Gottes Hammer VI

Die Rauchsäulen kamen immer näher und langsam lichtete sich der Wald. Teshin gelangte unbehelligt auf eine mäßig gepflasterte Straße. Erleichtert atmete er tief durch. Er hatte eine Zeit lang befürchtet, von Räubern angegriffen zu werden. Man sagte gesetzlosen Diebesbanden nach, mit Vorliebe düstere Forste als Heimatort zu erwählen.

Außer einem schwarzen Vogel mit einem hellen Punkt auf dem kleinen Kopf begegnete Teshin keinem anderen Lebewesen. Das Tier starrte ihn aus klugen dunklen Augen an, bevor es mit einem Krächzen im grünen Dach der Nadeln verschwand. Teshin sah ihm neugierig nach, bevor er die Straße betrat.

Kalter Wind riss an seiner Tunika. Teshin zog den Stoff enger um seinen Körper. Für einen Frühlingstag erschien ihm dieses Wetter wenig passend. Die Zeit in Aminas hatte er wärmer in Erinnerung. Befand er sich etwa soweit im Norden, dass das Klima sich dem natürlichen Kreislauf verwehrte?

Die Antwort traf ihn härter. Teshin passierte einen kleinen Hain, dessen Laubbäume sich im Wind wiegten, als ihm die Unzahl an bunten Blättern ins Auge fiel. Zur Hälfte zierten die natürlichen Gewänder bereits die Erde. Der Herbst war über das Land hereingebrochen!

Geschockt betrachtete Teshin die Blätter. Konnte er wirklich monatelang ohne Bewusstsein in der verlorenen Kirche von Sankt Esben gelegen haben? Oder war er möglicherweise im Kampf gegen den Dämon gestorben und … wiederbelebt worden?

Weder das eine noch das andere ergab Sinn. Er war kein heiliger Prophet, der das Wort Gottes verkünden konnte, sondern nur ein heimatloser Exilant, der sich auf unrühmliche Weise als Söldner verdingte. Darüber hinaus stellte er sich gegen die Denomination und ihre Lehren. Nein, bestimmt war es nur ein Gedächtnisverlust. Vielleicht hatte er ja sogar für einen Auftraggeber die erste Kirche gesucht und dabei seine Erinnerungen eingebüßt.

Bestimmt war es nur Gedächtnisverlust!, imitierte ihn die kindliche Stimme in seinem Kopf gehässig. Sicher. Wer geht denn bitte in einen Wald und verliert dort die Erinnerung an die vergangenen paar Monate? Wie soll das denn gehen? Durch einen Steinschlag vielleicht?

„Was soll es sonst sein?“, erwiderte Teshin herausfordernd. „Oder weißt du mehr als ich?“

Wir reden später weiter, entgegnete die Stimme angespannt. Da kommen Menschen.

Tatsächlich vernahm Teshin Hufschläge. Als er sich umwandte, näherte sich ein Pferdewagen, der auf der schlechten Straße sichtlich langsam vorankam. Als er das Gefährt besser erkennen konnte, sah Teshin zwei Bewaffnete auf dem Kutschbock. Eine Plane verdeckte ihre Ladung. Offenbar kamen sie gerade aus dem Dorf, dessen Rauchsäulen verführerisch den Himmel sprenkelten.

Teshin winkte. Der ältere von beiden, ein bärtiger Offizier in Rüstung, riss an den Zügeln und brachte den Wagen zum Stehen. Interessiert musterte er Teshin.

„Seid gegrüßt“, sagte Teshin. Sein Blick fiel auf den noch jungen Begleiter des Offiziers, der ihn beunruhigt ansah und dabei sein Kurzschwert umklammerte. Offenbar befürchtete er einen Hinterhalt.

„Gleichfalls“, antwortete der Offizier mit brummender Stimme. „Wohin des Weges, mein junger Freund? Um diese Jahreszeit ist der Wald gefährlich, selbst wenn man eine Waffe trägt.“ Dabei deutete er mit dem Kinn auf Teshins Schwert Murakama.

Teshin lächelte. Er beschloss, möglichst bei der Wahrheit zu bleiben.

„Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich habe mich ein wenig verlaufen“, gestand er. „Würdet Ihr mir vielleicht verraten, wo ich bin?“

Der Offizier strich sich gedankenverloren über den dichten weißen Bart, Erst jetzt sah Teshin die Falten um seine Augen. Offenbar hatte die Zeit ihr Werk getan.

„Ihr seid in der Nähe des Dorfes Raureif im Norden“, erwiderte er schließlich. Er schien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass Teshin keine Gefahr darstellte. „Wenn Ihr wollt, können wir Euch bis in die nächstgrößere Stadt mitnehmen. Wir befinden uns ohnehin gerade auf dem Rückweg. Nur Eure Waffe müsst Ihr mir übergeben.“

Teshin nahm das Angebot an. Er kannte den Namen Raureif nicht. Er nahm aber an, im berüchtigten Heidenwald im Norden gelandet zu sein. Angeblich hielten hier Ketzer unheilige Versammlungen ab, bei denen sie ihren Dämonengöttern opferten. Was für eine Ironie, das ausgerechnet hier Sankt Esbens Kirche erbaut worden war!

Der jüngere Soldat ergriff Murakama und verschwand hinter der Plane. Er kam nicht wieder hervor. Schließlich wandte sich Teshin auf dem Kutschbock verwirrt um und fragte: „Wo bleibt der Junge denn solange?“

Der Offizier lachte, während die Räder des Wagens den Waldboden berührten. Schon umfing Teshin wieder die vertraut gewordene Dunkelheit der Bäume.

„Der ist nur froh, dass er bei den anderen dreien drinbleiben kann! Diese verweichlichten Jungen wollen nicht gern in der Kälte auf dem Kutschbock sitzen. Aber es müssen immer zwei Mann hier sein, damit einer im Notfall die Zügel übernehmen kann.“

„Dann bin ich jetzt also Ersatzsoldat?“, mutmaßte Teshin amüsiert. Der Offizier schüttelte schief grinsend den Kopf.

„Ohne Schwert, ohne Rüstung und ohne Helm? Mit Verlaub!“

Er wurde also immer noch unterschätzt. Teshin klammerte sich an diese eine vertraute Sache wie an einen Rettungsanker. Dass er keine Rüstung brauchte, verschwieg er dem Mann wohlweislich.

„Ich heiße Ulrich“, sagte der Offizier unvermittelt und streckte Teshin eine Hand hin. „Ich bin eigentlich in Aminas stationiert, aber ich musste die paar Neulinge hier in einem Außenposten ganz in der Nähe ausbilden und bin dann auf einer Mission hier gelandet.“

„Ich bin Teshin.“ Er erwiderte den Händedruck. „Söldner,“

Ulrich nickte wissend. „Das war ein gutes Jahr für Söldner. Die Inquisitoren haben beinahe alle verfügbaren Krieger in ihren Dienst genommen. Man munkelt, dass sie nach Hornheim marschieren wollen.“

Ulrichs Worte bestätigten Teshins Angst bezüglich der vergangenen Monate. Doch bei der Erwähnung der Inquisitoren wurde er ebenfalls hellhörig.

„Was ist Hornheim?“, fragte er verwirrt.

Gerade als sie tiefer in den Wald fuhren, vollführte die Straße plötzlich einen Knick und führte sie wieder aus dem Schatten der Bäume. Offenbar hatte man sie mit voller Absicht um den Wald herum angelegt.

Ulrich knurrte etwas Unverständliches, bevor er fortfuhr. „Ein heidnischer Tempel, nicht weit von hier. Angeblich treiben Dämonen aus der gottlosen Zeit dort ihr Unwesen. Ich war noch nie dort, aber man erzählt sich einiges im Volksmund. Außerdem hat sich einigen Gerüchten zufolge ein Schwarzmagier in Hornheim einquartiert. Er soll erst vor einigen Wochen einen Schwertdämon mit leuchtender Eisklinge auf die Bewohner von Raureif gehetzt haben.“

Teshin trafen die Worte wie ein Schlag in die Magengrube. Murakamas blauen Schein könnte man durchaus als Merkmal eines verwunschenen Eiszapfens auffassen. Hatte am Ende er diesen Überfall verübt und danach die Erinnerung daran verloren?

Ulrich ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken. Stattdessen seufzte er wehmütig. „Es sind dunkle Zeiten, obwohl der Krieg endlich zu Ende gegangen ist. Überall tanzen die Hexen zur Musik der Dämonen. Immerhin ist nun Gottes Hammer erwacht.“

Teshin schüttelte den Kopf, nun endgültig von der Flut an Informationen überwältigt.

„Gottes Hammer?“

Ulrich betrachtete ihn belustigt. „Ihr müsst schon lange umherreisen, mein junger Freund. Überall predigen die Priester davon. Gottes Hammer ist hier und wird bald schon alles Übel vernichten. Worum genau es sich handelt, weiß aber niemand. Nur mein Herr scheint davon Kenntnis zu haben.“

„Euer … Herr?“ Teshin ahnte, was kommen würde.

Ulrich nickte stolz. „Der gesegnete Inquisitor Medardus. Ich bin ein Mitglied des Ordens der Tempelsöhne, Ulrich von Aminas.“

Teshin schwankte zwischen Grauen und Verwunderung. Die Tempelsöhne galten als geistliche Ritter, die hohes Ansehen bekleideten. Ausgerechnet am äußersten Rand der bekannten Welt auf einen solchen Mann zu stoßen, hätte Teshin niemals erwartet.

„Meine Verehrung“, sagte er schließlich perplex. „Ich fühle mich geehrt.“ Dies war nicht seine harmloseste Lüge. In seinen Augen waren die Tempelsöhne nicht mehr als die Schoßhunde der Inquisitoren. „Ich hätte nur eine … prunkvollere Aufmachung Eurerseits erwartet.“

Ulrich lachte laut auf. „Wir schwören einen Eid auf Keuschheit und Bescheidenheit, Teshin. Unsere schönen Rüstungen tragen wir nur bei Zeremonien. Diese hier ist zwar weniger eindrucksvoll, aber sie tut ihren Dienst. Ich brauche kein glänzendes Gold, um Gott Vater zu dienen.“

Teshin nickte langsam. Diese Erkenntnis beschädigte sein Bild des schrulligen Ulrichs, den er insgeheim schon vor der Konversation als gemütlichen Hauptmann vom Lande eingestuft hatte. Die Ritterwürde wäre Teshin erst zuallerletzt eingefallen.

„Vater Ulrich!“, rief einer der jungen Anwärter plötzlich von hinten. „Die Gefangene muss sich erleichtern!“

Ulrich seufzte. „Schon wieder? Na gut. Wir halten an. Binde sie los, junger Sohn.“ Dabei fiel sein Blick auf Teshin. „Seid so gut und begleitet ihn zu dieser Hexe. Meine Schüler sind so zaghaft, wenn sie losgebunden wird.“ Er grinste. „Wenn Ihr ihr furchtlos begegnet, wird sie das künftig anspornen.“

Teshin konnte nur entsetzt nicken. Ein übles Gefühl der Vorahnung marterte sein Herz.

„Was für eine Gefangene?“, fragte er heiser.

„Ich erzählte Euch doch von dem Angriff auf Raureif? Die Dorfbewohner haben eine mutmaßliche Hexe von Hornheim festgesetzt. Meine Schüler und ich, wir sollen sie abholen und zu Medardus nach Aminas bringen“, antwortete Ulrich bereitwillig.

Teshin nickte kraftlos. Der beunruhigte Schüler ließ ihn hinter die Plane. Drei nervöse Gesichter empfingen ihm, wobei einer der jungen Anwärter ihm Murakama reichte. Die Hexe schien sie in Todesangst zu versetzen.

Als Teshins Blick auf sie fiel, zerbrach etwas in ihm.

Es handelte sich um ein junges Mädchen, kaum dem Kindesalter entwachsen, das hier mit Eisenketten an die hölzerne Wand gefesselt auf dem staubigen Boden lag. Eisblaue Augen musterten ihn, während sie offenbar die aufkeimende Furcht zu bezähmen versuchten. Eine ungekannte Härte schien ihren Glanz zu rauben.

Teshin musste sich mit einem Mal vorstellen, wie Medardus seine lodernden Augen auf dieses junge Geschöpf richtete, wie das Mädchen unter dem Gejohle des Volkes von Aminas zum Scheiterhaufen geführt wurde, während in Raureif Angehörige keine Tränen vergießen durften. Ihn befiel solche Qual, dass innere Barrikaden zerbarsten und lange gehegter Groll seinen Weg an die Oberfläche fand.

Ob es an der Ungewissheit um seine Vergangenheit oder an den Erinnerungen an die nette Frau im Garten aus seiner Kindheit lag, vermochte Teshin nicht zu sagen. Ihn durchfloss nie gekannte Wut, die nichtsdestotrotz auf seltsam vertraute Weise seine Klinge führte. Ehe Teshin einen vernünftigen Gedanken fassen konnte, hatte er Murakama gezogen.

Der blaue Schein brüllte unheilvoll auf und sein Schatten tanzte an der Wand, als Teshin die Bretter des Wagens mit Blut tränkte. Ein einziger Hieb entsandte seine vier jungen Opfer in die Weite des Todes.

Von unbändiger Wut getrieben, sprang Teshin unter der Plane hervor. Ulrich starrte ihn erschrocken an, seine Hand fuhr zum Schwert und sein Mund wölbte sich zum Anstimmen eines heiligen Gesangs. Doch es war zu spät.

Lautlos bohrte sich Murakama in den Leib des betagten Ritters. Teshin fühlte, wie die Magie von ihm wich wie Feuer von Wasser. Als heiliger Mann hätte er gewiss einen Choral eingesetzt.

Ulrichs geweitete Augen holten Teshin in die Realität zurück. Während der Leichnam wie in Zeitlupe vom Kutschbock glitt, erlosch Murakamas hungriges Leuchten.

Zwei Sekunden hatten genügt, um fünf Seelen ihren Leibern gewaltsam zu entreißen und Teshin vom Söldner zum Monster zu erheben.

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