Korrekturen 15

15.Teil – Die Sucher (2/2)

Cheom wandte sich um und führte die Beiden in einen großen, kuppelförmigen Raum, in dem zahlreiche Sessel und Liegen standen. Der Raum war nur mäßig beleuchtet, sodass seine wahre Größe nur erahnt werden konnte. Das wirklich beherrschende Inventar war eine riesige, gläsern wirkende Kugel, die mitten im Raum zu schweben schien.
»Nehmt Platz, wo Ihr wollt«, bot Cheom an, »macht es euch bequem. Ich werde noch ein paar Getränke holen und dann mit euch eine kleine Reise durch die Zeit machen.«
Minuten später ging es los. Die Kugel erhellte sich und Cheom zeigte Fancan, wie sich der Zeitfluss und die Entwicklung der Menschheit unter der ständigen Manipulation der Behörde allmählich immer weiter von seiner natürlichen Entwicklung wegbewegt hatte. Er zeigte, dass die Menschheit systematisch ihrer Möglichkeiten beraubt wurde, Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen. Immer, wenn eine Entwicklung ein eine Richtung zeigte, die der Obersten Behörde suspekt erschien, wurde sie brutal unterbunden und ungeschehen gemacht. Allein durch die Arbeit der Agenten starben viele Tausende Menschen und immer wurde es durch die Behörde abgesegnet und angeordnet, um für Stabilität zu sorgen.
Cheom zeigte vergleichend immer, wie die normale Entwicklung ohne den Eingriff verlaufen wäre.
»Wie können Sie wissen, wie die normale Entwicklung gewesen wäre?«, wollte Fancan wissen, die bereits sehr verunsichert wirkte, »Sie wurde ja schließlich durch eine Manipulation niemals endgültig real.«
»Wir arbeiten mit zwei Methoden«, erklärte Cheom, »einmal haben wir sehr leistungsfähige Rechenanlagen, die uns Interpolationen liefern, die sehr nah an der Realität liegen. Dann greifen wir aber auch auf die zentralen Register der Obersten Behörde zu und vergleichen die dort als geheim gespeicherten Informationen mit unseren errechneten Interpolationen. Stimmen sie im Kern überein, müssen wir sie als realistisch einstufen.«
»Sie haben Zugriff auf die geheimen Register der Behörde?«, wunderte sich Fancan.
Cheom lachte verhalten.
»Selbstverständlich haben wir den – natürlich ohne die Kenntnis und Zustimmung der Behörde. Es dient dem reinen Selbstschutz – und natürlich auch der Planung von Maßnahmen gegen eure Manipulationen.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht …«, sagte Fancan.
»Vor etwa tausend Jahren geschah etwas, dass uns überhaupt erst auf euch aufmerksam gemacht hat«, sagte Cheom, »bis zu diesem Zeitpunkt war diese Welt relativ dicht besiedelt. Doch von einem auf den anderen Tag verschwand der größte Teil der Bevölkerung und hinterließ ein totales Chaos. Die hier verbliebenen Menschen hatten zum Teil Erinnerung an das Vorher, zum Teil aber auch nicht. Die Meisten waren der Ansicht, dass es schon immer so wenige Menschen gegeben habe. Unter den Menschen mit der Erinnerung an einen dicht besiedelten Planeten befanden sich einige der besten Wissenschaftler unserer Welt. Sie stellten eine Theorie auf, wonach es sich um eine temporale Verwerfung gehandelt haben muss, die sich nur zum Teil in die Zukunft fortgepflanzt hatte. Sie begannen die Zeit zu erforschen – etwas, das man seit Urzeiten nicht mehr getan hatte. Nach und nach lernten sie, die Natur der Zeit zu verstehen und fanden heraus, wie man die Vergangenheit erforschen konnte. Dabei stießen sie auf einen brutalen Krieg am Rande des zweiundachtzigsten Jahrhunderts, der mit Waffen geführt wurde, die zu massiven Veränderungen des Planeten geführt haben. Erst bei der Erforschung der Ursachen fand man einige Ungereimtheiten heraus. So schienen diverse wissenschaftliche Errungenschaften nicht folgerichtig entwickelt worden zu sein. Wir gingen weiter in die Vergangenheit zurück und trafen auf Ihren Zeitvektor und Ihre Behörde, was uns zunächst sehr verblüffte, da wir davon ausgegangen waren, dass wir die Zeitforschung erst entdeckt hatten. Nun mussten wir feststellen, dass Zeitforschung, Zeitreise und Zeitmanipulation bereits ein sehr alter Hut war. Allerdings erkannten wir sofort, dass es die Manipulationen der Behörde waren, die zur Katastrophe im zweiundachtzigsten Jahrhundert geführt hatten. Eure Analysten hatten schlampig gearbeitet und eine Entwicklung gefördert, die Auswirkungen bis in unsere Zeit hatte.«
Cheom machte eine kurze Pause und sah Fancan an.
»Haben Sie bis hierher alles verstanden?«, wollte er wissen.
Fancan nickte. Sie konnte nicht umhin, aber sie fühlte sich irgendwie schuldig.
Cheom fuhr fort:
»Ursprünglich wollten wir Kontakt aufnehmen und euch helfen, doch wir entschieden uns anders, nachdem wir sahen, mit welcher Ignoranz und welcher Überheblichkeit die Mitglieder der Obersten Behörde über das Schicksal von Milliarden von Menschen entscheiden. Einzelne Individuen werden ohne jegliches Zögern geopfert, wenn die Analysten der Ansicht sind, ihre Existenz sei schädlich. Wir erkannten, dass wir uns auch in der fernen Zukunft vor ihrem Handeln schützen mussten. Wir installierten im zweiundachtzigsten Jahrhundert eine für eure Technologie undurchdringliche Sperre, die verhindern sollte, dass Ihr den überwachten Bereich darüber hinaus ausdehnen könnt. Für die meisten eurer Manipulationen reicht es aus, uns zu schützen, da sich der Zeitfluss über die gesperrten Jahrhunderte hinweg meist bereits wieder normalisiert hat, bevor wir davon betroffen werden.
Seit langer Zeit schon schleusen wir unsere eigenen Agenten bei euch ein, um euer System und seine Funktionalität zu studieren. Einen unserer besten Leute kennen Sie bereits – es ist Giwoon, der schon seit ein paar Jahren dafür sorgt, dass wir alles erfahren, das nötig ist, um den Zeitvektor zu zerstören.«
»Was? Sie wollen den Zeitvektor – die Behörde – einfach zerstören?«, entfuhr es Fancan, »Das dürfen Sie nicht tun! Das ist ein Verbrechen!«
»Fancan, Sie haben unser Material gesehen«, sagte Cheom ruhig, »denken Sie in Ruhe nach und dann sagen Sie mir, was ein Verbrechen ist. Ist es ein Verbrechen, der menschlichen Rasse seine Chance auf eine eigenständige Entwicklung zu verwehren oder ist es ein Verbrechen, dafür Menschen zu töten? Wo hört Verbrechen auf, wo fängt Verstand an? Ist es moralisch vertretbar, etwas zu tun, nur, weil man die Möglichkeit dazu hat? Ich denke nicht. Es wird Zeit, dass die Menschheit wieder die Verantwortung für ihr Handeln selbst übernimmt und nicht nur glaubt, dass sie diese Verantwortung hat. Der Zeitvektor wird fallen, Fancan. Es würde mich freuen, wenn Sie es einsehen könnten und uns vielleicht sogar helfen können, dieses Ziel zu erreichen.«
Giwoon, der die ganze Zeit über still danebengesessen hatte, griff nach Fancans Hand. Eine Träne rann über ihre Wange.
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll«, sagte sie, »mein ganzes Weltbild gerät ins Wanken. Ich bin Agentin – ich war immer Agentin. Meine Aufgabe waren immer die Korrekturen. Wenn aber nun alles falsch … was bin ich dann noch? Ich könnte mich doch auch gleich erschießen.«
»Fancan!«, fuhr Giwoon sie an, »Das darfst du nicht einmal denken! Du bist eine tolle Frau und ich liebe dich! Dein Leben hört doch nicht auf, nur, weil wir dieser Behörde ein Ende bereiten werden. Wir bleiben auf jeden Fall zusammen.«
Er blickte zu Cheom und fragte:
»Ist es nicht so?«
Cheom nickte nur und antwortete:
»Ja, so ist es und ich wünsche dir und Fancan dabei viel Glück.«
Fancan blickte von einem zum anderen und ihr Gesicht bekam einen fragenden Ausdruck.
»Wovon sprecht Ihr eigentlich?«
Cheom erhob sich.
»Ihr müsst jetzt wieder gehen«, sagte er, »Symeen kann euch alles Weitere sagen.«
Er nahm erst Giwoon und dann auch Fancan in den Arm, die es vollkommen verwirrt geschehen ließ.
»Mädchen, ich gebe euch alle meine guten Wünsche mit auf euren Weg«, sagte er, »passt aufeinander auf.«
Dann führte er sie wieder zum Transporter, der sie in einem Sekundenbruchteil wieder zurück ins Haus von Giwoons Familie brachte. Als sie die Treppe ins Erdgeschoss hinaufgingen, hörten sie, dass die Familie bereits am Esstisch versammelt war.
»Ihr kommt spät«, sagte Symeen vorwurfsvoll, »setzt euch, sonst ist das Essen ganz kalt.«
Sie aßen schweigend. Fancan war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt und Symeen wollte sie nicht darin stören. Sie war überzeugt, dass Fancan von ganz allein auf sie zugehen würde.
Nach dem Essen erhoben sich Zedroog und Yshaa, während Symeen, Giwoon und Fancan zurückblieben.
»Symeen, ich glaube, ich habe Anspruch darauf, endlich Alles zu erfahren«, sagte Fancan, als sie allein waren, »ich bin es endgültig Leid, dass immer alle nur in Rätseln mit mir sprechen. Cheom hat mir eine Menge Dinge gezeigt und erklärt. Dann jedoch wies er nur noch darauf hin, dass ich den Rest von dir erfahren würde und wünschte mir viel Glück. Was wisst Ihr, was ich noch nicht weiß? Redet endlich!«
Symeen verschränkte ihre Hände und sah Fancan ernst an.
»Als Giwoon uns mitteilte, dass er eine enge Beziehung zu einer Agentin der Behörde eingegangen wäre, waren wir darüber nicht begeistert – wie du dir denken kannst. Er ist mein Sohn und es fällt mir noch immer schwer, zu begreifen, dass er inzwischen erwachsen ist und seine Entscheidungen selber trifft. Ich gestehe, dass ich große Vorbehalte hatte, als Zedroog mir mitteilte, dass du mit Giwoon zu uns reisen würdest. Jetzt, wo ich dich kennen gelernt habe, sehe ich einige Dinge anders. Du bist nicht die kalte Killermaschine, für die ich Agenten immer gehalten habe. Du bist im Grunde das Produkt von Erziehung und Konditionierung durch die Behörde und dafür darf und kann ich dich nicht verurteilen. Was ich aber getan habe – und dafür kann ich mich nur bei dir entschuldigen: Ich habe von Cheom ein Profil von dir fertigen lassen, damit ich ein besseres Gefühl dafür bekomme, mit wem mein Sohn und ich es zu tun haben.«
»Du hast ‚was‘ getan?«, ereiferte sich Fancan.
Symeen machte eine beschwichtigende Geste.
»Ich entschuldige mich dafür bei dir in aller Form, Fancan. Ich hätte es dir sofort sagen sollen. Allerdings sind dabei einige Dinge zutage getreten, die ich nicht erwartet hätte und die mich auch äußerst traurig machen. Du und Giwoon werdet uns wieder verlassen und ihr werdet niemals mehr zurückkehren.«
»Das kannst du doch nicht wissen, Symeen«, sagte Fancan, »warum sollten wir nicht zu dir zurückkehren? Oder wird uns etwa etwas geschehen?«
»Nein, das ist es nicht«, sagte Symeen und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne fort, »Ihr werdet uns verlassen müssen, weil eine Aufgabe auf euch wartet, die – wenn ihr sie löst – dafür sorgen wird, dass wir uns niemals mehr wiedersehen werden. Es ist sehr kompliziert.«
»Du redest noch immer in Rätseln, Symeen«, sagte Fancan vorwurfsvoll.
»Du hattest in deiner Basis im Zeitvektor eine Freundin, nicht wahr?«, fragte Symeen.
»Khendrah?«, rief Fancan aus, »Die Verräterin? Woher kennst du Khendrah?«
»Du denkst noch immer in den alten Bahnen«, mahnte Symeen, »ich weiß von deinem Auftrag, Khendrah zu töten, Khendrah und dieses Thomas Rhoda. Es ergab sich alles aus den Recherchen zu deinem Profil, Fancan. Ich sage dir jetzt, dass es von großer Bedeutung ist, Khendrah zu finden und sie nicht zu töten. Ich erkläre dir auch, warum.«
In den nächsten Stunden hatten Fancan und Giwoon das Gefühl, die Zeit würde wie im Fluge vergehen. Staunend nahmen sie zur Kenntnis, was Symeen und Cheom über sie herausgefunden hatten. Niemals hätte sie vermutet, dass ihr aller Schicksal so sehr miteinander verflochten war.

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