Die Wölfe von Asgard – In die Enge getrieben (2/2)

»Vorwärts!«, der Mann stieß Deila mit dem Schaft seines Speeres unsanft in den Rücken. »Der Jarl wird sich schon ergeben, wenn er erst einmal seine in Tränen aufgelöste Tochter vorgeführt bekommt. Welcher Vater würde das nicht tun?« Er stieß ein bellendes Lachen aus. 
Nur einer, dachte Deila grimmig, hütete jedoch ihre Zunge. Sollte der Mann erfahren, dass Islav vermutlich äußerst wenig an ihrem Fortbestehen lag, war ihr Leben ohnehin verwirkt. 
Er führte sie über das Deck und stieß sie dann grob über die Reling.
Ihre Hände hatte er schmerzhaft eng mit einem Seil zusammengebunden, außerdem griff er mit seinen Pranken in ihre Haare, damit sie nicht fortrennen konnte.
Nicht, dass Deila vorgehabt hätte zu fliehen. Wenn sie schon sterben musste, so wollte sie doch zuerst sehen, wie ihr Vater ins Verderben stürzte. Sein Tod sollte das köstlichste werden, dass sie in ihrer kurzen Lebensspanne je erblicken durfte.
Je tiefer sie in den Wald schritten, desto eindringlicher vernahm sie den Schlachtenlärm. 
Sie haben also schon damit begonnen, sich gegenseitig umzubringen.
»Hoffen wir, dass von deinem Vater noch etwas übrig ist«, gluckste der Ustenströmer verzückt. »Ansonsten werde ich mich bei dir dafür bedanken, dass ich den ganzen Spaß verpasst habe.« Er lachte laut.
Deila hörte ihm nicht wirklich zu. Vielmehr versuchte sie fieberhaft, die verschiedenen Eindrücke aus der Schlacht in sich aufzunehmen.
Der Geruch von Feuer biss sich durch ihre Nasenflügel und flackernde Schatten tanzten zwischen den Bäumen hervor. Eindringliche Rufe, Schreie und Verwünschungen hallten durch die Nacht, nur das schrille Aufeinandertreffen der Waffen schaffte es, das Stimmengewirr gelegentlich zu durchdringen.
Das Zeltlager brennt, womöglich dichter Rauch. Außerdem ist die Schlacht noch nicht entschieden. Dafür kämpfen noch zu viele Männer gegeneinander. Wenn ich es schaffe, diesen Hornochsen loszuwerden, finde ich vielleicht eine Möglichkeit, mich in die Schlacht zu stürzen, um wenigstens ein ruhmreiches Ende erwarten zu dürfen.
Doch der Griff des Mannes blieb bis sie die Lichtung erreichten gnadenlos. Er zerrte sie mit sich wie einen räudigen Köter und als sie im Zeltlager ankamen, stieß er ihr abermals den Schaft des Speeres in den Rücken.
Deila taumelte, stürzte jedoch nicht. Ihr Blick wanderte durch das Lager und unwillkürlich formte sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper.
Niedergebrannte Zelte und reglose Leichen bedeckten die Lichtung. Beißender Rauch drang in ihre Nase und ließ sie würgen. 
Der Mann überging sie einfach. »Haltet ein, Jarl Islav! Ich bringe Euch Eure Tochter. Legt die Waffen nieder oder sieht mit an, wie ich sie von oben bis unten aufschlitze!«, er brüllte so laut, dass Deila vor Schreck zusammenfuhr.
Auf der gesamten Lichtung erstarrten die Kämpfer als wären sie plötzlich von Frost durchzogen. Lauernde Blicke richteten sich auf den Neuankömmling. Niemand senkte die Waffen.
»Das ist eine Lüge! Sie wollen uns täuschen!« 
Islavs Stimme drang durch den wabernden Rauch, doch Deila vermochte es nicht, ihn irgendwo dort drin auszumachen.
Eine letzte Demütigung. Deila die Wertlose. Deila das Pferd.
Ungewollt überkam sie bei diesen Gedanken ein Schluchzen. 
»Nun sag schon was«, knurrte der Ustenströmer sie an. »Sag ihm, wie gern du ihn hast.«
»Lügen sind etwas für Feiglinge«, zischte Deila zurück. 
Er griff in ihre Haare und zerrte sie schmerzhaft zurück. 
Die Nordmaid spürte kalten Stahl an ihrer Kehle aufsetzen. 
»Sprich. Oder du wirst es nie wieder können, das versichere ich dir«, raunte er in ihr Ohr. 
Deilas Herz pochte wie wild. Kaum fähig einen klaren Gedanken zu formen, rief sie: »Vater? Ich bin es. Deila. Deine Zweitgeborene.«
Schritte näherten sich. 
Durch den dichten Rauch konnte sie kaum etwas erkennen. Dann jedoch manifestierte sich eine Gestalt vor ihnen. 
Islav war kaum noch mehr als ein Schatten seiner Selbst. Blut sickerte aus einer Wunde an der Schulter und seine Haut hatte einen ungesunden Grauton angenommen. Seine traurigen Augen waren von schwarzen Ringen umrahmt und sein Blick schien leer und trüb. 
»Vater«, wisperte Deila entsetzt. 
Islav sah aus wie ein wandelnder Toter. Sein kranker Blick ruhte für einen Moment abschätzend auf ihr, dann verformte sich sein Gesicht zu einer wahnhaften Grimasse. »Ich habe nur eine Tochter, du Lügnerin«, krähte er mühselig hervor. Mit diesen Worten stieß er sein Schwert in Deilas Unterleib. 
Sie schrie auf vor Schmerz. Es war als würde sie innerlich gezweiteilt. Warmes Blut floss aus der Wunde und besudelte ihre Kleidung. Deila stürzte keuchend zu Boden, die Welt schlug über ihr zusammen. Aus dem Augenwinkel registrierte sie, wie ihr Vater den fassungslosen Ustenströmer mit einem Seitwärtshieb enthauptete.
»Eine List! Tötet sie alle!«, schrie er aus voller Kehle. 
Brüllend stürzten sich die Skiringssaler auf die verdutzten Ustenströmer und es gelang ihnen, einige von ihnen niederzustrecken, bevor der Gegner sich gefangen hatte.
Er hat mich geopfert, nur für einen kleinen Vorteil.
Wogen der Pein brachen über sie hinein. Die Wunde pochte wie Hammerschläge in ihre Seite. Als sie die Hand darauf legte, stellte sie fest, dass sie viel zu viel Blut verlor. 
Ich verfluche dich, Vater. Mögest du den grausamsten aller Tode sterben.
Keuchend rollte sie sich auf den Rücken, jede Bewegung ließ sie schwerfällig ächzen. Dann schloss sie die Augen. Eine bleierne Schwere hüllte sie ein, machte sie taub und entzog ihr sämtliches Empfinden. 
Stimmen geisterten durch ihren Kopf, raunten und flüsterten.
Sterbe ich?
Deila schluckte. Die Angst schmiegte sich an ihre Brust wie ein Kätzchen. Die Stimmen veränderten sich, nun schienen sie zu summen. Selbst der Schlachtenlärm wich ihrem dröhnenden Gesang.
Und er formte Worte. Worte, die Deila zu verstehen glaubte:

Grauer Schorf,
tristes Kleid.
Ich bin fort,
wurd‘ entzweit. 

Stummes Wort,
Hela weint.
Dieser Ort
kennt mein Leid.

Ihre Brust fühlte sich eiskalt an. Als sie die Hände darauf legte, stellte sie fest, dass sie zitterte. Deila schaffte es nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Stimmen überwältigten sie:

Nicht vermisst,
nicht beklagt.
Nimm mich mit,
neuer Tag.

Messers Stich.
Zorneswahn.
Erheb dich,
Valkyra.

Deila atmete ruhig. Sämtlicher Schmerz, der in Wogen durch ihren geschändeten Körper pulsierte, manifestierte sich zu einem Gefühl, das sie mit einer ungeahnten Stärke überkam: Wut. Unsagbare Wut. Eine Wut, groß genug, um diese Welt zu vertilgen. Und nun würde sie diese Wut entfesseln. Sie atmete ein letztes Mal tief ein und aus, völlig gefangen in diesem bittersüßen Rausch. Dann öffnete sie langsam die Augen und lächelte.

***

Aegir warf sich mit einem animalischen Aufschrei gegen die Holztür.
Er konnte nicht genau sagen, ob sie unter seinen kärglichen Versuchen auch nur einen Deut nachgegeben hatte. Ebenso wenig, wie er sich darüber im Klaren war, wie lange die Kämpfe bereits andauerten. Gefühlt musste es eine halbe Ewigkeit her sein. Wieder versuchte er, seine Schulter gegen das Holz zu stemmen, doch er besaß so wenig Spielraum, dass es aussichtslos erschien. 
Aber er konnte nicht aufgeben. Nicht jetzt, wo so viel auf dem Spiel stand. Nach einem weiteren erfolglosen Versuch überkam ihn das Gefühl, die Tür lache ihn aus. 
»Halt die Klappe!«, knurrte er sie an. Doch sofort kam er sich komisch dabei vor, mit einem Stück Holz zu sprechen.
Zersetzt sich langsam dein Verstand, altes Haus? Denk lieber nach, wie du hier lebendig raus kommst.
Doch je fieberhafter er nach einem Ausweg suchte, desto trüber wurden seine Gedanken. Irgendwann ließ er seufzend den Kopf gegen die Tür sinken.
Wenn ich doch nur die Fessel lösen könnte.
Genau in diesem Moment vernahm er Schritte. Wie ein abgeschossener Pfeil schnellte er in die Höhe. Dann knarzte auch schon das Schlüsselloch und die Tür wurde aufgerissen. 
»Aegir, zum Donner, du hattest Recht! Du hattest mit allem Recht!« Ein Mann schnellte in die Zelle und zerrte ihn hinaus. Sein Gesicht war blutverschmiert, in der linken Hand hielt er eine Klinge. Der Helm auf seinem Kopf saß schief und er zitterte vor Aufregung.
Der Riese erkannte seinen Waffenbruder aus längst vergangenen Tagen und konnte nicht umhin, ein spöttisches Grinsen aufzulegen.
»Ralof? Welch angenehme Wendung. Darüber unterhalten wir uns später. Jetzt gib mir meine Axt, na wird’s bald?«
Binnen eines Moment wechselte das mächtige dänische Mordinstrument seinen Besitzer.
»Wie du an sie gelangt bist, darfst du mir später erklären. Nun sparen wir uns das auf für den Kampf.«
Der Mann schluckte, dann nickte er. »Wir sollten Walhall nicht warten lassen«, sagte er dann zögerlich.
»Ich pfeife auf Walhall. Heute werden wir Blut vergießen, ein letztes Mal. Und danach stellen wir uns der Gnade unserer Herren.« 
Gemeinsam eilten sie an Deck des Schiffes und mit einem großes Satz ließ Aegir sich in den Sand fallen.
Sein Waffenbruder folgte ihm dichtauf. 
Der Riese rannte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Das Schicksal hatte die Bestie in ihm erweckt und er war bereit sie zu entfesseln.
Er fegte Zweige und Gestrüpp aus seinem Weg, fast schien es so als fege er eine Schneise durch den Wald.
Ralof hatte Mühe mit ihm mitzuhalten. Als Aegir sich an eine große Fichte presste, um aus der Deckung das Schlachtfeld zu überblicken, holte er ihn mit einem Hecheln ein. 
»Du hast wahrlich nicht an Kraft eingebüßt. Man könnte meinen, selbst ein fränkisches Ross sei kein würdiger Kontrahent für dich.«
»Klappe«, knurrte Aegir, während er seine Augen wachsam auf das richtete, was vor ihnen lag. 
Das Zeltlager schien komplett heruntergebrannt, Asche wirbelte wie Schneeflocken durch die Luft, bedeckte den Wald mit einem Leichentuch. Innige Rufe halten durch die Luft, Flüche und Schreie derer, die bis jetzt überlebt hatten. 
Sein Blick fing ein paar Kämpfer ein, die gerade einen Leichnam plünderten. 
Ustenströmer und gleich drei auf einen Schlag.
Er mahnte sich zur Vorsicht, unterdrückte die aufkommende Vorfreude. Dann lauschte er.
»Ein paar scheinen sich in den Wäldern zu verstecken, Feiglinge, allesamt!« Der groß gewachsene Mann stützte sich auf seine Axt, während seine Kameraden die Taschen ihres Opfers leerten. »Doch der Jarl wird Magnar nichts vormachen können. Diese Jagd ist bald vorbei.« Er spuckte abfällig aus. Dann setzte er den Stiefel an das Gesicht des Toten und drehte es dadurch leicht nach rechts. 
»Arme Sau. Kaum mehr als ein Junge. Nur die Stärksten schaffen es, zu Kriegern heranzuwachsen. 
Die Stärksten und jene, die wissen sich bedeckt zu halten.
Aegir wollte sich gerade daran machen, sich näher an die Gruppe heranzuschleichen, als es ihn wie der Blitz durchfuhr.
Snorri!
Sein Gesicht verfinsterte sich mit einem Schlag.
»Was hast du vor?«, wisperte Ralof mit gerunzelter Stirn.
»Etwas Übles. Folge mir und kämpfe oder lauf und kreuze nicht meinen Weg, verstanden?«, grollte der Riese. Dann warf er sich mit einem Schrei auf die drei Männer.
Die Überraschung schien auf seiner Seite. Verdutzt wandten die Männer sich zu ihm um, doch viel zu spät, um seinem Zorn zu entgehen. 
Dem ersten trieb er die Axt ins Hirn, bevor er überhaupt aufschreien konnte. Den zweiten erwischte er mit einem gekonnten Aufwärtshieb, der seinen Gegenüber zu Boden beförderte. 
Der Dritte wich seinem Schlag aus und bugsierte sich mit einem Ausfallschritt in Sicherheit. »Dafür wirst du büßen, Skiringssaller Köter!«, presste er hinter gefletschten Zähnen hervor. 
Unbeeindruckt ging Aegir auf ihn los. 
Dem ersten Hieb entging der Mann, indem er unter der Schneise der Dänenaxt hinwegtauchte. Er versuchte es mit einem ruckartigen Konter, doch Aegir rammte ihm den Stiefel in die Magengrube, wirbelte einmal um die eigene Achse und enthauptete ihn, als bestünde sein Hals aus feinster Butter.
Keuchend wandte er sich dem Leichnam des Jungen zu. Erleichtert stellte er fest, dass es sich dabei um einen Ustenströmer handeln musste, denn das Gesicht wirkte wenig vertraut auf ihn.
»Das ging schnell«, stellte Ralof fest, als er aus dem Schatten der Bäume trat. »Der Skiringssaler Riese weiß immer noch zu töten.«
»Und man tut gut daran, ihm nicht dabei im Wege zu stehen«, beendete Aegir den Satz für ihn. Dann sah er sich um.
Die Wälder des kleinen Eilandes, auf dem sie ankerten, waren plötzlich von einer unheilverkündenden Stille umgeben. Kein Ruf, kein Stöhnen, nicht mal ein Winseln.
Der Boden war von derartig vielen Fußspuren durchzogen, die in alle Richtungen verliefen, sodass es ihm unmöglich schien, etwas zu deuten.
Leichen pflasterten die kleine Lichtung und das Mondlicht spiegelte sich glitzernd in den Helmen und Klingen der Gefallenen. Nur wo waren die Lebenden?
Plötzlich vernahm er Stimmen. Dann Schritte. Eine große Gruppe von Menschen näherte sich seiner Position. Noch bevor er reagieren konnte, eilten eine Handvoll Männer aus dem Dickicht hervor. 
Als Aegir erkannte, was geschehen sein musste, setzte sich ein kreischender Schwindel zwischen seinen Schläfen ab. Die wenigen verbliebenen Skiringssaler, hatten sich der Gnade des Magnar übergeben oder waren überrumpelt und gefangen genommen worden. Er erkannte Islav, Knutson und ein paar andere Männer. Als er Snorri erblickte, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, überkam ihn trotz ihrer ausweglosen Lage ein Gefühl der Erleichterung.
Er lebt! Ich habe als Bruder noch nicht versagt.
Die Männer des Magnar bauten sich mit schadenfrohen Gesichtern vor ihm auf. »Der ist ja ein richtiges Prachtexemplar«, feixte einer von ihnen grinsend. »Der wird uns in Konstantinopel eine Menge Geld einbringen.« 
Die Anderen fielen in sein Lachen mit ein.
Sklaven. Das soll unser Schicksal sein?
Die Erkenntnis, dass ihre Höllenfahrt womöglich gerade erst begann, erschütterte Aegir in seinen Grundfesten. Sein Griff um die Waffe versteinerte sich. 
Dann schob sich der Mond für einen kurzen Augenblick hinter den Wolken hervor und ließ die Lichtung in seinem silbernen Glanz erstrahlen. 
Ihr Götter, schickt mir ein Zeichen. Er war bereit, seinen letzten Dienst zu leisten.
Dann horchte er plötzlich auf. Ein schauderhafter Ruf wanderte durch den Wald. 
In der Ferne heulte einsam ein Wolf.

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