Der letzte Palast (2/2)

„Etwas stimmt hier nicht“, flüsterte Lameth.

Gwen und Yuki wechselten einen stummen Blick und warteten auf Lameths Erklärung. Ihr Freund räusperte sich und schnallte den Schild auf seinen Rücken.

„Hier gibt es keine Feinde“, murmelte er mit zusammengekniffenen Augen. „Hier ist nichts … kein Dämon, kein Ghul, nichts.“ Er schüttelte verzweifelt den Kopf und fixierte Yuki. „Du hast Geister erwähnt. Meinst du wirklich, dass es sie gibt?“

Yukis Augen blitzten. „Warum stellst du mir so eine überflüssige Frage?“ Ihre sanfte Stimme wirkte mit einem Mal nahezu beleidigt.

„Es tut mir leid.“ Lameth setzte sich in Bewegung. „Wir haben dir nie Glauben geschenkt. Aber vielleicht hast du mit deiner Vermutung Recht. Hier sind keine Gegner.“ Er deutete auf den Boden. „Hier gibt es nur dieses Lied.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Gwen mit einem Stirnrunzeln.

„Ich hatte eine Vision“, erwiderte Lameth langsam. „Ich weiß es einfach. Kommt, lasst uns gehen.“

Gwen wechselte einen weiteren Blick mit Yuki und seufzte. Das Lied erklang immer noch am Rande ihrer Wahrnehmung, doch sie verschloss sich seiner Wirkung und folgte Lameth eilig nach.

Sie hielten sich wieder an der Wand. Als sie an den Statuen vorbeikamen, erkannte Gwen, dass sie Überlebensgröße hatten. Die Menschen neben ihnen waren beinahe doppelt so groß wie sie selbst. Gwen erschauderte und kontrollierte sie ein weiteres Mal mit ihrer Magiesicht.

Es gibt keine Geister, sagte sie zu sich selbst. Dabei warf sie einen Seitenblick auf Yuki, die immer unsicherer wirkte. Ihre Augen huschten umher wie verängstigte Tiere.

Gwen schluckte. Sie fühlte ebenso die beunruhigende Aura dieses Ortes. Kurz warf sie einen Blick auf die Statuen. Aus der Nähe betrachtet wirkten ihre Züge erschreckend menschlich. In ihren Augen tanzte das rötliche Licht der Wände auf glitzernden Edelsteinen, sodass echte Tränen ihre Wangen zu benetzen schienen. Trotz ihrer offenkundigen Trauer wirkten sie schön, nahezu elfenhaft. Ihre Münder waren geöffnet. Sie erinnerten Gwen an Sänger in einem tragischen Stück voller Trauer und Leid.

Unwillkürlich beschleunigte Gwen ihre Schritte.

Der Raum der Statuen war größer als die Eingangshalle. Als sie endlich einen weiteren Bogen erreichten, schmerzten ihre Füße. Sie hatten nun schon ein Drittel des Palastes durchquert und noch immer erschienen keine Feinde.

„Das kann doch nicht wahr sein“, knurrte Lameth und warf Blicke in alle Richtungen. „Ich hatte massenhaft Feinde erwartet. Wie können die Dämonen die Quelle ihres Lebens nur unbewacht lassen?“

Yuki kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Ein dunkler Gedanke überkam Gwen und sie räusperte sich verlegen.

„Vielleicht braucht die Quelle keinen Schutz“, sagte sie leise.

Lameth schluckte. Sie konnte ihm seine Unsicherheit ansehen. Immer hatten ihre Missionen den Kampf gegen grausame Kreaturen beinhaltet und ihnen ein Maximum an Stärke und Magie abgerungen. Die Abwesenheit jeglicher Kampfkraft fühlte sich falsch an. Gwen selbst hatte damit gerechnet, von einer Horde Dämonen empfangen zu werden, anstatt durch verlassene Flure zu laufen.

Dennoch, sie durften sich keine Zweifel leisten. Das Schicksal Karfurths hing von ihnen ab. Nur sie konnten ihr Heimatreich Aramon vor dem Untergang durch die Dämonen bewahren. Sie mussten weitergehen, selbst dann, wenn die Hoffnung vollends erstarb.

Sie passierten einen weiteren Torbogen. Kurz umschlang sie wieder vollkommene Finternis, bis die steinernen Stufen sie in eine weitere Halle mit rotem Licht führten.

Gwens Augen weiteten sich, als sie die Architektur sah.

„Großer Gott“, flüsterte Lameth.

Vor ihnen war kein Innenraum, sondern eine unterirdische Stadt unendlichen Ausmaßes, über die sich gewaltige Brücken spannten. Gwen erspähte die nächste Tür am anderen Ende eines Übergangs, der über einige Nebenstränge mit ihrer Position verbunden war. Auch hier entdeckte ihre Magiesicht nichts.

Das Lied erklang hier lauter und wirkte trotzdem noch nicht vollständig. Sie erhob sich wie sanfter Nebel aus dem Untergrund und kroch unter den zerstörten Häusern empor.

„Was ist das hier?“, kam es Gwen erschrocken über die Lippen. „Das hier sieht aus wie eine Menschensiedlung! Seht doch, eine Kathedrale!“

Ihr zitternder Zeigefinger deutete ausgestreckt auf ein gewaltiges Bauwerk, dessen spitze Zwillingstürme sich gegen das rote Licht mehrerer Deckengargoyles abzeichneten. Weit dahinter erkannte Gwen die Silhouetten vieler anderer Gotteshäuser. Die Stadt breitete sich bis an den Rand ihres Sichtfelds aus.

Wie groß ist diese Höhe, fragte sich Gwen perplex. Das ist kein Palast – das sind die Ruinen einer ganzen Zivilisation!

„Was ist hier nur geschehen?“ Lameth wirkte ebenso verunsichert wie sie. Seine goldenen Augen starrten die große Kathedrale an. „Ich … ich glaube … ich habe das alles hier schon einmal gesehen …“

Gwen schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht möglich … der Eingang war versiegelt, das hast du doch gesehen! Seit Jahrtausenden hat niemand mehr den Palast des Dämonenkönigs betreten!“

Lameth hörte ihr nicht zu, sondern beugte sich weit über das Geländer. Er wisperte unverständliche Worte, die Gwen nicht verstand. Dennoch wirkten sie vage vertraut. Sie erinnerten sie an ihre eigenen Zaubersprüche.

„Deus … Sabaoth … Elohim“

Als hätte er tatsächlich Magie gewirkt, erhob sich ein Luftzug und riss an ihren Kleidern. Gwen hielt instinktiv ihren Spitzhut fest. Wieder erklangen Stimmen. Diesmal konnte Gwen ihre Worte sogar verstehen. Sie wiederholten Lameths Worte wie ein Gebet, wie eine uralte Litanei, während unsägliche Trauer darin mitschwang. Ein ganzes Heer aus Geistern schien ein bestimmtes Ereignis zu beklagen.

Ehe Gwen reagieren konnte, fühlte sie Yukis Hand an der ihren. Im nächsten Augenblick drückte sich ihre Freundin eng an sie. Sie schien zu zittern und das schwarze Haar fiel ihr unordentlich ins Gesicht. Der Wind heulte auf und riss an ihrem bunten Mantel. Die Zeichen auf ihren Metallkappen glühten blutrot.

„Oni …“, kam es leise aus ihrem Mund. „Oni …“

Gwen strich sanft über ihren Arm und segnete sie mit einem Zauber. Dann trat sie vor und berührte Lameth an der Schulter. Seine goldenen Augen fixierten noch immer die ferne Kathedrale.

„Leth“, flüsterte sie so sanft wie möglich. Sie konnte die Furcht nicht vollständig aus ihrer Stimme verbannen. „Leth, komm. Wir müssen weiter. Wir stehen kurz vor dem Ziel.“

Lameth blinzelte. Langsam trat Erkennen in seine Augen und er schüttelte sich wie ein nasser Hund. Plötzlich zog er wutentbrannt sein Schwert und hob es hoch über seinen Kopf empor.

„Ormozd Alvanelev!“, brüllte er. Ein warmer Lichtblitz umhüllte sie. Einen Augenblick später waren die klagenden Stimmen im Wind verstummt. Nur noch die ferne Melodie drang an ihre Ohren.

Lameth atmete schwer und schlug die Hände vors Gesicht. Nur der goldene Schein seiner Augen schlich sich an seinen zitternden Fingern vorbei.

Aus einem unerfindlichen Grund schockierte Gwen dieses Bild mehr als alle anderen Vorkommnisse. Lameth war ein Held. Er hatte Dämonen getötet, hatte Yuki in einem verfluchten Wald und sie selbst aus ihrem brennenden Dorf gerettet. Er war die Hoffnung und der erwählte Krieger der Menschheit – der Schüler des alten Meisters Gravis, dessen Schicksal sich nun endlich erfüllen würde.

Dennoch stand er mit einem Mal schluchzend vor ihr.

Gwen wich instinktiv zurück. Sie hatte Lameth noch nie weinen gesehen. Seine Gefühle traten stets hinter seiner heldenhaften und freundlichen Ausstrahlung zurück. Ein goldener Schleier aus Mut und Kraft schien den wahren Lameth stets zu umhüllen. Sein jetziger Zustand zerstörte Gwens Bild des unbesiegbaren Streiters vollkommen.

Sie sah sich nach Yuki um, doch ihre Freundin sah auch nicht besser aus. Sie warf unsichere Blicke in alle Richtungen und wisperte immer wieder das gleiche Wort. Gwen erkannte den Begriff für Dämon in der Sprache von Yukis Volk.

Mit einem Mal verspürte Gwen selbst den Drang zu weinen. Sie waren allesamt noch so jung. Trotz all ihrer Abenteuer besaßen sie kaum Lebenserfahrung. Gwen hatte noch nie einen Beruf ausgeübt, hatte noch nie eine eigene Familie gehabt oder den Bund der Liebe geschlossen. In diesem Augenblick traf sie die Bedeutung der Situation mit voller Wucht. Gravis verließ sich auf sie – auf drei Kinder, die sich zufälligerweise im Kampf gegen unheilige Geschöpfe bewährt hatten.

Was ist in meinem Leben nur schiefgelaufen? Ich sollte nicht kämpfen können. Ich sollte zuhause sein, in meinem Dorf … ich sollte ein glückliches Leben führen und nicht das Schicksal der gesamten Welt auf meinen Schultern tragen müssen.

Eine einzelne Träne benetzte ihre eigene Wange. Kurz bevor die fremdartige Melodie sie in Besitz nahm, erhob sich Lameth, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und hob sein Schwert.

„Genug davon!“, rief er so laut, dass seine Worte wie Donnerhall durch den unterirdischen Komplex fuhren. Seine Augen funkelten ungehalten.

„Ich kann mich wieder erinnern“, flüsterte er. „Hier bin ich geboren. Hier, in dieser Stadt.“ Seine goldenen Augen blitzten und fixierten die Kathedrale. „Ich weiß nicht, wie das alles zusammenhängt, aber das Schicksal wollte, dass ich zurückkehre. Ich verstehe den Sinn nicht, aber …“ Er schluckte. „Lasst uns weitergehen“, murmelte er mit gesenktem Kopf. „Wir müssen es zu Ende bringen. Karfurth wird fallen.“

Lameth atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Doch Gwen hielt ihn einen Augenblick fest.

„Ich weiß, das ist kein guter Zeitpunkt …“, begann sie zögerlich. Sie unterdrückte ein Schluchzen, das sich zuvor in ihrer Kehle gebildet hatte. „Bist du sicher, dass alle Dämonen sterben, wenn wir das Herz des Königs zerstören? So wie die alten Legenden es berichten?“

Lameth nickte. „Ich bin sicher. Sie werden alle sterben. Sie müssen einfach.“

Schweigend folgten sie dem Verlauf der Brücke und erreichten einen weiteren Torbogen. Erst jetzt erkannte Gwen, dass er Teil eines seltsamen Gebäudes war, das auf den ersten Blick wie ein verunstalteter Felsbrocken wirkte. Feingliedrige Adern durchzogen den nackten Stein. Sie glommen rötlich und ihr fahler Schimmer erweckte den Eindruck von fließendem Blut.

Der Gesang wurde lauter, als sie den Torbogen durchschritten und zur letzten Treppe gelangten. Der Sänger war eindeutig männlich und wurde von einem einzigen Instrument begleitet, das Gwen nicht einordnen konnte. Sein Klang schien nicht von dieser Welt zu sein.

Während sie hinabstiegen, schweiften Gwens Gedanken ein letztes Mal zu den Legenden der alten Welt, die sie als Kind gehört hatte. Ein gewaltiges Reich erhob sich in einem fruchtbaren Land, das nun verödet wie eine Wunde die Landschaft verunzierte. Es war ein Königreich der Dämonen gewesen und von den Paladinen der alten mit der Kraft des Lichts vernichtet worden. Nun kehrten die Dämonen aus ihrem Schlaf zurück, um die übrigen Reiche heimzusuchen, als Ersatz für ihre verlorene Heimat.

Aber das hier ist keine Dämonenstadt, wisperte eine freche Stimme in ihrem Verstand. Das hier ist eine Stadt der Menschen, schöner und größer als je eine Stadt zuvor und danach.

Gwen umklammerte ihren Stab fester. Sie durfte sich keine Zweifel erlauben. Der Dämonenkönig erwartete sie.

Endlich erreichten sie den Fuß der Treppe. Das Lied drang hier am deutlichsten an ihre Ohren. Gwens Augen weiteten sich überrascht.

Sie standen im Eingang einer winzigen Kammer, deren Wände schwebende Leuchtkugeln säumten. Sie glommen sanft in warmen Farben und wirkten wie freundliche Glühwürmchen. In dem Augenblick, als Gwen das Zentrum der Kammer erblickte, verstummte der Sänger und das Lied endete.

Inmitten leuchtender Kugeln saß ein junger Mann mit schneeweißen Haaren und einer weiten Robe auf einem gewaltigen Sarkophag. Seine Augen wirkten wie abgrundtiefe Seen der Trauer. Müdigkeit spiegelte sich in seinem weisen Blick. Er wirkte deutlich älter, als seine jugendliche Gestalt erlauben sollte.

Er hatte dasselbe Gesicht wie Lameth.

Gwen war ebenso überrascht wie ihre Freunde. Yuki schlug entsetzt eine ihrer metallüberzogenen Hände vor den Mund, während Lameth instinktiv eine defensive Kampfposition einnahm. Seine Augen erglühten in unbegreiflichem Schrecken.

Der junge Mann nickte ihnen langsam zu und erhob sich von dem Sarkophag. Er bewegte sich mühselig und stützte sich mit zitternden Händen ab. Die Robe legte sich um seinen dürren Körper wie eine seidene Aura aus Nebel.

Der junge Mann deutete eine Verbeugung an und lächelte traurig.

„Willkommen in meiner Ruhestätte“, seufzte er und breitete die Arme aus, so als wollte er die Kammer umfassen. „Mein Retter.“

Kurz herrschte Stille, bis Lameth entschlossen die Waffen hob und sich seinem Ebenbild näherte. Seine Hände zitterten, doch er blieb kampfbereit.

„Wer bist du? Bist du das Herz des Chaos, das die Dämonen am Leben erhält?“

Der junge Mann schüttelte den Kopf und der kurze Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen. „Ich habe vor so langer Zeit dieselben Worte gesprochen. Du bist wahrhaftig mein Nachfolger.“

„Dein Nachfolger? Was soll das bedeuten?“, fragte Lameth verwirrt. Er verharrte auf halbem Wege vor dem jungen Mann. Yuki und Gwen flankierten ihn eilig. Gwen segnete ihre beiden Freunde, konnte aber keine Anstalten zum Kampf an ihrem Gegner entdecken. Sie entdeckte keine Kampfmagie, sondern nur filigrane Lichtfäden, die den Körper ihres Gegenübers mit dem Sarkophag verbanden.

„Du wurdest hier geboren, um der Retter der Menschheit zu sein“, erklärte der junge Mann geduldig. „Was ich vor so vielen Jahrhunderten getan habe, sollst du nun wiederholen. Es ist unser Vermächtnis, unser Fluch.“ Dabei strich er gedankenverloren über den Sarkophag. „Unser Fluch als Söhne des Dämonenkönigs.“

Wie vom Blitz getroffen wich Lameth zurück. Sein Mund öffnete sich und seine Augen blitzten geweitet in stummem Entsetzen. Gwen blickte den jungen Mann entsetzt an. Das konnte nicht wahr sein.

„Es war einmal ein Mann“, berichtete der junge Mann leise. „Der die schönste Stadt der Welt regierte. Er besaß alles, bis auf eigene Kinder. Also griff er zu verbotener Magie und schloss einen Pakt mit dem Teufel, um das Fortbestehen seiner Linie zu sichern.“

Der junge Mann seufzte und wies mit einer vor Schwäche zitternden Hand auf die Decke der Kammer. „Aber der Pakt forderte einen unverschämten Preis. Der Wunsch des Mannes, dass seine Familie ewig fortbestehen möge, erfüllte sich. Doch der Mann und seine Untertanen verwandelten sich in blutrünstige Dämonen, die in ihrer großartigen Stadt mordeten und ein schreckliches Massaker anrichteten. Seine Frau flüchtete in die Kathedrale und gebar einen Sohn – einen Sohn, der die Macht des Teufels erhielt und auszog, seinen Vater zu bekämpfen.“

Der junge Mann kicherte verschmitzt. Seine Augen richteten sich auf Lameth und Gwen betrachtete schockiert, wie Tränen seine Wangen benetzten.

„Verstehst du, Bruder?“, flüsterte er. „Der erste Sohn verbannte seinen Vater hier in diesen Sarkophag. Aber er versetzte ihn nur in einen Schlaf. Der Sohn verband sich mit dem Vater mit seiner eigenen uralten Magie und hielt ihn und seine dämonischen Legionen zurück, bis seine Kraft nachließ. Die Dämonen erhoben sich erneut und der Teufel setzte einen neuen Sohn in die Kathedrale, der wieder auszog, um dieselbe Reise zu erleben und denselben Kampf zu fechten, nur um letzten Endes den Platz des vorherigen Sohnes einzunehmen und den Sarkophag seines unsterblichen Vaters zu bewachen und die Dämonen erneut zu bannen.“ Er kicherte erneut. „Ihr solltet wissen, dass ich einer der Paladine war, die vor Jahrhunderten die letzte Dämonenplage beendeten. Man hält mich für einen verstorbenen Helden, aber in Wirklichkeit habe ich hier ausgeharrt – und gewartet. Gewartet, dass mein jüngerer Bruder meinen Platz einnimmt.“ Er lächelte schwach. „Ich kann das Böse nicht mehr zurückhalten.“

Gwen starrte den jungen Mann an und plötzlich offenbarte sich ihr die Niedertracht dieses diabolischen Plans. Immer und immer wieder erhoben sich die Dämonen, nachdem die Helden in Vergessenheit gerieten, immer und immer wieder wurden die Stadtbewohner ins Leben zurückgerufen, um die lebendigen Menschen heimzusuchen. Es war ein gewaltiger Kreislauf aus Hass und Leid.

Plötzlich hatte Gwen eine Vision. Sie sah den jungen Mann, einen anderen Lameth mit seinen Freunden in dieselbe Höhle kommen. Neben ihm ging eine Magierin mit einem Spitzhut und einem Ebenholzstab.

Die Geschichte wiederholt sich. Selbst wenn wir ihn jetzt binden … nach einigen Jahrhunderten werden neue Dämonen umherstreifen und andere Mädchen wie mich zu Waisen machen. Eine neue Gruppe wird zu einer Reise aufbrechen, um diesen aussichtslosen Kampf weiterzuführen.

Diese Spirale würde niemals enden.

Gwen blickte ratlos Lameth an und erschrak, als sie die Trauer in seinem Gesicht sah. Er nickte.

„Ich erinnere mich jetzt“, flüsterte er. „Ich erinnere mich an meine Geburt und meinen Zweck. Ich muss den König binden. Ich bin der Wächter der Welt.“

Er steckte das Schwert in die Scheide und näherte sich seinem Bruder.

„Lameth!“, rief Gwen verzweifelt und sprang vor, doch Yuki hielt sie zurück und schüttelte den Kopf. Gwen kämpfte gegen ihren Griff an.

„Wir finden einen Weg!“, schrie sie. „Wir können den Dämonenkönig bezwingen! Wenn wir alle unsere Kräfte vereinen …“

„Wir haben keine Zeit mehr.“ Lameth warf Schild und Schwert von sich und näherte sich dem jungen Mann. „Jede weitere Sekunde könnte ein Menschenleben in Karfurth beenden.“ Kurz herrschte Schweigen. „Gwen, Yuki …“ Lameth wandte sich mit traurigem Lächeln um und sah sie an. „Danke. Danke für alles.“

Gwen hob entschlossen den Ebenholzstab. Sie würde ihn zurückhalten. Sie musste ihn zurückhalten! Doch noch ehe ein Zauberspruch über ihre Lippen kam, umarmte Lameth sein Ebenbild.

Goldenes Leuchten erfüllte die Kammer und schleuderte Gwen und Yuki nach hinten. Gwen stieß einen lauten Schrei aus. Sie hatte das Gefühl zu fallen und durch einen endlosen Wirbel aus Farben zu gleiten. Sie presste sich eng an Yuki, hielt sich an ihr fest und zog Trost aus ihrer Anwesenheit.

Dann verschwand der Wirbel und sie schlugen hart auf dem Erdboden auf.

Als Gwen sich taumelnd erhob, brandete Jubel auf sie ein. Yuki und sie befanden sich vor den Toren Karfurths und wurden Zeuge eines dämonischen Heeres, das wie schwarzer Nebel in alle Windrichtungen verteilt wurde. Die menschlichen Soldaten strömten aus den zerstörten Toren, reckten ihre Waffen und freuten sich über die beendete Bedrohung. Sie glaubten, dass ihre Helden den Dämonenkönig besiegt hätten.

Sie wissen nicht, dass derselbe Kampf in wenigen Jahrhunderten von vorn beginnen wird.

Erschaudernd schlang Gwen die Arme um ihre angewinkelten Knie. Yuki umarmte sie.

„Hab keine Angst“, flüsterte Yuki.

Gwen erwiderte die Umarmung. Yukis Trost wog schwerer als der Jubel aller Soldaten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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