Gottes Hammer XVI

Stille breitete sich aus, als der schwarze Nebel verschwand.

Iliana sah, wie Teshin sacht seine Stirn berührte. Die Platzwunde war verschwunden. Halgins Schnabel stand weit offen vor Erstaunen und Esben räusperte sich betont.

Kurz tauschten sie untereinander Blicke aus. In stillem Einverständnis wandten sie sich der Tür zu.

„Ich schätze, wir haben keine andere Wahl“, murmelte Teshin.

Esben nickte. Er umklammerte den Folianten so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Erregung überkam Iliana. Obwohl sie Teshin seit kaum einem Tag kannte, wollte nun auch sie das Geheimnis aufdecken. Das untrügliche Gefühl, selbst davon betroffen zu sein, machte sich in ihr breit.

Kaum öffneten sie die Tür und verließen Sitraxas Höhle, entzündeten sich an der Wand des Korridors mit einem Mal Fackeln. Rotes Feuer durchstieß das Halbdunkel wie blutige Laternen. Iliana schluckte. Ihre Hände schlossen sich fester um den Bogen.

Halgin krächzte misstrauisch. „Können wir ihr vertrauen?“ Dabei sah er Teshin an.

Teshin zuckte ratlos mit den Schultern. „Wenn sie uns schaden wollte, hätte sie uns nur aus dem Hinterhalt heraus angreifen müssen. Stattdesen hat sie mich geheilt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns töten will.“ Er atmete tief durch und rieb sich die Schläfen. „Andererseits habe ich in der Kirche gegen sie gekämpft und sie ist mir deshalb sicher nicht wohlgesonnen. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung.“

Halgin nickte. „Wir sollten einen Kampf in Erwägung ziehen.“ Dabei sah er Esben an. „Vermagst du diese Dämonin ebenso niederzustrecken wie Sitraxa?“

Esben zögerte. „Ich weiß es nicht“, gab er schließlich zu. „Sie war nicht lange genug anwesend, als dass ich sie hätte spüren können. Auch jetzt nehme ich keine dämonische Präsenz im näheren Umkreis wahr. Vielleicht … vielleicht ist sie wirklich eine Art Halbdämon, wie Teshin meinte.“

Teshin hob ausweichend die Hände. „Das war nur ein Erklärungsversuch.“

„Aber ein guter“, ertönte es hinter ihnen.

Sie fuhren erschrocken herum. Iliana hob den Bogen. Vor ihnen stand eine gedrungene Gestalt in einem schäbigen schwarzen Umhang, die die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. Ein metallener Geruch umwölkte das vernarbte Gesicht und ein Grinsen weitete die fahlen Mundwinkel. Zwei rötliche Augen schimmerten, als sie eine reich verzierte Laterne hob. Auch sie glomm im Farbton des Blutes.

„Berengar der Name“, stellte sich der kleine Mann vor. Ein Kichern folgte. „Ich werde Euch in die Halle meiner Herrin geleiten.“

Iliana sah ihre Gefährten unsicher an. Teshin hatte bereits Murakama gezogen, Halgin flatterte energisch mit den Flügeln und Esben präsentierte dem Neuankömmling eine leere Seite des Buches.

Einen Moment lang verharrten sie in dieser Stellung, bis Teshin sich räusperte und Murakama in die Scheide steckte. „Wieso kann ich dich nicht spüren, Berengar?“

Berengar kicherte. „Folgt mir. Ich werde Euch unterwegs Eure Fragen beantworten.“ Mit diesen Worten wandte er sich um und ging zu den Fackeln.

Teshin folgte ihm. Iliana tat es ihm mit klopfendem Herzen nach. Beruhigt fühlte sie, wie Halgin sich auf ihrer Schulter niederließ.

Der Gang führte steil abwärts. Iliana zuckte zusammen, als ein kalter Luftzug sie erschaudern ließ.

Eigentlich sollte sie Furcht erfüllen. Schließlich näherte sie sich einer weiteren Dämonenhöhle, in der ähnliche Wesen wie Sitraxa sie erwarteten. Obwohl sie bei der Erinnerung an die schreckliche Spinne kaum noch Luft bekam, erfüllte sie nun eine nie gekannte Sicherheit. Das Mädchen aus der Kirche war kein Monster. Sie hatte Menschlichkeit in seinem Blick entdeckt, Verletzlichkeit und Gewissensbisse. Oder projizierte sie nur ihre eigenen Gefühle auf eine andere Person?

Vielleicht sehnte sie sich unterbewusst einfach nach einem Menschen, der wie sie war, der keine magischen Bücher oder Schwerter besaß und keinen Vertrag mit Dämonen geschlossen hatte.

Berengar unterbrach ihre Überlegungen. „Meinem erlauchten Herrn gefiel es, mir als Lohn für meine Dienste die Unsterblichkeit zu schenken. Ich bin eine rastlose Seele, auf ewig dazu ermächtigt, den Erdkreis zu durchstreifen.“ Er kicherte.

Halgin streckte sich auf Ilianas Schulter. „Ihr seid ein Untoter!“

Ilianas Eingeweide gefroren. Sie hatte bereits Legenden in Raureif gehört, düstere Geschichten über rastlose Seelen, die in den Bergen ihr Schicksal beklagten. Jedoch hatte sie nie an solche Geschichten geglaubt.

Teshin ging es ähnlich. „Ich hielt Ghule immer für Sagengestalten“, sagte er kühl.

Empörung schlich sich in Berengars Stimme. „Ghule sind wilde Wesen ohne Sinn und Verstand. Sie haben nichts mit der Realität zu tun. Ich bin ein Hrandar, ein Ewiger, wie es in der Alten Sprache heißt.“ Bei diesen Worten berührte Berengar plötzlich die Wand. Ein Durchgang bildete sich mit lautem Knirschen, das Iliana erschaudern ließ. Offenbar gab es in Hornheim auch Geheimgänge.

Hier brannten keine Fackeln. Stattdessen verunzierten Spinnweben die niedrige Decke und stinkendes Wasser strebte in kleinen Tropfen dem gepflasterten Erdboden entgegen. Iliana musste an Sitraxa denken und ihre Hände schlossen sich fester um den Bogen.

„Wie wird man zum Hrandar?“, fragte Teshin interessiert.

Berengar kicherte, doch diesmal beantwortete Halgin die Frage. Seine Stimme klang bitter.

„Durch ein höheres Wesen“, erwiderte der König. „So gesehen bin auch ich ein Untoter. Ich wurde von den Elphahim verflucht, Berengar hat wohl ein Dämon verwandelt.“

Esben hielt inne, sodass Iliana gegen ihn stieß. „Elphahim? Ihr meint einen Engel? Das habt Ihr noch gar nicht erwähnt!“

Halgin schnaubte. „Nenne diese Geschöpfe Engel, wenn du willst, ich tue es nicht. Genau wie die Dämonen Hornheims keine Boten des Teufels sind, sind auch die Elphahim Folkvangs keine Diener eures Gottes. Aber genug davon. Sie waren schon zu meiner Zeit ungemein rar und heute gibt es kaum noch welche.“

Berengar kicherte. „Das ist richtig. Die Elphahim sind beinahe alle verschwunden, aber die Dämonen sind da. Bitte, tretet ein.“ Damit verneigte er sich höflich vor ihnen und wies auf ein prunkvolles Doppelportal.

Ilianas Herz drohte zu zerspringen, als die beiden Torflügel wie von Geisterhand bewegt aufschwangen.

Gemeinsam traten sie über die Schwelle.

Iliana erstarrte.

Sie standen in einer gewaltigen kreisrunden Halle, deren Wände sieben Statuen zierten. Sie schienen Könige zu zeigen, denn alle trugen sie Insignien der Macht. Ansonsten verspottete die Einrichtung jegliches Bedürfnis nach Ästhetik. Kerkerzellen waren in die Mauern geschlagen, Ketten hingen von der schmutzigen Decke. Inmitten eines verstörenden Konglomerats aus Folterinstrumenten und rostigen Waffen stand ein gewaltiger Thron, dessen Lehne dieselbe Fratze aufwies, die sie über dem Eingangsportal in Androgs Halle empfangen hatte. Darunter saß das Mädchen.

Iliana kam der Ort vage bekannt vor. Während sie die Halle durchquerten, verstärkte sich das Gefühl erheblich. Die Anordnung der Statuen, die Anzahl der Ketten … war sie schon einmal hier gewesen?

„Meine Herrin, die Herzogin Velis des Dritten Pfades von Hornheim!“, erklang Berengars Stimme aus dem Hintergrund.

Velis nickte, doch Iliana konnte keine Würde in ihren Zügen entdecken. Vielmehr furchte Trauer das junge Gesicht der Herrscherin.

„Herzogin?“ Halgin schnaubte. „Existiert in Hornheim etwa eine Hierarchie?“

Velis nickte. Ihr metallenes Halsband funkelte im rötlichen Licht. Erst jetzt bemerkte Iliana, dass kleine Stachel es bedeckten.

„Natürlich. Es handelt sich um eine genaue Kopie des Systems im Heiligen Königreich.“ Velis‘ Stimme klang überraschenderweise gewöhnlich. Nach Sitraxas zischenden Lauten hatte Iliana etwas anderes erwartet. „Ich bekleide denselben Rang wie der Herzog von Astaval.“ Dabei nickte sie Teshin zu. „Astavals Thron stünde eigentlich Euch zu. Wieso betätigt Ihr Euch als Söldner?“

Teshin schnaubte wütend. „Diese Frage werde ich einem Dämon gewiss nicht beantworten! Eher solltet Ihr uns einige Dinge erklären!“

Velis ließ sich scheinbar erschöpft zurücksinken, doch ein Lächeln zierte ihre Lippen. „Als wir uns zum ersten Mal trafen, erhielt ich exakt dieselbe Antwort. Du hast dich trotz allem nicht verändert, mein Freund.“

Iliana sah Teshin überrascht an. Er wirkte nicht minder verwirrt. Aber die Entschlossenheit fand schnell den Weg zurück in seinen Blick. „Bitte“, sagte er leise, aber bestimmt. „Was ist in den letzten Monaten geschehen? Wo ist Saskia?“

Velis erhob sich. Als sie die steinernen Stufen herabstieg, schien das Licht schwächer zu werden. „Ich darf diese Fragen nicht beantworten“, erwiderte sie. „Ich habe dir einen Eid geschworen, es nicht zu tun.“ Ihre roten Augen funkelten. „Du musst deine Erinnerungen durch einen Vertrag zurückerlangen. Das war dein ausdrücklicher Wunsch vor der Löschung.“

„Vor der … ich habe meine Erinnerungen freiwillig aufgegeben?“, fragte Teshin verwirrt.

Velis nickte.

Iliana sah zwischen Velis und Teshin mit geweiteten Augen hin und her. Dabei schlich sich ein wachsendes Gefühl der Unruhe in ihr Bewusstsein. Sie wusste, dass sie diesen Ort vor jenem Tag schon einmal betreten hatte. Doch wann? Androgs Halle und Sitraxas Refugium erschienen ihr beide nicht im mindesten vertraut!

„Ich muss also einen Vertrag mit dir schließen?“, fragte Teshin.

Velis streckte eine Hand aus. „So ist es.“

Teshin sah sie unsicher an. „Aber ich bin Irodeus verpflichtet.“

Velis schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Aber das wirst du bald erfahren.“

Halgin stieß sich von Ilianas Schulter ab und krächzte laut. „Nicht! Das ist eine Falle!“

Auch Esben hatte Bedenken. „Mach nicht noch einmal diesen Fehler, Teshin!“

Ilianas Herz schien zu platzen. Sie warf einen Blick auf Berengar. Der Untote lehnte lässig an der Wand und verfolgte interessiert das Geschehen. Besaß er magische Fähigkeiten? Konnten sie sich im Zweifelsfall den Weg freikämpfen?

Teshin zögerte. „Welche Bedingungen wird der Vertrag umfassen?“

Velis lächelte. „Du bekommst deine Erinnerungen zurück und dafür befreist du mich von meinem Sklavenmacher.“ Dabei deutete sie auf das metallene Halsband.

Teshin sah sie verwirrt an. „Sklavenmacher?“

Velis lächelte weiterhin, doch Dunkelheit umwölkte ihren Blick. „Ein Geschenk meines Vaters.“

Teshins rechte Hand ruhte auf Murakamas Griff. „Wie mach ich das?“

Velis zuckte mit den Schultern. „Mit einem schlichten Segen. Mehr ist nicht nötig, aber er setzt voraus, dass wir beide einen Vertrag schließen.“

Teshin warf Halgin einen unsicheren Blick zu. Der König schüttelte den Kopf. Teshin biss die Zähne zusammen.

„Das ist meine einzige Chance“, stieß er schließlich hervor. „Wenn ich jetzt ablehne, werde ich nie erfahren, was geschehen ist!“

„Wir finden einen Weg“, entgegnete Halgin.

Velis schüttelte den Kopf. „Es gibt keine andere Möglichkeit.“

Einem Impuls folgend, hob Iliana den Bogen und zielte auf Velis. „Was, wenn wir Euch einfach zwingen, ihm die Erinnerungen zurückzugeben?“

Velis‘ Lächeln erstarb.

„Das kann ich nicht“, erwiderte sie schließlich. „Mein Eid ist bindend.“

„Ich verstehe.“ Teshin trat vor. Langsam löste sich seine zitternde Hand von Murakama. „Mir bleibt wohl keine Wahl.“

Velis nahm seine Hand in die ihre. Iliana sah hilfesuchend zu Halgin, doch der König betrachtete das Geschehen nur fassungslos. Er schien nicht eingreifen zu wollen.

Plötzlich blitzte ein schmales Messer in Velis freier Hand auf. Lautlos trat Berengar mit einer reich verzierten Schlüssel zwischen die beiden.

Teshin schien nicht überrascht. Hatte er einen solchen Vorgang bereits beobachtet?

„Fürchte dich nicht“, murmelte Velis beinahe lautlos, als sie das Messer über ihre verschränkten Hände hob. „Bald werden wir Eidgenossen sein. Der Schmerz des einen möge der Schmerz des anderen sein.“

Mit diesen Worten trieb sie das Messer tief in ihr Fleisch, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen. Die dünne schwarze Klinge durchstieß Velis‘ Hand und erreichte Teshins. Der Söldner zuckte zusammen, erduldete den Schmerz jedoch lautlos. Einen Moment später tropfte Blut in Berengars Schale. Der Hrandar kicherte, als rote Rauchschwaden aufstiegen.

„Ich, Velis, Herzogin des Dritten Pfades von Hornheim, mache hiermit diesen Mann zu meinem Eidgenossen und Mitstreiter und gelobe hiermit, ihm wiederzugeben, was er verloren!“ Ihre Stimme erfüllte die Halle wie Donnergrollen. Sie nickte ermutigend.

Iliana sog scharf die Luft ein, als Teshins Augen zu funkeln begannen. Kurz schien es, als weigerte er sich, doch im nächsten Moment nickte er.

„Ich, der Herzog von Astaval, gelobe hiermit, meine Mitstreiterin von ihrem Sklavenmacher zu befreien.“ Er holte tief Luft. Nichts geschah. Iliana wechselte einen verwirrten Blick mit Halgin. Teshin atmete tief durch. Die folgenden Worte kosteten ihn sichtlich Überwindung.

„Mein wahrer Name lautet Azrael.“

Der Raum erzitterte und eine Aura reinster Magie schien sich um die beiden zu erheben wie ein brüllender Orkan. Blitze zuckten durch die flimmernde Luft. Iliana stolperte entsetzt zurück. Die Augen der sieben Könige glommen rötlich.

Auch diese Szene erschien ihr vertraut. Die Blitze, die leuchtenden Augen … nur das Beben war ihr neu. Sie entsann sich Teshins Worte. Sein wahrer Name wirkte wie ein Wort der Macht.

Im nächsten Moment endete der magische Orkan. Velis zog ihre Hand zurück. Die Wunde schloss sich.

Teshin regte sich nicht. Er starrte mit leerem Blick vor sich hin, wie in weite Ferne.

„Teshin?“, rief Halgin. „Kannst du mich hören?“

Velis hob einen Finger an den Mund. „Er durchlebt all seine Erinnerungen. Es ist ein Schock …“

„Ein Schock, fürwahr.“ Teshins Stimme klang tiefer und ein Iliana unbekannter Ton schlich sich in die Worte. Als Teshin sie der Reihe nach ansah, schien ein neuer Zug seine Miene zu verzerren. Sein Gesicht wirkte regelrecht spöttisch, so als amüsierte er sich über einen grausamen Scherz. Dazu glühten seine Augen nun rot.

Iliana wich instinktiv zurück. Diesem Gesicht wohnte keine Liebe mehr inne.

„Ist es gelungen?“, fragte Halgin leise. „Was ist mit Saskia geschehen? Was ist mit Medardus und mit Gottes Hammer?“

Teshin antwortete nicht, stattdessen entrang sich ein nahezu unmenschliches Lachen seiner Kehle.

„Saskia ist tot!“, rief er wie von Sinnen. Ein dämonisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich habe sie getötet!“

Fassungslos starrte Iliana ihn an. Vor ihr stand der Schwertdämon, der Raureif überfallen hatte.

Halgin schwang sich in die Lüfte, wobei er Velis musterte. „Das ist Euer Werk.“

Velis antwortete nicht. Stattdessen ließ sie sich vor Teshin zu Boden sinken. Berengar tat es ihr nach. Sie knieten vor ihm wie vor einem Herrscher.

„Lang lebe Azrael, König von Hornheim!“, riefen sie im Chor.

Und während um sie herum die Apokalypse losbrach, wusste Iliana, dass das Böse seinen nunmehr größten Triumph feierte.

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