Ein Liebesbrief von Saigel
Wie lange noch, Liebste? Wie lange werde ich noch auf dich warten? Hier in den dunklen Kellern der tiefen Verließe aus Mondglas und Sonnenstein? Wann wirst du mich holen, mich mit deinem grellen Licht erhellen, das die Augen leiden lässt und doch so heilsam seine Wirkung zeigt, da es allen Schmerz auf einmal bannt?
Evangeline … Sage ich deinen Namen so vor mir her, flüstere ihn in mich hinein, wo er sich kreisend niederlässt, sich in mein Fleisch bohrt und mich quält, entflammt sich ein Feuer der Entbehrung, das mich gänzlich verschlingt. Schreiend winde ich mich zwischen spuckenden Flammen, die an mir reißen und dem tonnenschweren Stein, der deinen Namen trägt, der sich immer weiter in mich hineinfrisst. Dies ist die schlimmste Folter, die ich hier unten in Gefangenschaft erleiden muss. Weder der Ausspruch des Todesurteils noch der Anblick des Folterknechts oder der Geschmack von zappelnden Ratten in meinem Mund vermögen mich so sehr zu plagen wie du. Dein Name dröhnt in meinen Ohren, lässt sie immer stärker schwingen, bis sie den Schall nicht mehr ertragen. Deine Schönheit sticht mir die Augen aus, selbst wenn ich an dieser nur im Traum vorübergehe und die Erinnerung an den Geschmack deiner Haut lässt mich die Bitterkeit all der anderen Dinge nur schwer ertragen. Mit fest verschlossenem Mund beiße ich mir auf die Zunge, um mit dem Geschmack des Blutes die Sehnsucht zu stillen. Die Augen stets weit geöffnet, knie ich, mir die Ohren zuhaltend, in einer Ecke der Zelle, um dem Traum von dir zu entgehen und den Namen nicht zu hören, der mir von den kalten Wänden um die Ohren peitscht wie ein Wirbelsturm.
Evangeline … Wann kommst du, um mich zu erlösen? Wann befreist du mich? Wie lange muss ich diese Qual noch ertragen?
Die Augen fallen mir zu und ich blicke direkt in dein Gesicht. Sofort schlägt das verloren geglaubte Herz in meinem Hals, lässt meinen Atem stocken. Ein wunderschöner Glanz aus feinstem Smaragd, umrundet von einem tiefschwarzen Meer aus Seide, gekrönt von dunkelroten Pforten in die höchsten Ebenen des Paradieses. Ich rieche den Duft von Zitronenmelisse und Rosenwasser, verschwimme in dem Traum, schreite auf das purpurne Portal zu, das sich mir bereitwillig öffnet und mir einen Moment der unangefochtenen Glückseligkeit beschert.
Du hast mich das Leben gelehrt. Den Genuss, im Sommer auf dem Felde zu tanzen, wonach die Arbeit verwunderlich leicht von der Hand ging. Die Kunst, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen und herzlich zu lächeln. Dieselbe Liebe selbst für den aufzubringen, der Vergebung nicht verdient. Das, was du für mich empfindest, finde ich für mich selbst nicht wieder. Dass du mich hier zurücklässt, muss wohl ein Irrtum sein, jedoch wünschte ich mir, es wäre dein Wille, um mich zu lehren, dir kein Leid mehr anzutun, nicht aus Kummer, nicht aus Eifersucht und auch nicht aus Liebe.
Liebste, ich wünschte, du könntest mich heute schon befreien, doch ich harre aus, beweise dir, deiner würdig zu sein. Obgleich ich wohl nie eines Wesens würdig war, dessen Züge sich so makellos auch in seiner Seele spiegelten.
Diesen Brief als letzten Beweis für meine tiefste Zuneigung, deren Empfindung mich bis ins Mark erschüttert und mich zu verschlingen droht, übersende ich dir und schiebe ihn mit den tauben Fingerspitzen durch den feinen Fensterbruch hinaus in die dunkle Finsternis, in der du auf mich wartest.
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„Am heutigen Tage wird das Todesurteil an diesem Manne vollstreckt, der den grausamen Mord an der selbstlosen Evangeline und ihrem Ehegatten gestand und somit seine Schuld zu sühnen hat.“
Ich hatte es ja schon geschrieben, wie sehr mir die feinen und phantasievollen Formulierungen gefallen. Herrlicher Liebesbrief und ein Bereicherung für diese Sammlung hier in der Schreibkommune.