Der Spiegel

Und wieder sitze ich vor dem Spiegel. Ich bin es so leid!

Auf meinen Oberschenkeln liegen meine Hände. Sie sind schön. Die Finger lang und schmal, die Nägel gepflegt. Die Haut ist seidenweich, faltenfrei und fast weiß.

Das alles ist auf der anderen Seite des großen Grabens ein Hinweis auf edle Abstammung und Reichtum. Nur Mona weiß, dass meine Hände gebleicht sind. Mona ist meine Betreuerin. Sie hat viel von einer Katze. Ihre majestätische Art, sich zu bewegen, ihre Beharrlichkeit, mit der sie das Ziel verfolgt, mich zu einer perfekten Dame auszubilden, ihre Ruhe, die sie für gewöhnlich ausstrahlt.

Nachdem ich meinem Widerwillen genügend Raum gegeben habe, seufze ich tief und hebe meinen Blick. Noch immer berührt es mich seltsam, wenn ich mein Spiegelbild betrachte.

Meine dunklen, fast schwarzen Augen, die ein bisschen zu eng nebeneinander stehen. Meine schmale, lange Nase, die ein bisschen zu groß ist. Mein Mund, mit der vollen Unterlippe und der etwas zu schmalen Oberlippe. Die blasse Haut und mein langes, gelocktes Haar.

Nichts ist perfekt , und doch, in seiner Gesamtheit ist das Gesicht so schön, dass das Betrachten fast weh tut. Also gut, beginnen wir mit den Übungen. Was ist heute dran? Ich nehme meinen Ausbildungsplan zur Hand.

Der laszive Blick, der unschuldige Blick, ein fröhliches Lächeln, ein schüchternes Lächeln, ein Aufblitzen meiner Augen – so, dass mein Gegenüber Temperament erkennen kann.

All das und noch viel mehr steht heute auf dem Programm. Sobald ich mit meinem Gesichtsausdruck zufrieden bin, drücke ich auf den Auslöser der Kamera. Später am Tag wird Mona die Bilder mit mir durchgehen und sicherlich wieder viele Verbesserungsvorschläge machen.

Ich kratze mich nachdenklich an der Stirn, werfe meine schwarze Lockenpracht nach hinten und schiebe die rechte Schulter nach vorne. So gewähre ich einen tiefen Blick in mein makelloses Dekolleté, neckischer Blick – klick.

Haare nach vorne, leicht übers rechte Auge, unschuldiger Blick – klick.

Freundliches Lächeln mit Sehnsucht im Blick – klick.

Gelangweiltes Gähnen, müder Blick – klick. Mist, ich muss mich konzentrieren, Mona wird meckern. Trotzdem kann ich mir ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen. Erstaunt betrachte ich die wunderschönen Züge im Spiegel und stelle fest, dass gerade etwas von mir durchscheint. Erleichtert und gleichzeitig erschreckt nehme ich es zur Kenntnis.

Ich stehe auf, laufe hin und her. „Kleinere Schritte, Hüften schwingen!“, höre ich Mona sagen. Meistens gehorche ich ihr sogar, wenn sie nicht da ist. Nach ein paar Runden vor dem Spiegel wird mir heiß. Das was ich sehe, ist die Verführung pur. Ich trete näher an den Spiegel heran. Streiche mit den Fingerspitzen sanft über meine linke Brust. Unwillkürlich atme ich tief ein. Meine Brüste hüpfen fast aus dem Ausschnitt.

Ich seufze. Mit so einem Mädchen wie diesem wäre ich gerne einmal im Bett. Das muss der Himmel auf Erden sein.

Hätten sie mir bloß kein Bild von ihm gezeigt. Wenn ich nur daran denke, wer mich erwartet, könnte ich kotzen. Er hat dicke, fleischige Patschhände und viel zu viele Haare dort, wo sie nicht hingehören. Sein Trommelbauch ist gigantisch, ähnlich dem meiner Schwester, kurz bevor sie mit ihren Zwillingen niederkam.

Sanft streichle ich mir übers Gesicht und lächle mir aufmunternd zu. Weiter geht’s. Nun steht Haare kämmen auf dem Programm. Ich hätte niemals gedacht, dass es so viel Arbeit ist, ein paar Locken wie Locken aussehen zu lassen und nicht wie ein verfilztes Vogelnest. Ich lächle versonnen beim Kämmen, die brennende Kopfhaut ignorierend. Klick.

Zum Schluss kommt die Königsdisziplin. Das Schminken. So langsam stelle ich mich dabei nicht mehr ganz so dumm an. Sorgfältig trage ich erst die Farbpaste und dann den Puder auf. Dabei völlig entspannt auszusehen, schaffe ich leider noch nicht. Also kein Klick.

Wieder denke ich an den Fettsack, den ich in Kürze bezirzen darf. Ich sollte ihn möglichst vor der Hochzeit beseitigen, sonst wird er sich wundern. Bei diesem Gedanken kichere ich amüsiert.

Ich höre förmlich Zakils Worte. „Es ist nur eine Illusion, wenn auch eine sehr gute. Lass dich erst anfassen, wenn ihr alleine seid und du das Messer in Greifweite hast. Und sobald er tot ist, löse den Zauber und gib Fersengeld.“

Ich ziehe mein Kleid aus und hänge es sorgfältig über den Kleiderständer neben der Türe. Mein Blick fällt auf meinen Körper, die langen Beine, die perfekt geschwungenen Hüften und die Wespentaille. Mir wird schon wieder heiß. Wie wunderschön sie doch ist.

Dann spreche ich laut das Lösungswort. Ein Schleier legt sich über meine Augen. Als ich wieder klar sehen kann, erblicke ich im Spiegel einen schmal gebauten, glatzköpfigen jungen Mann mit blauen Augen. Ich ziehe meine Hose an. „Wenn es nur schon vorbei wäre“, murmle ich vor mich hin und öffne die Türe. Während ich mit raumgreifenden Schritten und extra lautem Stampfen den Raum verlasse, beginne ich mich wieder als das zu fühlen, was ich wirklich bin. Ein sehr junger Mann, fast noch ein Schuljunge, mit einer schweren Aufgabe. Mein Blick wird düster und gleichzeitig entschlossen. Ich werde es schaffen, weil ich es schaffen muss.

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