Korrekturen 22

22. Teil – Das Ende des Zeitvektors (1/3)

Es war ihnen allen klar, dass sie hier nicht bleiben konnten. Die Sicherheitskräfte würden ihre Anstrengungen, ihre Maschine aufzubrechen, sicherlich bald erhöhen.
»Unser Ziel ist das Jahr 2008«, sagte Giwoon. »Bis dorthin sollte uns der Temporalprozessor noch bringen können.«
»Ins Jahr 2008?«, fragten Khendrah und Thomas. »Woher wisst Ihr …?«
»Später«, sagte Giwoon, der bereits dabei war, ihre Abreise aus dem Jahre 2110 vorzubereiten.
»Bitte setzt euch und schnallt euch an. Ich weiß nicht, ob die Maschine noch eine ruhige und sanfte Reise durch die Zeit gewährleisten kann.«
Er wartete noch, bis alle Sicherheitsgurte eingerastet waren, dann legte er seine Hand auf die Steuerkugel und aktivierte den Slider. Die Geräusche, die dabei entstanden, sprachen Bände. Es war sowohl Giwoon, als auch Fancan klar, dass etwas nicht in Ordnung war. Trotzdem versank die Realität, die sie vorher noch über die Bildschirme im Innern der Maschine beobachten konnten, im Nebel. Sie waren auf der Reise. Es war ihnen klar, dass es nur eine kurze Reise werden würde, doch bereits wenig später ertönte ein Alarm.
Aufgeregt checkte Giwoon, die Steuerung.
»Festhalten, wir stürzen in die Realität zurück!«, brüllte er noch – dann war es auch schon geschehen. Auf den Bildschirmen tauchte das Bild eines ausgedehnten Waldes auf und im nächsten Moment stürzte der Slider in die Baumkronen hinein. Giwoon versuchte noch, etwas dagegen zu unternehmen, doch die Maschine schlug bereits auf dem Waldboden auf. Sie wurden hart in ihre Gurte gepresst und für einen Moment hatten sie das Gefühl, sie würden keine Luft mehr bekommen. Dann lag der Slider still.
»Was ist geschehen?«, fragte Khendrah, nachdem sie ihren Gurt gelöst hatte und sich vergewissert hatte, dass sie sich nicht ernsthaft verletzt hatte.
»Was soll schon geschehen sein?«, fragte Giwoon. »Es ist genau das passiert, was ich befürchtet habe: Dieser Slider wird uns nicht mehr durch die Zeit transportieren können.«
»Und was tun wir dann jetzt?«, wollte Thomas wissen, »Gibt es eine Möglichkeit, das Ding zu reparieren?«
Giwoon schüttelte den Kopf.
»Dazu fehlen uns Ersatzteile, deren Herstellung in dieser Epoche einfach nicht möglich ist.«
Er wandte sich seinen Instrumenten zu und schaltete daran herum. Nach einer Weile hellte sich seine Miene auf.
»Ganz so schlimm ist es nicht«, stellte er fest. »Der Slider ist noch immer flugtauglich und … wir befinden uns im Jahre 2014. Das reicht noch völlig aus, um unseren Auftrag noch zu erfüllen.«
»Auftrag?«, wunderte sich Khendrah. »Von was für einem Auftrag reden wir denn hier?«
Giwoon und Fancan sahen sie einen Moment schweigend an, dann brach Fancan das Schweigen:
»Wir sind im einhundertzwölften Jahrhundert aufgebrochen, um den Zeitvektor der obersten Behörde zu vernichten.«
»Wie bitte?«, fragte Khendrah entgeistert. »Seid Ihr vollkommen übergeschnappt? Und überhaupt: Wie wollt Ihr das anstellen? Der Vektor erstreckt sich über unzählige Zeitalter. Er ist unzerstörbar.«
»Das, mein Schatz, ist er sicherlich nicht«, entgegnete Fancan. »Das Zeitsystem des Vektors benötigt ungeheure Mengen an Energie, wie du dir sicher vorstellen kannst. Wir haben das immer einfach als naturgegeben hingenommen, weil es eben immer schon so war, aber Giwoon und seine Leute haben ermittelt, dass es eine Vorrichtung am unteren Ende der kontrollierten Zeit gibt, die ihre Energie für den gesamten Vektor direkt aus der Sonne bezieht. Wenn wir diese Vorrichtung zerstören, wird sich der Vektor Stück für Stück auflösen.«
Khendrah stand der Mund vor Staunen weit offen. Sie konnte nicht glauben, was ihre Freundin ihr da erklärte.
»Das kann doch nicht euer Ernst sein!«, protestierte sie. »Es würde alles im Chaos versinken.«
»Das ist nicht richtig«, stellte Giwoon klar. »Anders herum wird ein Schuh daraus. Ihr habt das Chaos erst möglich gemacht. Wir haben nur eine Chance: Die Vernichtung des Vektors, um der Zeit Gelegenheit zu geben, sich zu erholen.«
Khendrah schüttelte immer wieder den Kopf.
»Ihr könnt das System nicht vernichten«, wandte sie wieder ein. »Es arbeiten sicherlich viele Hunderttausend Menschen für die Oberste Behörde. Was würde mit ihnen geschehen, wenn die Energieversorgung gekappt wird. Würden sie nicht sterben?«
»Nein Khendrah, das werden sie nicht«, beruhigte sie Giwoon. »Das war eines unserer Hauptanliegen, dieses Projekt unblutig abwickeln zu können. Die Energie wird von der Sonnenzapfanlage ganz weit unten in der kontrollierten Zeit eingespeist und fließt dann entlang der Zeitlinien in die Zukunft. Jede aktive Abteilung entnimmt nur so viel Energie, wie sie benötigt, um das System zu stabilisieren. Wenn die Quelle versiegt, beginnt der Vektor von unten her, sich aufzulösen. Sobald das geschieht, wird es einen Alarm geben, der bis in die ferne Zukunft reichen wird. Jeder wird noch die Gelegenheit haben, in die Realität zu entkommen, bevor es zu spät ist. Der Prozess wird sich über Wochen hinziehen, besagen unsere Berechnungen.«
»Und wenn Jemand nicht rechtzeitig geht?«, fragte Khendrah.
»Dem ist auch nicht zu helfen«, antwortete Giwoon knapp. »Dafür tragen wir nicht die Verantwortung. Bist du nun dabei, oder nicht?«
Er blickte Khendrah forschend und erwartungsvoll an. Sie wandte sich Hilfe suchend an Thomas.
»Mich darfst du nicht fragen«, sagte dieser. »Ich habe noch nie viel davon gehalten, die Zeit zu manipulieren. Du erinnerst dich? Ursprünglich haben wir uns kennen gelernt, weil du mich töten wolltest.«
»Jetzt reite nicht wieder darauf herum!«, schimpfte Khendrah. »Es ist einfach schwer für mich, dass alles, an das ich bisher geglaubt habe, plötzlich infrage gestellt wird. Angenommen, wir schaffen es und können diese Sonnenzapfanlage wirklich zerstören, was wird dann geschehen? Was wird mit uns geschehen? Könnte nicht einfach ein Reparaturtrupp aus dem Vektor hier auftauchen und den Schaden beheben?«
»Hey!«, rief Fancan und wandte sich an Giwoon. »Khendrah hat nicht ganz Unrecht. Wenn hier ein Reparaturtrupp auftaucht, ist unsere ganze Arbeit vergebens und außerdem hätten wir auch noch den Sicherheitsdienst der Obersten Behörde am Hals.«
Giwoon lachte leise, was Fancan ärgerlich machte.
»Giwoon!«, schimpfte Fancan. »Das ist nicht zum Lachen! Wenn der Sicherheitsdienst hier auftaucht, sind wir geliefert. Sie würden uns ohne Weiteres liquidieren.«
Giwoon wurde wieder ernst.
»Ja, das ist ja auch ihre liebste Lösung«, sagte er bitter. »Wenn es Probleme gibt, muss eben Jemand sterben. Ihr wollt wissen, warum ich so gelacht habe? Das kann ich euch erklären: Ich habe von der Basis im Jahre 6000 aus meine Recherchen betrieben und dabei herausgefunden, dass die Oberste Behörde vor vielen Relativjahren eine Zeitkorrektur beschlossen hatte, die unter anderem dazu geführt hat, dass die Technologie des Sonnenzapfens verloren gegangen ist.«
»Wie bitte?«, fragte Fancan, »Das kann doch nicht sein. Wenn die Technologie nicht mehr verfügbar ist, kann die Anlage auch nicht installiert worden sein. Das wäre ein Paradoxon.«
»Ja, das wäre es, wenn nicht die Technologie vorher von der Obersten Behörde in den Vektor importiert worden wäre«, sagte Khendrah. »Das machen sie immer so. Im Vektor gelten andere Gesetze. Eine einmal importierte Technologie kann von uns Zeitagenten oder den Technikern angewendet werden, ohne, dass es zu einem Paradoxon kommen kann. Insoweit stehen wir noch immer vor dem Problem, dass ein Reparaturtrupp hier erscheinen könnte.«
»Nein«, sagte Giwoon schlicht. »Und zwar, weil ich die Daten in der zentralen Datenbank gelöscht habe. Das gleiche habe ich mit den Backups gemacht. Dann gab es noch die Kristallspeicher im 7500. Dort lagert all das alte Wissen aller Zeitalter. Was soll ich sagen? In meiner Eigenschaft als Techniker hatte ich uneingeschränkten Zugriff auf die Kristallspeicher. Vor längerer Zeit war ich dort und sorgte dafür, dass es einen kleinen Brand in einem der Lager gab. Vielleicht habt Ihr davon gehört. Die Hitze war so groß, dass sämtliche Kristallspeicher in diesem Raum unbrauchbar wurden. Ratet mal, welche Informationen dort gelagert haben.«
»Dann haben sie wirklich keine Möglichkeit, das System wieder in Gang zu bringen, wenn wir es zerstören«, stellte Khendrah fest.
Giwoon hielt ein kleines, handliches Gerät hoch.
»Das hier wird das Schicksal des Zeitvektors besiegeln«, sagte er. »Wir müssen es so nah wie möglich an die Sonnenzapfanlage bringen und dann zünden. Die freigesetzte Energie wird einen Impuls erzeugen, der jedes Gerät in einem bestimmten Umkreis zerbersten lassen wird.«
»Tolle Idee«, meinte Thomas. »Was willst du tun, wenn die Anlage irgendwo inmitten einer Stadt installiert wurde?«
»Das wird nicht der Fall sein«, machte Giwoon klar. »Man hatte kein Verlangen danach, dass diese Anlage gefunden wird. Zugänglich ist sie nur in den wenigen Jahren nach ihrer Installation und das ist in den ersten Jahren des einundwanzigsten Jahrhunderts. Wir können von Glück sagen, dass wir noch innerhalb dieser Zeitspanne gelandet sind, sonst könnten wir unseren Plan abschreiben. Ich vermute, dass wir uns irgendwo im Hochgebirge umsehen müssen.«
Er drückte eine Taste an dem Gerät, worauf es in Abständen zu piepsen begann. Ein kleiner Monitor an seiner Oberseite erhellte sich.
»Hast du dieses Ding jetzt etwa scharf gemacht?«, wollte Fancan wissen.
»Nein, ich habe nur die Suchfunktion aktiviert. Unsere Techniker haben es so konstruiert, dass es sein Ziel selbst suchen kann. Wir müssen nur dem Signal folgen, wenn die Suche erfolgreich ist.«
Gebannt starrten sie alle auf den kleinen Monitor auf dem Gerät in Giwoons Hand. Ein kleiner, sich drehender Zeiger signalisierte, dass es noch dabei war, seine Umgebung zu scannen.
»Wo befinden wir uns denn eigentlich selbst?«, fragte Thomas. »Ich habe zwar gesehen, dass wir in einen Wald gestürzt sind, aber wo ist dieser Wald?«
»Das haben wir gleich«, sagte Giwoon, »sie hatten damals bereits ein System, das ihnen eine Positionsbestimmung auf dem Planeten ermöglichte. Es war zwar recht primitiv, aber es sollte uns zumindest sagen können, wo wir uns ungefähr befinden.«
Er drehte an der Steuerkugel herum. Für Fancan war nie zu erkennen, was Giwoon da eigentlich genau tat, denn gleich, was er erreichen wollte, er drehte immer an dieser Kugel herum. Für sie machte es keinen Unterschied, ob er den Flug kontrollierte, oder nur die Kabinenbeleuchtung regulierte. Mit einem Mal wechselte die Anzeige auf der Kugel. Ein Abbild der Erde wurde angezeigt. Darauf blinkte ein kleiner roter Punkt.
»Da sind wir«, sagte Giwoon triumphierend und zeigte mit dem Finger auf den Punkt, »zentralafrikanischer Kontinent. Die Gegend hier ist selbst in dieser Zeit noch sehr einsam und verlassen.«
»Und wo müssen wir nun hin?«, wollte Khendrah wissen. »Wenn der Slider noch flugtauglich ist, sollten wir vielleicht bald von hier verschwinden, bevor Neugierige hier auftauchen.«
»Ich glaube zwar nicht, dass wir bei unserer Bruchlandung Zuschauer hatten, aber wir sollten uns wirklich nicht zu lange an einem Fleck aufhalten.«
Giwoon ließ die Aggregate für den atmosphärischen Flug anlaufen. Ein leises Summen erfüllte die Kabine.
»Schaut mal!«, rief Fancan, die das kleine Ortungs- und Zerstörungsgerät in der Hand hielt. »Jetzt zeigt der Monitor etwas an. Ich weiß nur nicht, was es bedeutet.«
Giwoon schaute darauf.
»Das sind Flugvektoren und Distanzdaten. Ich werde sie in die Steuerung eingeben, dann kann die Steuerkugel uns genau zeigen, wo unser Ziel liegt. Diktiere mir bitte mal die Zahlen, ja?«
Fancan gab sie ihm langsam und exakt durch, während Giwoon sie in das Terminal eingab. Anschließend zeigte die Steuerkugel eine gelbe Linie an, die vom roten Punkt ausging, der ihren Standort bezeichnete. Interessiert verfolgten sie diese Linie mit ihren Blicken und endeckten ihr Ende mitten im Himalaja.
»Wie ich es gesagt habe!«, rief Giwoon triumphierend. »Der Himalaja! Ein Zentralmassiv – nur dort können sie die Energieversorgung installiert haben, denn dort schauen nicht oft Menschen vorbei und man kann davon ausgehen, dass der Himalaja auch in vielen Tausend Jahren noch existieren wird.«
»Sag mal Giwoon«, meldete sich Thomas zu Wort, »wie kann ein so kleines Ding über so eine gewaltige Strecke hinweg ein Kraftwerk orten, dass sich inmitten eines Gebirges befindet? Das ist doch nicht möglich.«
Giwoon drehte sich verblüfft zu Thomas um.
»Natürlich kann es das«, sagte er verständnislos, doch dann fiel ihm etwas ein.
»Ach, ich weiß, was du meinst. In den unteren Jahrhunderten – vielleicht sogar in den unteren Jahrtausenden – nutzte man überwiegend elektrische Energiequellen. Wenn es eine Anlage wäre, die mit Elektrizität arbeitet, könnten wir sie in der Tat nicht orten.«
Er deutete auf die Darstellung des Himalaja und tippte mit dem Finger auf die Steuerkugel.
»Mit elektrischer Energie könnte man niemals ein Gebilde wie den Vektor aufrecht erhalten. Dazu braucht es schon eine weitaus effektivere Energiequelle. In diesem Fall nutzte man noch die in meiner Zeit bereits veraltete Quarkstrom-Technologie und die erzeugt ein Feld, das man sogar aus noch viel größerer Entfernung anmessen kann.«
»Quarkstrom-Technologie«, sagte Thomas ungläubig, »wenn du mich verscheißern willst, dann sag es besser gleich.«
»Ich will dich nicht veralbern«, verteidigte sich Giwoon, »nur, weil man sich zu deiner Heimatzeit noch keine praktische Nutzung der Quarks vorstellen konnte, muss es doch nicht heißen, dass spätere Zeitalter keine bahnbrechenden Entdeckungen mehr machen können. In meiner Heimatzeit versorgen wir uns mithilfe der Cherts mit Energie. Das ist sicher und umweltfreundlich.«
»Was sind Cherts?«, fragte Khendrah, »Ich bin zwar keine Physikerin, aber ich habe noch nie von so etwas gehört.«
Giwoon winkte ab.
»Lassen wir das«, sagte er, »ich denke, die Cherts sind bis zum oberen Ende des Vektors noch überhaupt nicht entdeckt worden.«
Er hielt wieder das Gerät hoch, welches das Ende des Vektors bedeuten sollte.
»Das Ding hier arbeitet mit Cherts«, erklärte er, »es wird niemals eine neue Energiequelle bekommen müssen. Es bezieht seine Energie direkt aus dem kosmischen Gravitationsfeld.«
»Mir wird das jetzt zu hoch«, gab Thomas bekannt.
»Meinst du, mir ginge es anders?«, fragte Khendrah und sah zu Fancan hinüber, die ebenfalls nur die Schultern zuckte.
»Vielleicht sollten wir allmählich aufbrechen«, schlug sie vor.
»Genau das werden wir jetzt auch tun«, sagte Giwoon. »Symeen, meine Mutter hatte mich nämlich davor gewarnt, dass es in dieser Zeit bereits eine recht einfache, aber effektive Methode gibt, Flugkörper zu orten. Sie strahlten ein Signal ab und wo es reflektiert wurde, musste zwangsläufig ein Flugkörper sein.«


Der nächste Teil des Romans erscheint am 12.10.2019

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