Das Mädchen mit der Dornenkrone (2/2)

Ich kontrollierte gerade, ob Geschirr fehlte, als er mich zusammenzucken ließ. Der Schrei erfüllte die gesamte Gaststube und zerschmetterte ein Weinglas. Entsetzt wandte ich mich um. Er war von draußen gekommen.
Ich hatte noch nie etwas dermaßen Schreckliches gehört.
Ich finde noch immer keine Worte dafür. Wie beschreibt man die Verkörperung aller Schmerzen und allen Leides? Zum ersten Mal in meinem Leben murmelte ich das Vaterunser in Todesangst. Etwas in dieser Stimme hatte einen Pfeiler in mein Herz getrieben.
Wie besessen rannte ich aus dem Haus. Der nächste Schrei gellte. Ich lief ihm blindlings hinterher. Erst als ich vor dem Hügel stand, wunderte ich mich, dass ich der einzige Dorfbewohner weit und breit war. Niemand sonst schien die Geräusche zu hören.
Ich atmete hastig und bekam kaum noch Luft. Einen Moment lang wollte ich einfach zurückgehen, doch dann stutzte ich. Zwischen den jungen Bäumen auf dem Hügel erhob sich eine Silhouette.
Ich trat leise näher. Ich konnte mich nicht erinnern, sie bei meinem Spaziergang mit dem Alten gesehen zu haben.
Einem unaussprechlichen Instinkt folgend, kroch ich zwischen den Zweigen hindurch. Ein weiterer Schrei ließ mich erstarren. Die Sekunden dehnten sich zu Tagen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis ich einen Blick auf das Grauen erhaschte.
Ich erstarrte.
Der Alte kniete zitternd auf dem Boden. Er hielt den Kopf gesenkt. Ich konnte trotzdem erkennen, dass seine rissigen, blutleeren Lippen lautlose Gebete sprachen. Seine fahlen Hände zitterten so stark, dass er sie kaum falten konnte.
Ihm gegenüber stand eine Gestalt.
Auf den ersten Blick konnte ich sie nicht erkennen. Sie verschwamm vor meinen Augen zu einer unförmigen Masse aus blutig verrenkten Gliedmaßen und unzähligen Köpfen. Rauch umschlang sie wie ein gieriger Mantel. Ein beißender Geruch stieg mir in die Nase.
Die Gestalt bewegte sich nicht. Sie sprach nicht, sie gestikulierte nicht. Sie stieß nur immer wieder diesen markerschütternden Schrei aus.
Ich konnte meinen Blick nicht von ihr lösen. Ihre Erscheinung war nicht in Worte zu fassen. Weder konnte ich mich ihrem grausam entstellten und entgrenzten Körper entziehen, noch ihn einfach so hinnehmen. Ich begann zu zittern. Nach wenigen Augenblicken versank mein Sichtfeld in Tränen.
Im Schrei der Gestalt lag ein abgrundtiefer Schmerz, der in meinen Gedanken unerträgliche Bilder entstehen ließ. Plötzlich hatte ich das Gefühl, einem wunderschönen jungen Mädchen mit einer Dornenkrone mitten ins Gesicht zu blicken. Entsetzliche Wunden entstellten ihren Körper und verströmten einen eitrigen Geruch nach Blut und Feuer.
Eine Träne tropfte von ihrer Wange. Wie ein Herbstblatt schwebte sie einen Moment lang in der Luft. Die Landschaft schien sich in ihr zu spiegeln.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag. Kurz vor Sonnenaufgang spürte ich eine sanfte Berührung am Arm und zuckte zusammen. Erst da bemerkte ich, dass die Schreie aufgehört hatten.
»Es tut mir leid«, murmelte der alte Priester. »Ich wollte Eure Güte nicht auf die Probe stellen.«
Ich seufzte schwach. Die Worte ergaben erst nach einigen Momenten Sinn in meinem Kopf.
»Was war das? Ein Geist? Ein Dämon?«
Der Blick des Alten schweifte in die Ferne. Er schüttelte sanft den Kopf.
»Schuld.«
Sein schmerzhaft angespanntes Gesicht verzog sich zu einem qualvollen Lächeln, als er das Kreuz nahm und sich von mir abwandte. Seine Schritte wirkten immer noch schwach und kraftlos. Ich konnte ihm nicht einmal Lebewohl sagen. Seine gebückte Gestalt verschwand zwischen den schweigenden Herbstblättern.
Ich saß den ganzen Tag über im Gras. Erst als der Abend die ersten blutigen Schlieren in den Himmel zeichnete, stand ich auf.
Diesmal warf ich keinen Blick zurück.

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