Kniffelig

»Sie sind dran«, fordert meine Ergotherapeutin mich auf. Achso, schon wieder vergessen. Diese verdammten Konzentrationsstörungen. Ich schüttele den Würfelbecher. Drei Fünfen. Das ist schonmal gut. Könnte ein Kniffel werden. Ich bekomme eine Drei und eine Vier dazu.
»Na, wird das eine Straße?«, fragt sie.

Jetzt muss ich wieder überlegen. Ewig lang überlegen. Gebe ich zwei der Fünfen auf, muss ich von meiner Strategie, immer auf Kniffel zu pokern, abweichen. Das jetzt könnte ich ja auch gut als Dreierpasch nehmen. Aber dann habe ich in dieser Runde keine Chance mehr auf den Kniffel und die Fünfer habe ich ja auch noch offen.

»Nein«, sage ich und würfle erneut. Eine Eins und eine Sechs. Ist das jetzt besser oder schlechter? Ist egal, denn damit muss ich jetzt leben. Andere Leute würden nachrechnen, ob das nun oben mehr Punkte bringt oder unten. Ich entscheide das nach Gefühl. Drei Fünfer sind fünfzehn, das weiß ich. Mein Einmaleins ist lückenhaft, aber hier bin ich noch im sicheren Bereich. Ich schreibe das Ergebnis auf die Fünfer, auch wenn ich drei davon wenig finde.

Sie würfelt. Meine Gedanken schweifen ab und ich hadere mal wieder mit mir, mit meinem so schlecht gewordenen Gedächtnis. Ich bin unzufrieden. Früher war mehr Lametta. Als ich mir Namen noch merken konnte, einfach weil der Mensch mich begeistert hat und ich nicht mühsam Memorierungstechniken anwenden musste.

»Sie sind dran, Herr Anders.«

Schon wieder? Das war aber eine kurze Pause. Ich greife nach dem Becher und nehme mir vor, nun besser aufzupassen.

Ich bekomme vier Dreien und eine Eins. Natürlich habe ich die Dreien schon voll. Zwei erfolglose Versuche später setze ich sechzehn auf den Viererpasch. Normalerweise mache ich das nicht mit Dreien, aber ich hatte keine andere Wahl.

Ich gebe den Becher und die Würfel ab und achte nun genau darauf, was sie würfelt, und vor allem, wann sie das dritte Mal gewürfelt hat.

»Große Straße!«, freut sie sich.

Na, so hätte ich es auch so mitgekriegt, denke ich frustriert.

Mittlerweile habe ich den oberen Bereich voll. Normalerweise würde ich einen Taschenrechner benutzen, aber es ist ja der Sinn der Übung, dass ich im Kopf rechne. Um ein Schmierblatt mit Nebenrechnungen zu bekritzeln, bin ich zu eitel. Nicht mit zweistelligen Zahlen. Das kriege ich schon hin. Und ich weiß auch gar nicht, ob es ihr recht wäre und ich traue mich nicht, sie zu fragen. Mit dem oberen Bereich habe ich nie Probleme. Unten wird es haarig, da sind die Zahlen dreistellig. Und da guckt sie mir beim Rechnen zu. Das ist echt übel. Sie hat nämlich nicht die Geduld, abzuwarten, bis ich endlich ein Ergebnis präsentieren kann. Ich vergesse nämlich immer das Zwischenergebnis. Das, was ich vielleicht auf einem extra Schmierzettel die Eins im Sinn und all die anderen notieren könnte. Wenn ich nicht zu stolz wäre, diese Schwäche offen einzugestehen, wegen der ich hier in Behandlung bin: Konzentrationsschwäche. Und mit dieser Ungeduld führt sie mir deutlich vor Augen, wie unsäglich schlecht mein Gedächtnis geworden ist. Scheißtabletten.

Inzwischen habe ich mich auch daran gewöhnt, dass beim Lesen von Büchern alle drei oder vier Seiten meine Augen am Ende eines Abschnitts ankommen und ich überhaupt nichts davon weiß, was da geschrieben steht. Ich springe dann einfach nochmal an den Beginn des Absatzes, manchmal auch zwei oder drei Absätze weiter, nur zur Sicherheit. Papier ist ja geduldig. Ich mittlerweile auch.

 

Dieser Text ist entstanden im Rahmen unserer Schreibübung „Schreiben gegen die Zeit“, die wir sonntags veranstalten.

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