Gottes Hammer: Folkvang XII
„Bitte wartet hier.“ Der Diener verneigte sich so tief, dass seine Nase den marmornen Boden zu berühren drohte. Er trug eine schwarze Uniform und hielt einen kunstvoll geschnitzten Stab in seiner rechten Hand. Iliana glaubte, in dem hölzernen Geflecht eine Heiligendarstellung zu erkennen. „Das Orakel wird Euch bald empfangen.“
Er wies mit dem Stab auf zwei harte Bänke. Bequemlichkeit schien hier nicht zu herrschen. Kaum hatten sie sich auf den kalten Sitzflächen niedergelassen, verschwand der Diener durch ein prunkvolles Doppeltor. Lautlos fielen die schweren Flügel hinter ihm ins Schloss.
Sie befanden sich in einer großen Kathedrale inmitten jener Stadt, die Lifas nur Hrandars Faust nannte. Iliana wusste nur, dass von hier aus der Großangriff auf das benachbarte Herzogtum Astaval stattgefunden hatte. Sie würde gerne mehr in Erfahrung bringen, wagte aber nicht, Lifas anzusprechen. Der kühle Ritter wirkte noch abweisender als sonst. Seine Augenbrauen bildeten eine durchgehende Linie über seinem durchbohrenden Blick. Offenbar erschien ihm eine Begegnung mit dem Orakel wenig reizvoll.
Iliana fröstelte. Je mehr sie von Hrandamaer zu sehen bekam, desto mehr erstaunte sie das verheerte Herzogtum. Gleichgültig, wohin sie ging, die Religion beherrschte alle Lebensbereiche. Sie wirkte hier nicht nur als ferner Hoffnungsschimmer für das Leben nach dem Tod, sondern als reale Verteidigungsmaßnahme gegen die Schrecken der Nacht.
Iliana kannte die Geschichten von Klerikern, die trotz ihres Standes rauschende Feste feierten und die Abkehr vom Fleischlichen nicht so genau nahmen. Selbst der Bischof von Aminas genoss einen Ruf, von dem sogar die Menschen in Raureif Kunde hatten. Iliana erinnerte sich an ein Gespräch zwischen einer verzweifelten Frau und dem Dorfpriester. Die Nichte der Frau lebte in Aminas und war in des Bischofs „Jungfernturm“ gesperrt worden. Sie bat den Dorfpriester inständig um Hilfe, dieser jedoch blieb machtlos. Die Trauer in seinem Blick sprach Bände.
In Hrandamaer wirkten die Kleriker vollkommen anders. Jeder von ihnen besaß harte, vom Leben gezeichnete Züge und einen federnden Gang, der überwältigende Selbstsicherheit ausstrahlte. Selbst niedere Mönche trugen Symbole des Glaubens wie Waffen an ihren Gürteln, beteten öffentlich unter großem Zustrom der Leute und sicherten die Stadtgrenzen. Sie wirkten zäh und predigten mit den charismatischen Bewegungen von Propheten. Es handelte sich um Menschen, für die Selbstaufopferung zur Gewohnheit geworden war. Auf Iliana wirkten sie wie Soldaten.
Dass die hrandamaerischen Kleriker wenig Gelegenheit für Ausschweifungen hatten, zeigten auch die Heiligendarstellungen in der Kathedrale des Orakels. Iliana kannte viele überspitzte Motive, in denen die Schrecken der Hölle neben der Herrlichkeit des Himmels gezeigt wurde. Hier hingegen offenbarten die Buntglasfenster dem Betrachter lediglich die Leiden der Heiligen, ohne auf Erlösung oder Verdammnis einzugehen. Iliana erschauderte. Wenn die Priester tatsächlich jede Nacht aufs Neue die Städte gegen die wandelnden Toten verteidigen mussten, führten sie kein besonders angenehmes Leben. Plötzlich wünschte sich Iliana zurück nach Raureif, in die Zeit vor Arinhilds Verbrennung. Halgin wäre noch am Leben … und sie hätte Azrael nie getroffen …
Im nächsten Moment öffnete sich das große Tor wie von Geisterhand und der Diener mit dem Stab trat heraus. Er verneigte sich erneut.
„Das Auge der Ewigkeit wird Euch nun empfangen“, verkündete er mit klarer Stimme.
Iliana und Lifas erhoben sich schweigend. Der Ritter hatte ihr erzählt, dass das Orakel bereits seit Äonen lebte. Man verehrte sie in Hrandamaer als Heilige, obwohl der Erzbischof in der kaiserlischen Hauptstadt Sankt Emerald nur bedingt Ambitionen zeigte, sie offiziell anzuerkennen. Der aus Hrandamaer stammende Erzbischof Drogan hatte zuletzt versucht, ihr den Status zu verleihen, war damit jedoch gescheitert. Seither konnte sich kein hrandamaerischer Kleriker mehr an die Spitze der Denomination setzen.
Der Diener führte sie eine breite Treppe hinauf, bog dann jedoch unvermittelt ab und führte sie durch einen engen Gang. Am Ende flankierten zwei schwer gepanzerte Ritter eine unscheinbar wirkende Tür. Sie trugen gleichermaßen profane und geistliche Waffen.
Der Diener pochte mit dem Stab auf den Boden. Kurz geschah nichts, dann öffnete sich die Tür von innen und die beiden konnten passieren.
Iliana hatte einen Thronsaal erwartet, vielleicht mit zahlreichen Buntglasfenstern und gewaltigen Statuen. Stattdessen befanden sie sich in einer dunklen Kammer mit zwei hölzernen Bänken und einer steinernen Pritsche. Das Orakel lag darauf und grinste sie verwegen an.
Iliana blickte das Auge der Ewigkeit wie erstarrt an. Vor ihr thronte keine ehrwürdige Heilige, sondern eine junge Frau mit einem langen schwarzen Mantel und einem unverschämten Ausschnitt. So sah sie zahlreiche unverständliche Schriftzeichen auf ihrer bleichen Haut, die im Dämmerlicht schimmerten. Violette Augen strahlten gespenstisches Licht ab und lange schwarze Haare fielen dem Orakel ungebändigt in die Stirn.
Plötzlich erstaunte es Iliana nicht mehr, dass der Erzbischof die Heilige nicht anerkennen wollte.
„Willkommen!“, rief die Frau und erhob sich ungestüm von ihrer Pritsche. Ehe Iliana reagieren konnte, hatte sie sie bereits beide umarmt. „Lasst euch herzen! Ihr seid die ersten Personen seit Monaten, die mich hier aufsuchen! Kommt, setzt euch, setzt euch! Ich kann euch leider nichts anbieten, ich trinke nichts.“
Iliana leistete der Aufforderung Folge, doch Lifas blieb stehen. Abscheu verhärtete seine Miene.
Wortlos wandte er sich um und verließ den Raum. Iliana zuckte zusammen, als die Tür ins Schloss fiel. Er hatte sie tatsächlich mit der seltsamen Heiligen allein gelassen.
„Dein Freund hat keine Manieren!“, stellte das Orakel kopfschüttelnd fest. „Aber egal. Man sagte mir, du hast seltsame Visionen, von denen das Schicksal der Welt abhängen könnte?“ Sie ließ sich auf die Pritsche sinken und sah sie neugierig an. Sie wirkte wie ein Kind, dem jemand eine Geschichte zu erzählen versprach.
Iliana schluckte und nickte langsam. Leise begann sie zu sprechen.
„In Hornheim hat mich ein Dämon namens Berith betäubt. Ich war einige Stunden bewusstlos, aber kurz vor dem Aufwachen sah ich mehrere Dinge.“ Sie versuchte, sich die Bilder in Erinnerung zu rufen. Es fiel ihr nicht schwer.
„Zuerst war da ein Schlachtfeld“, berichtete sie. „Es war voller gepfählter Leichen. Dann sah ich einen Bruder, der nach seiner Schwester schrie und einen Mann, der jemanden liebte, aber diese Liebe nicht zeigen durfte … dann hörte ich noch eine Stimme.“
Das Orakel zog ein Bein an und stützte das Kinn auf sein Knie.
„Was hat sie gesagt?“
„Gottes Hammer fällt am Folkvangstag“, erwiderte Iliana leise.
Das Auge der Ewigkeit schwieg einen Moment. „Gibt es sonst irgendwelche Hinweise?“
Iliana wollte bereits den Kopf schütteln, als ihr das Treffen mit Berith in den Sinn kam. „Der Dämon, der mich betäubt hatte, erschien mir später im Traum. Er meinte, ich solle nach Hrandars Faust gehen und dort eine Frau namens Ashaya aufsuchen.“
Das Orakel blinzelte, dann brach es in Gelächter aus.
„Wirklich? Das hat er gesagt?“
Iliana nickte unsicher. Was war daran so amüsant?
Das Auge der Ewigkeit lächelte süffisant. „Nun, eine Frage kann ich dir mit absoluter Sicherheit beantworten. Ich bin Ashaya. Du wirst hier keine Zweite finden. Schließlich hat mich der Erzbischof noch immer nicht anerkannt.“
Iliana erstarrte. Plötzlich sehnte sie ihren neuen Bogen herbei. Sie hatte ihn am Eingang der Kathedrale zurücklassen müssen.
Ashaya schien ihre Furcht zu spüren. „Ach, Mädchen, das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Angst zu haben! Wenn Berith dich umbringen wollte, hätte er dich wohl kaum zu mir geschickt.“
„Dann ist es wahr?“, stieß Iliana entsetzt hervor. „Ihr paktiert mit Hornheim?“
Ashaya rollte mit den Augen und wies auf das einzige Fenster im Raum. Es war vergittert. „Glaubst du, ich hause in einer Gefängniszelle, weil ich asketisch leben will? Ursprünglich hatte ich ein großes Zimmer und ein weiches Bett im Herzen der Kathedrale. Dann bemerkte einer meiner Leibwächter, dass ich doch nicht so heilig bin, wie sie glauben. Jetzt bin ich hier. Die zwei Ritter vor der Tür sollen nicht mich vor der Welt beschützen, sondern die Welt vor mir.“ Ashaya lachte. Sie klang wie ein Mädchen, das sich diebisch über einen gelungenen Streich freute. Iliana erschauderte. „Es gibt nur einen Grund, weshalb sie mich nicht foltern und verbrennen. Ich bin ihnen nützlich. Ich kann Begebenheiten vorhersagen und Träume deuten. Das sind Eigenschaften, die furchtsame Herrscher immer schätzen, egal ob geistlicher oder weltlicher Art.“
Iliana schüttelte fassungslos den Kopf. „ Was habt Ihr jetzt mit mir vor? Werdet Ihr mich nach Hornheim zurückbringen?“ Sitraxa kam ihr in den Sinn und Übelkeit machte sich in ihrem Inneren breit.
„Warum hast du Angst davor?“, fragte Ashaya grinsend. „Du warst doch schon dort, oder nicht?“
Iliana sah sie voller Unverständnis an. „Gerade deshalb habe ich ja so große Angst!“
„Du missverstehst mich.“ Ungewohnte Ernsthaftigkeit glomm in Ashayas violetten Augen. Sie erhob sich und kam langsam auf Iliana zu.
„Ich meine nicht dein Eindringen mit Halgin und Esben. Ich meine deinen Aufenthalt als Kind, bevor du zu Arinhild kamst.“
Eiskalter Frost befiel Ilianas Brustkorb. „Was?“
„Du hast schon richtig gehört.“ Ashaya wandte sich ab und spähte durch das vergitterte Fenster. „Hast du dich nie gefragt, wer deine Eltern sind? Woher du wirklich stammst?“
Ilianas Herz drohte zu bersten. „Ihr wisst, woher ich komme?“
Ashaya nickte. Erneut legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen, doch diesmal schmälerte Trauer die Geste. „Ich kann es dir zeigen. Aber ich warne dich gleich: Wenn du es gesehen hast, wird deine Welt nie wieder so sein wie zuvor.“
Iliana konnte diese Warnung nicht abschrecken. Sie erhob sich und ging auf Ashaya zu, die ihr die Hand anbot.
„Zeigt es mir“, flüsterte sie zitternd.
Ashaya antwortete nicht. Ihre violetten Augen flammten auf wie Sterne und hüllten Iliana in unheiliges Licht. Dann erblickte sie die Wahrheit.