Nach einem gemütlichen Abendessen mit Kerzenschein laufen wir zurück ins Hotel. Die Straßen des kleinen Urlaubsortes sind hell beleuchtet, Kinder rennen um die kreuz und quer abgestellten Autos herum und ich fühle mich wie in einem Traum. Obwohl aus fast jedem Haus laute Musik herausdröhnt, höre ich auf einmal das Meer. Ein großes Schild mit einem roten Pfeil weist uns den Weg zum Strand. Ich ziehe Bernd hinter mir her.
„Lena, das ist um diese Zeit gefährlich. Wir sind hier in Brasilien, nicht in Deutschland. Du erinnerst dich, was uns der Reiseleiter gestern gesagt hat?“
Ich lasse ihn reden und gehe weiter. Nach ein paar Sätzen gibt er seufzend auf und schüttelt den Kopf. Zärtlich drücke ich seine Hand. Ich weiß genau, was er nun denkt.
„Wofür habe ich denn einen Meister im Aikido geheiratet?“, frage ich ironisch und kuschle mich an ihn. Der Mond ist voll und wirft wunderschöne Reflexe auf die schäumenden Wellen. Wir laufen langsam an der Wasserlinie entlang und ich genieße den leichten Wind, den salzigen Geruch und die Leere. So schön ich unseren Urlaubsort auch finde, es ist hektisch, laut und voller Menschen und das stresst mich mehr, als ich gedacht hätte. Vielleicht liegt es auch daran, dass unsere hellblonden Haare hier selten zu sehen sind, und wir deshalb mehr Aufsehen erregen als mir recht ist.
„So ist das eben mit uns Landeiern“, murmle ich leise vor mich hin.
Bernd zieht mich näher an sich heran und küsst mich. „Du wirst dich daran gewöhnen, wir sind ja erst angekommen“, flüstert er in mein Ohr.
Von irgendwoher kommen Geräusche. Ich höre Trommeln und Gesangsfetzen. Wir gehen um eine Düne herum und schauen direkt auf ein großes Feuer, um das etwa 30 Menschen tanzen.
„Lass uns umdrehen“, flüstert Bernd, doch ich bin verzaubert von diesem Anblick. Zwei Gestalten lösen sich aus dem Lichtkreis und kommen auf uns zu. Es sind Mädchen, fast noch Kinder. Sie fassen uns an den Händen und ziehen uns freundlich lächelnd in die Gruppe. Der Rhythmus der Trommeln ändert sich ständig und hat etwas Hypnotisches. Alles wird unwichtig. Meine Welt schrumpft auf ein Feuer, die Trommeln und das Stampfen vieler Füße. Irgendwann, nach Minuten – oder sind es Stunden – kann ich nicht mehr und lasse mich in den Sand fallen. Bernd legt sich neben mich. Er keucht vor Anstrengung und als sein Atem ruhiger wird, schläft er ein. Ich streichle ihm übers nassgeschwitzte Haar, kuschle mich an ihn und schließe die Augen. Die jungen Leute tanzen weiter. Ich fühle mich wohl und willkommen in dieser mir völlig fremden Gemeinschaft.
Viel später hört das Trommeln auf. Ich muss eingeschlafen sein. Als ich aufwache, dämmert es bereits. Bernd hat sich zur anderen Seite gedreht und mir ist kalt. Ich setze mich auf. In etwa 10 Meter Entfernung sitzt eine ältere Frau. Sie und ein alter Mann sind wohl die Begleitpersonen dieser Jugendgruppe und beide haben uns im Verlaufe des Abends immer mal wieder gemustert. Sie winkt mir. Ich stehe auf und setze mich neben sie. Sie spricht ein kindliches Englisch und ich verstehe sie gut.
„Wo kommt ihr her?“, fragt sie mich.
„Aus Deutschland.“
„Wo ist das?“
„In Europa“, antworte ich doch ich merke, dass ihr das auch nichts sagt.
„Wir kommen von der anderen Seite der Erde.“
„Wir leben am Amazonas, in den Wäldern. Manchmal sind wir hier, um uns unserer Wurzeln zu versichern. Wir kommen schließlich alle aus dem Meer.“
Ich nicke nachdenklich.
„Wenn wir feiern, laden wir gerne Fremde dazu ein. Damit wir nicht vergessen, dass es nicht nur unsere Art zu leben gibt und viele Wege zum Glück. Und ihr zwei seid glücklich.“
Ich nicke abermals.
„Wir haben gemeinsam getanzt. Früchte werden reifen, in und unter unseren Herzen. Und ihr werdet euch immer an uns erinnern, genauso, wie wir an euch denken werden.“ Nach einer Weile des Schweigens steht die Frau auf und geht.
Monate später bin ich alleine im Taxi unterwegs ins Krankenhaus. Unser erstes Kind meldet sich an und Bernd ist ausgerechnet heute nicht da. Ich bin ein wenig aufgeregt, aber alles in allem doch froh, dass es endlich so weit ist.
Die Geburt kostet mich viel Kraft, immer wieder rieche ich Feuer, was mich irritiert, und als das Kind endlich kommt, bin ich völlig erschöpft. Irgendetwas stimmt nicht. Die Hebamme legt mir das Kind nicht auf den Bauch, sie nimmt es hoch und geht mit ihm fort.
„Was ist los?“, flüstere ich, doch ich bin alleine. Heiße Tränen fließen mir über die Wangen.
Die Türe öffnet sich und eine junge Schwester kommt in den Raum. Sie ist sichtlich überfordert mit mir, doch ihr Mitgefühl tut mir gut. Sie wäscht mich und ich lasse mir apathisch alles gefallen. Ich bin völlig am Ende.
Nach ewig langen Minuten kommt die Hebamme mit dem Kind zurück und legt es mir in den Arm.
„Es tut mir leid, es sah so aus, als gäbe es ein Problem, aber es ist alles gut. Sie haben eine wunderschöne, gesunde Tochter“, sagt sie und streicht mir mitfühlend über das Haar.
Neugierig schiebe ich das Handtuch zur Seite und betrachte mein Kind. Das kleine Gesicht ist noch ganz verdrückt von der Geburt. Ihre Haare sind voll, lang und schwarz. Ihre Haut ist dunkel und die geschlossenen Augen sind seltsam geformt, fast asiatisch.
„Was ist mit ihr?“, frage ich irritiert. „Ist das wirklich mein Kind?“
Das Mädchen verzieht den Mund und gähnt. Sie öffnet die Lider und tiefschwarze Augen blicken mich an. Und plötzlich wird mir alles klar. Eine längst vergessene Stimme erklingt in meinem Kopf.
Früchte werden reifen, in und unter unseren Herzen. Und ihr werdet euch immer an uns erinnern, genauso, wie wir immer an euch denken werden.
Die unterschiedlichsten Gefühle beherrschen mich gleichzeitig. Unglaube, Angst, Stolz, Freude. Sie ist meine Tochter und doch trägt sie ein fremdes Erbe in sich. Und während ich hilflos zu lachen beginne, spüre ich, wie sie meinen kleinen Finger mit ihrer winzigen Hand umfasst.
Die Hebamme beobachtet mich aufmerksam. Was sie wohl denken mag? Vermutlich überlegt sie gerade, ob sie mir ein Beruhigungsmittel spritzen soll.
Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ob wohl heute Nacht irgendwo am Amazonas ein hellhäutiges Mädchen geboren wurde? Oder ein kleiner Junge mit blauen Augen?
„Sie soll Luna heißen“, presse ich immer noch haltlos lachend hervor.