Die heutige Geschichte wurde uns von Mika Nahrten zur Verfügung gestellt. Die Grafik stammt von Adobe Stock.
Viel Spaß beim Lesen!
Alle Jahre wieder
von Mika Nahrten
Dieses Mal würde es klappen, da war ich mir sicher. Heute hatte ich mir dermaßen Mühe mit dem Kostüm gegeben, dass Herr Wehmeyer mich a) nicht erkennen und ich b) nicht vor seiner Gruseldekoration flüchten würde. Nein, dieses Halloween sollte der Wendepunkt werden.
Bisher war es noch niemandem geglückt, sich ein paar Süßigkeiten von Herrn Wehmeyer zu erbetteln, aber als ultimatives Monster des Schreckens, würde er mich nicht abwimmeln können. Wahrscheinlich würde er sogar darum flehen, mir etwas zu Naschen geben zu dürfen, damit ich ihn verschonen würde.
Ein letztes Mal sah ich von meinem Versteck hinter der alten Trauerweide zur Anhöhe, auf der sich sein Haus befand. Die Leute im Dorf erzählten sich so manche Geschichte darüber: Es wäre auf einem Friedhof erbaut, vor über zweihundert Jahren. Außerdem hätten schon mehrere Morde darin stattgefunden und so weiter.
Den Rest des Jahres war Herr Wehmeyer ein ganz gewöhnlicher Mann in den besten Jahren. Höflich und hilfsbereit. Er grüßte stets. Aber an diesem einen Tag im Jahr verwandelte er sein Anwesen in eine Burg des Grauens. Mit klebrigen Spinnweben, rasselnden Ketten, Gerippen, die aus den Hecken schnellten und sonstigem Gruselschnickschnack.
Die Kinder rannten wie die Hasen. Jedes Mal aufs Neue.
Herr Wehmeyer selbst wurde ebenfalls zur Schreckensgestalt. Was er da nicht alles schon aufgefahren hatte: Den kettensägenschwingenden Eishockeymaskenträger, Frankensteins Monster mit Kopf unter dem Arm oder sogar eine verblüffend echt aussehende Spinne.
Gerade hetzten eine kleine Hexe und ein Werwolf panisch an mir vorbei. „Bloß weg!“, konnte ich noch hören.
Nun war der Weg frei. Ich atmete noch einmal tief durch, schob meine siebenäugige Vollmaske zurecht und trat vorsichtig auf den Gehweg. Das Herbstlaub raschelte unter meinen Klauen. Die trüben Laternen ließen den hauchfeinen Nebelschleier, der nun aufgezogen war, aufleuchten.
Mit meinem rechten Tentakel schob ich das knarzende Eisentor auf. Ich spürte, wie mich Zweifel beschlichen, doch ich schluckte sie herunter.
So, wie ich nachher all die Schokolade und die Bonbons herunterschlucken würde. Meinen süßen Triumpf.
Die Krallen meiner Linken fest um den Kürbiseimer verkrampft, traute ich mich bis vor die Tür. Durch das Milchglasfenster sickerte tiefrotes Licht. Es schien zu pulsieren. Fast wäre mir der Fehler unterlaufen, die Klingel zu betätigen, doch ich entsann mich gerade noch rechtzeitig ans letzte Jahr.
Da war nach dem Klingeln ein Eimer mit grünem Schleim über mein Gespensterkostüm gegossen worden.
Also klopfte ich. So gut das eben mit Tentakeln und Krallen ging.
Es passierte nichts. Mein Puls sprengte beinahe das Kostüm. Die schier endlosen Sekunden trieben die Spannung in die Höhe. Immer wieder ging ich meinen Text durch.
Dann … plötzlich öffnete sich die Tür wie von Geisterhand. Ich kniff die Augen zusammen. Durch die winzigen Schlitze sah ich Herrn Wehmeyer weit hinten in seinem Flur stehen. Ohne Kostüm. So, wie sonst auch. Pullover, Cordhose, ausgetretene Schuhe. Er winkte mir freundlich zu.
„Wen haben wir denn da?“, hörte ich plötzlich seine Stimme hinter mir.
Als ich mich langsam umdrehte, hatte er seine Nase schon fast in meine Maske gebohrt. „Du wirst auch nicht müde, es immer wieder zu versuchen, Rudi.“
Ich stutzte. Er hatte mich erkannt? Unter dieser famosen Verkleidung?
„Meinst du nicht, dass du mit deinen 74 Jahren langsam zu alt dafür bist?“
Mit hängenden Tentakeln, verließ ich sein Grundstück. Wieder an der Weide angekommen, drehte ich mich noch einmal um und flüsterte: „Na warte, Wehmeyer! Nächstes Jahr … da werde ich als Sieger vom Feld gehen.“