Die Kinder Kains (2/3)

Trotz meines dicken Wintermantels war ich binnen weniger Minuten fast völlig durchgefroren. Der Wind heulte und fauchte wie eine hungrige Bestie.

Tiph bemerkte mein Zittern und hakte sich bei mir ein. Sie trug nicht einmal einen Pullover. Das gewaltige Schwert hielt sie locker in der linken Hand.

In diesem Moment ging mir erst auf, wie mächtig dieses junge Mädchen sein musste. Unsere Begegnung hatte sie kurz wie einen normalen Menschen wirken lassen.

Ich darf sie nicht falsch einschätzen. Sie könnte mich mit einer einzigen Handbewegung zu Asche verbrennen.

Sehnsüchtig richtete ich meinen Blick auf eine ferne Ansammlung warmer Lichter. Tiph führte mich immer weiter in die Wildnis der Alpen. Als der Schnee mir bis zur Hüfte reichte, hob sie ihr Schwert und zerschmolz ihn mit einem mitfühlenden Lächeln. Ich lächelte ebenfalls. Meine Hände zitterten in ihrer Gegenwart ohne Unterlass.

Dunkelheit breitete sich über den verschneiten Gipfeln aus, als wir eine versteckte Grotte erreichten.

Ich hielt überrascht inne. Ein schmuckloses Tor aus schroffem Stein versperrte den Eingang. Die zerklüfteten Felsen machten es unmöglich, sich der Grotte von oben zu nähern. Ein winziges Loch klaffte in der Tür. Uralte Zeichen glommen schwach im fahlen Mondlicht.

Ich wich unwillkürlich zurück. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Ich taumelte und verlor beinahe das Gleichgewicht. Mit einem Mal loderte sengender Schmerz in meiner Brust.

Er verschwand, als Tiphareth meine Schulter berührte. Sie übte sanften Druck auf meine Haut aus.

„Keine Angst“, sagte sie mit fester Stimme. „Dieser Ort ist nicht mehr gefährlich.“ Sie hob lächelnd ihr Schwert. „Gehen wir nach drinnen.“

Die Klingenspitze passte haargenau in das dunkle Loch. Tiph drehte ihre Waffe wie einen Schlüssel und plötzlich erbebte die Erde. Das Steintor schob sich langsam zur Seite und öffnete einen Spalt, der für uns gerade groß genug zum Durchschlüpfen war.

Im Inneren herrschte überraschende Wärme. Ich zog den Mantel aus und suchte nach einer Lichtquelle. Ohne viel Federlesens rammte Tiph ihr Schwert in den steinernen Boden. Weitere Einbuchtungen verrieten, dass sie das nicht zum ersten Mal tat. Die Klinge erglühte und warf mit ihrem rötlichen Lichtschein unheimlich verrenkte Schatten an die Wände.

„Setz dich.“ Tiph ließ sich auf dem Boden nieder und holte zwei Wasserflaschen hervor. Dankbar nahm ich sie an und trank in gierigen Zügen. Tiph musterte mich wie eine Mutter ihr Kind.

„Siehst du die Tür dort hinten?“ Tiph wies auf ein gewaltiges Steintor. Es wirkte neuer als die restliche Felsformation. Auf den zweiten Blick erkannte ich matt schimmernde Adern im Gestein. Sie glühten in derselben Farbe wie Tiphs Schwert.

„Gehen wir da auch hinein?“ Ich fragte mich bereits, was sich wohl dahinter befand.

„Nein!“ Tiphs Stimme klang scharf wie ein Messer. „Dieses Tor darf niemals geöffnet werden. Das ist das einzige, was du darüber wissen musst.“ Sie seufzte und holte tief Luft. Ihre Augen reflektierten das Licht des Schwerts.

„Das ist deine letzte Chance, David. Du musst dich nicht mit diesem Wissen belasten. Du kannst noch einen Rückzieher machen.“ Sie lächelte. „Eine Schneewanderung mit mir wäre doch auch einen Artikel wert, oder nicht?“

Einen Moment lang überwältigte mich die Versuchung schier. Ich spürte auf seltsame Weise die abgrundtiefe Dunkelheit, die hinter dem Steintor lauerte. Das Gefühl rief alte Erinnerungen wach. Ich musste schlucken.

Nein.

Ich atmete tief durch und sah Tiph direkt an.   

„Ich darf nicht mehr davor weglaufen“, erwiderte ich. „Ich muss die Wahrheit erfahren, egal wie schmerzhaft sie ist.“

Tiphareths Miene war nicht zu deuten. Wir verharrten in Stille, bis sie endlich seufzte und sich erschöpft gegen die Felswand lehnte.

„Wie du willst. Ich erzähle dir die Wahrheit.“

Mein Herz wollte beinahe zerspringen. Ich nickte. Ich hing an ihren Lippen.

„Hier, in dieser Grotte, hat alles begonnen“, murmelte Tiph leise. Es ist fünf Jahre her – ich kann mich trotzdem noch genau daran erinnern.“ Sie hielt kurz inne und starrte ihr Schwert an. Das Licht der Klinge flackerte wie ein Lagerfeuer.

„Anders als Binah und Chessed stamme ich nicht aus einer anderen Welt“, erklärte sie. „Ursprünglich war ich ein normaler Mensch. Ich hatte mich verirrt und kam zufällig hierher. Vor dem Grotteneingang türmten sich Skelette – davor lag ein Schwert.“ Sie wies mit dem Kinn auf ihre Waffe. „Decim.“

Der Name hallte machtvoll von den steinernen Wänden wider. Ich erschauderte. Respektvoll neigte ich den Kopf.

„Ich ergriff Decim und öffnete damit den Eingang.“ Sie schluckte. „Das war mein größter Fehler.

Seit Urzeiten erzählen sich die Bergleute Geschichten über einen uralten, bösen Geist, der im Inneren der Berge wohnen soll. Manche wurden aufgeschrieben, manche gingen verloren, die meisten werden nur noch flüsternd von sterbenden Generationen gehütet. Die Alten unter ihnen kennen das Geheimnis nur noch aus Erzählungen der Großeltern ihrer Großeltern – aber die Vorstellung blieb wach. Und soll ich dir etwas verraten?“ Ihr Mund kräuselte sich zu einem bitteren Lächeln. „Sie sind alle wahr.

Ich öffnete die Grotte und befreite dadurch den, den wir nur den alten Mann auf dem Berg nennen. Ich will nicht ins Detail gehen, Worte können ihn nicht beschreiben. Er entkam und ich lag mit dem Schwert im Schnee. Der alte Mann fuhr in den Körper eines Wanderers, der sich genau wie ich verirrt hatte und zufällig des Weges kam.“

Sie holte tief Luft. Die nächsten Worte schienen ihr besonders schwerzufallen.

Der Wanderer wurde zu einer Hülle für den alten Mann. Ich wollte mit dem Schwert gegen ihn kämpfen, aber er warf mich einfach zu Boden und … und …“ Ihre Stimme brach ab. Eine Träne glitzerte einen Moment lang in ihrem rechten Augenwinkel, dann blinzelte sie sie fort.

„Er tötete mich.“

Ich starrte sie entsetzt an. Ich wollte etwas sagen, aber meine Worte versagten. Diese Erzählung tauchte in keinem offiziellen Bericht auf, trotzdem kam sie mir vage vertraut vor.

„Der alte Mann auf dem Berg löste die Eklipse aus. Er dehnte die hereinbrechende Nacht. Er wollte sie ewig währen lassen. Im nächsten Dorf schlug er dann als erstes zu. Er verwandelte die Bewohner in seine abscheulichen Diener und sie zogen ihrerseits aus und verbreiteten seinen Fluch wie eine Krankheit.“

Ich nickte. Das war allgemein bekannt.

Tiph lächelte schwach. „Du weißt, was als nächstes passierte. Die Menschheit wurde von diesen Kreaturen überrannt. Überall auf der Welt entstanden Fronten. Die Welt stand plötzlich am Abgrund – nur weil ich diese Pforte aufstoßen musste.

Meine nächste Erinnerung setzt in der endlosen Kathedrale ein, Sagt dir der Begriff etwas?“

Ich schüttelte den Kopf. Das Wort kam mir auch vertraut vor, aber ich konnte es nicht zuordnen.

Sie nickte wissend. Sie schien jeden meiner Gedanken zu kennen.

„Du musst nicht mehr darüber wissen. Die endlose Kathedrale steht am Rande unserer Realität. Kein Mensch hat sie je betreten oder gesehen – außer mir.“ Sie schluckte. „Ich erwachte. Chessed und Binah beugten sich über mich. Plötzlich war ich als Engel wiedergeboren und hatte eine Mission. Ich musste die Welt retten – mithilfe der beiden.“

Sie lächelte traurig. „Das ist alles.“

Ein unbeschreibliches Gefühl regte sich in mir. Meine Zähne schmerzten, so fest presste ich sie aufeinander.

„Wer war dieser Wanderer, Tiphareth?“, stieß ich mühsam hervor.

Sie zuckte zusammen, als ob ich sie geschlagen hätte.

„David, das tut doch nichts zur Sache …“

Das Gefühl steigerte sich zu unerträgliche Schmerzen. Ich kauerte mich zusammen. Wie besessen rückte ich von Decims warm leuchtender Klinge ab. Die Entfernung linderte meine Qual.

„Tiphareth, bitte!“, stieß ich hervor. „Bitte!“

Tiphareth litt ebenso wie ich. Ich verharrte mit flehendem Blick an Ort und Stelle. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. Unsere Schatten wirkten wie grausam verrenkte Ungeheuer.

„Na gut“, flüsterte sie schließlich. Ihre Augen glommen wie Sonnen.

„Du warst der Wanderer, David.“

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