisch zerteilte und Knochen zertrümmerte. In Windeseile hatte Teshin alle Beine und Fühler abgetrennt und den Spinnenkopf buchstäblich aus dem Körper geschnitten. Eine Kaskade schwarzen Blutes ergoss sich auf den schmutzigen Boden. Iliana erbebte, als ein wild zuckender Fühler direkt neben ihr landete. Die Übelkeit brüllte in ihr. Iliana erzitterte, dann erbrach sie sich.
Als nur noch der Frauenkörper übrig war, hielt Teshin schwer atmend inne. Langsam richtete er Murakama auf die vernarbte Gestalt. Die Luft um ihn herum flimmerte rötlich, als die weiß gekleidete Dämonin langsam den Kopf hob.
Einen Augenblick lang verharrten die beiden still. Dann begann Teshin mit zitternder Stimme zu sprechen. „Was zur Hölle ist mit dir geschehen?“