In diesem Monat haben wir uns im Schreib-Forum gefragt, wie wohl ein Weihnachtsfest im Jahr 3000 aussehen könnte. Viele Autoren haben dort ihre Vision mit uns geteilt.
Diese Geschichte entstammt der Feder von Josy Burns.
Fahles Licht bahnt sich seinen Weg durch den grauen Winterhimmel. Es malt einen hübschen Kontrast von hellen roten, orangen und gleißweißen Flecken zwischen die zerklüfteten dunklen Wolkenfetzen. Sel schließt die Augen und kauert sich auf dem kleinen Absatz, hoch oben über den Dächern der Erdsiedlung, zusammen. Sie reckt die Nase in die kühle Luft und genießt die Ruhe, die hier oben herrscht. Das feine Sirren des Windes, der über die Dachstreben streicht, ist alles, was hier zu hören ist. Ein vorwitziger Strahl der tiefstehenden Sonne schummelt sich zwischen ihren Lidern hindurch. Sie blinzelt. Saugt noch einmal den Duft der frischen Luft tief in sich hinein. So tief, bis sie beinahe platzen muss. Von wegen giftig. Wenn die Welt hier draußen wirklich giftig wäre, müsste sie ja wohl jetzt auf der Stelle tot umfallen. Tut sie aber nicht.
Wie anders die Welt hier oben ist. Ringsum erstreckt sich die durchgängige Fläche der Prosperikumdächer, die die Siedlung angeblich vor Umwelteinflüssen schützen sollen, in allen Richtungen – bis zum Horizont. Lückenlos. Von dem Gewusel darunter ist hier draußen nichts zu merken. Seit über fünfhundert Jahren leben die Menschen auf der Erde nun schon unter dieser Schutzhülle. Sel hört das Schnarren des alten Historikus beinahe noch: „Der Zyklus 0, der zusammenfällt mit dem Jahr 2478 alter Zeitrechnung …“, meistens folgte hier ein trockenes Husten, „ … Geburt der Zivilisation und Beginn der neuen Zeitrechnung, Gründung der Schutzhülle, Einführung des Gemeinwohls durch Max Karolus.“
Niemand weiß mehr so recht, warum das alles geschah, aber es gibt auch schon lange keine Alternative mehr, denn die Schutzhülle umspannt inzwischen den ganzen Planeten. Schwer vorzustellen, dass es früher einmal Bereiche zwischen den Siedlungen gab, in denen keine Wohneinheiten oder Produktionsstätten standen.
Unten ist es ein Tag wie jeder andere, nur hier oben – draußen – merkt man, dass es das ist, was die Menschen früher wohl einen schönen Wintertag genannt hätten. Drinnen ist die Welt standardisiert. Die Tage sind gleich lang, immer in Einheiten von sechs Stunden eingeteilt, das sind die optimalen Lebensbedingungen für alle. Die Bewohner folgen dem vorgegebenen Rhythmus: Aufstehen, sechs Stunden den Aufgaben nachgehen, sechs Stunden dem personoptimierten Erholungsprogramm folgen, sechs Stunden schlafen und wieder von vorn. Die Hülle gibt die passenden Licht- und Dunkelphasen dafür vor. Wenn man unten ist, merkt man gar nicht, dass es draußen sogar unterschiedlich lange Tage gibt.
Sel ist froh, dass ihre Erholungsphase heute mit einem ihrer Lieblingsmomente hier draußen zusammenfällt. Direkt nach der Arbeitsphase ist sie durch den langen Schacht aufs Dach geklettert. Vor ein paar Subzyklen hat sie ihn zufällig entdeckt. Jetzt schwänzt sie manchmal die Erholungsphase und kommt stattdessen hierher. Sie liebt es, wenn die Sonne ganz tief über dem Horizont steht. Es fühlt sich fast an, als wäre noch eine zweite Schutzhülle über ihr. Als wäre da noch eine Welt, eine Anderswelt nennt sie es manchmal für sich. In irgendwelchen Dateien über die Frühzeit hat sie das Wort einmal gefunden. Angeblich hat es etwas mit genau diesem schrägen Licht oder diesen dunklen Tagen zu tun, was genau, das ging aus den Quellen nicht mehr hervor.
Sels Aufgabe ist es, im Gemeinschaftsarchiv für Ordnung zu sorgen. Hin und wieder gelingt es ihr dabei, einen Blick in die alten Dateien zu werfen, die dort schlummern. Dann kommt sie anschließend oft hier herauf – obwohl das natürlich verboten ist – und denkt nach. Denkt nach über die Dinge, die sie da gefunden hat. Malt sich aus, wie das Leben vor tausend Jahren auf der Erde wohl gewesen sein muss. Es ist ihr egal, dass sie eine Zwangsversetzung riskiert, wenn sie erwischt wird.
Hinter ihr klappert etwas im Schacht – sie fährt herum.
„Hab ich mir doch gedacht, dass du hier bist!“ Joey grinst, als sie Sels erschrockenes Gesicht sieht.
„Ach, du bist das …“ Sel atmet erleichtert auf und rückt ein Stückchen zur Seite. Joey quetscht sich zu ihr auf den Absatz und lässt die Beine baumeln. Sie ist die einzige, die Sels Geheimversteck hier oben kennt.
„Und – was gibt es heute zu denken? Neues aus der Vergangenheit?“ Joey ist immer begierig, Sels Geschichten zu hören.
„Weihnachten“, antwortet Sel und macht erstmal eine Kunstpause, weil sie schon ahnt, dass Joey dieses Wort nicht kennt.
„Weyn Achtern?“, fragt diese auch prompt.
„Weih-nachten“, bekräftigt Sel und versucht, ihre Stimme so bedeutungsschwanger wie möglich klingen zu lassen. Dabei legt sie besonderes Gewicht auf die erste Silbe dieses wundersamen Wortes und unterstreicht dessen Bedeutung mit einer weit ausladenden Geste über den Horizont in Richtung der untergehenden Sonne.
„Wie Weih-nachten – was soll das sein? Nachten? Weinen? Das hört sich irgendwie unanständig an.“ Joey grinst.
„Weihnachten – haben die Menschen früher gefeiert, und zwar genau … heute.“
Dass es genau heute sein muss, behauptet Sel zwar einfach erstmal. Dann blinzelt sie aber wieder in die tiefstehende Sonne; so ein Licht wie in dieser Stunde gibt es hier draußen nur an den dunkelsten Tagen des Jahres. Also spricht ja wohl auch nichts dagegen, dass dieses Weihnachten eben genau heute ist.
Sie kann sehen, dass Joey tatsächlich keinen blassen Schimmer hat. Es ist ja auch eine ganz schön verrückte Geschichte, über die sie da gestolpert ist … Schade eigentlich, dass dieses Weihnachten wie so viele alte Traditionen seit der großen Vereinheitlichung irgendwie in Vergessenheit geraten ist. Wobei – manches davon ist ja auch schon ganz schön schräg.
Und dann erzählt Sel Joey von den Bräuchen, mit denen die Menschen noch vor tausend Jahren zur Wintersonnwende die Geburt eines Gottes gefeiert haben, obwohl sie doch schon damals gewusst haben mussten, wie fraglich dieses Konzept mit den Religionen sein musste. Allein schon, wenn man an die ganzen Glaubenskriege dachte. Egal, Sel wischt die Erinnerung an ihren alten Lehrer und dessen angeekeltes Kopfschütteln – „Eine Barbarei war das!“ – zur Seite und erzählt weiter. Erzählt Joey von Geschenken, Weihnachtsbäumen, von Lichtern und Gebäck und davon, dass die Menschen damals in – sie muss kurz überlegen, wie war das Wort doch gleich? Dann fällt es ihr wieder ein: Die Menschen kamen in „Familien“ zusammen, um dieses Fest zu feiern. Sie schmückten die Wohnzellen mit Bäumen und wenn diese Familie dann da war, gaben sie sich unter einander Geschenke, je teurer, je mehr, je besser und irgendwie hing damit auch das Ansehen in der Gesellschaft zusammen. Ganz verstanden hat Sel das nicht.
„Ge-schen-ke“ Joey lässt sich das Wort auf der Zuge zergehen. „Was für ein komisches Konzept. Als ob irgendjemand irgendetwas besitzen könnte. Alles gehört doch allen.“ Joey ist eine glühende Anhängerin der Gemeinwohltheorie. Die Gemeinschaft stellte allen einfach das zur Verfügung, was sie brauchen, und mit Dingen, die man nicht benötigte, belastete man sich auch nicht. Es ist ja schließlich auch überhaupt kein Platz dafür da. Was für ein seltsamer Gedanke, dass Joey jetzt zum Beispiel beschließen könnte, Sel etwas aus dem Gemeinpool zu geben und einfach zu bestimmen, dass das nun Sel, und zwar nur Sel alleine gehören würde. Joey schüttelt den Kopf.
„Naja, aber ich finde, so verrückt dieses Fest auch gewesen sein mag, die Idee, einen Baum zu schmücken und ihn mit Lichter zu versehen, das ist doch ganz hübsch.“ So ein echter Baum war schon etwas Besonders. Joey hat erst ein einziges Mal einen gesehen. Das ist noch vor ihrer Initiation gewesen. Da haben sie eine der streng bewachten Sauerstoffplantagen besucht. In die eigentlichen Bereiche, in denen die Pflanzen wuchsen, durften sie gar nicht hinein, um das sensible ökologische Gleichgewicht nicht zu stören. Aber im Eingangsbereich der Anlage war ein echter Baum ausgestellt. Seitdem ist Joey von diesen Lebewesen fasziniert. „Die Menschen müssen ganz schön reich gewesen sein, wenn sie sich leisten konnten jedes Jahr einen eigenen Baum in ihre Wohnzelle zu stellen. Die Zellen müssen ja riesig gewesen sein.“
„Hm, ich weiß nicht – mir kommt das eher grausam vor. Die Bäume wurden doch dafür getötet?“
„Naja, aber ich glaube, vor tausend Jahren wusste man noch nicht so viel über das pflanzliche Emphathienetzwerk.“
Sel nickt. Ihr Blick bleibt wieder am Schauspiel hängen, das die untergehende Sonne in bunten Farben an den Himmel zaubert. Beinahe sieht es aus, als würde die Erdsiedlung in Flammen stehen. Wunderschön. Die da unten unter der Schutzhülle wussten gar nicht, was sie Tag für Tag verpassten.
„Weißt du, was ich am schönsten finde?“ Sel zieht ihre Knie hoch ans Kinn und schlingt ihre Arme darum. „Ich glaube, das schönste finde ich, dass die Menschen an Weihnachten der Liebe zueinander gedacht haben. Diese „Familie“ oder wie das nun auch hieß. Also ich meine, dass sie Zeit hatten, wenigstens für einen Moment innezuhalten und sich ganz und gar denjenigen Menschen zu widmen, die wichtig für sie waren. Und dass sie diesen Menschen von Herzen etwas Gutes tun wollten, um ihnen zu zeigen, wie sehr sie sie liebten.“
Jetzt ist es an Joey zu schlucken und es dauert eine ganze Weile, bis sie Sel antwortet: „Weißt du was – das machen wir ab heute auch. Wir feiern Weihnachten, und zwar jedes Mal, wenn wir hier oben zusammensitzen und einander was erzählen.“
Sel spürt, wie sich Joeys Arm behutsam um ihre Schultern legt. „Willst du meine Familie sein?“, fragt Joey und ein wohliges Gefühl macht sich in Sels Brust breit.
Sie lehnt den Kopf in den Nacken und schaut Joey an. Deren Blick hängt an der roten Sonne, die nun schon fast hinter dem Horizont verschwunden ist.
„Frohe Weihnachten“, sagt Sel leise.
„Frohe Weihnachten“, antwortet Joey.