Korrekturen 25

25.Teil – Die Letzte Flucht (1/6)

Fancan entdeckte einen Ortungsimpuls auf der Navigationskugel.
»Leute, wir müssen nun wirklich hier weg!«, rief sie dazwischen, »Ich glaube, man hat uns entdeckt. Es nähert sich etwas unserem Standort.«
»Qorth, wir müssen los«, sagte Giwoon, »Sie haben es gehört. Wir bekommen Besuch. Wir wünschen Ihnen alles Gute, aber vergeuden Sie keine Zeit. Machen Sie, dass Sie die Station verlassen!«
Giwoon wartete die Antwort nicht mehr ab, sondern unterbrach die Verbindung und aktivierte die Antriebseinheiten.
»Es sind Kampfflugzeuge«, sagte Fancan, »ich habe jetzt noch zwei weitere Ortungen. Sie nähern sich uns sehr schnell.«
»Raketen!«, rief Giwoon, »Verdammt! Sie sind gegenüber unserem Slider zwar primitiv, aber dennoch sehr wirksam.«
Immer wieder hämmerte er auf die Steuerung ein, als würde es dadurch schneller gehen, bis die Zellen für die Horizontalbeschleunigung aufgeladen waren.
»Es reicht nicht!«, schimpfte Giwoon, »Vielleicht können wir ihnen nach oben entkommen, wenn ich unseren Flieger ganz kurz vor dem Aufschlag der Raketen hochziehe.«
Giwoon starrte konzentriert auf die Ortungsanzeige und presste, kurz bevor die Raketen sie erreichten, beide Hände auf die Höhenkontrollen. Der Slider stieg nach oben, als wäre er von einer Kanone abgefeuert worden, während die Raketen unter ihnen hindurch flogen. Eine der Raketen schlug ins Tal ein, wo sie keinen Schaden anrichtete. Die andere hingegen änderte ihren Kurs und wendete.
Giwoon stand der Schweiß auf der Stirn.
»Das Drecksding kommt zurück«, stellte er fest. Die Ladekontrolle der Antriebszellen erlosch und er drückte den Schubhebel voll durch. In diesem Moment erreichte sie die Rakete und streifte sie, als der Slider sich in Bewegung setzte. Die Druckwelle der explodierenden Rakete ließ den Slider wie ein welkes Blatt im Wind umherfliegen. Die Notschaltung aktivierte sich und brachte ihren Flieger schnell wieder in eine stabile Fluglage. Irgendwo ertönte ein Alarm.
»Die Kampfflugzeuge sind uns noch immer auf den Fersen«, meldete Fancan.
»Wir können sie jetzt abhängen«, sagte Giwoon.
Khendrah und Thomas standen etwas abseits und hielten sich krampfhaft an den Händen.
Ganz allmählich vergrößerte sich der Abstand zu ihren Verfolgern.
»Waren wir nicht auf unserem Hinweg schneller?«, wollte Thomas wissen.
»Ja«, sagte Giwoon mit zusammen gebissenen Zähnen, »die Druckwelle hat irgendetwas in der Antriebseinheit zerstört. Wir kommen nicht auf die volle Leistung. Außerdem nimmt die Ladung in den Zellen bereits wieder ab, als wenn der Reaktor sie nicht mehr ausreichend versorgen könnte, was eigentlich nicht sein kann.«
»Wie kommen wir eigentlich hier weg?«, fragte Khendrah, »Dies hier ist doch auch nicht unsere Zielzeit, oder wollen wir hier bleiben?«
»Nein, wir müssen es bis zum Jahr 2008 schaffen«, sagte Giwoon.
»Ich denke, der Slider kann keine Zeitreisen mehr unternehmen«, meinte Thomas.
»Wir müssen irgendwo einen Zeitaufzug erreichen«, sagte Giwoon, »einen Zeitaufzug des Vektors, solange es ihn noch gibt. Khendrah, Fancan – ich brauche Angaben, wo wir einen solchen Aufzug finden können. Ich fürchte, der Slider macht es nicht mehr besonders lange.«
Wie, um diese letzte Äußerung Giwoons zu bestätigen, leuchteten nun an den verschiedensten Stellen der Konsole Warnlampen auf. Aus einer Konsole drang ein wenig Qualm in die Kabine.
Giwoon hatte nicht darauf geachtet, in welche Richtung der Slider flog, als er den Antrieb aktiviert hatte. Für ihn war es in erster Linie darum gegangen, den Slider möglichst unbeschadet aus dem Einflussbereich der Kampfflugzeuge herauszubekommen. Erst jetzt stellte er fest, dass sie sich über dem Pazifischen Ozean befanden und ostwärts flogen. Wenn sie diesen Kurs beibehalten würden, würden sie irgendwann die US-amerikanische Küste erreichen. Dort würden sie ebenfalls zum Ziel von Radaranlagen und Kampfflugzeugen.
Khendrah schaute auf die Navigationskugel und deutete auf den vor ihnen liegenden Kontinent.
»Dort gibt es einen Aufzug«, sagte sie, »da bin ich mir sicher. Dort an der Küste, die Stadt San Diego. Dort müssen wir irgendwo landen und uns zur Station durchschlagen, in der der Aufzug versteckt ist.«
Giwoon bemerkte mehr als einmal das Auftreffen von Radarimpulsen, doch solange sie sich über dem Pazifik befanden, wurden sie nicht behelligt.
»Ich werde den Slider nun fast bis an die Grenze der Stratosphäre steigen lassen«, erklärte Giwoon, »sobald wir einen geeigneten Landeplatz entdeckt haben, werden wir extrem schnell und senkrecht landen. Ich glaube nämlich, dass ihre Radaranlagen mit senkrechten Bewegungen nicht so gut zurechtkommen, wie mit der normalen, horizontalen Fluglage.«
»Wollen wir es hoffen«, meinte Thomas, »was tun wir, wenn sie uns auch von dort Flugzeuge entgegenschicken, die uns angreifen?«
»Es darf eben nicht passieren!«, rief Giwoon aus.
Sie spürten alle, dass Giwoon längst nicht mehr so ruhig war, wie noch zu Beginn ihrer Reise. Der Slider begann zu steigen und zum ersten Mal spürten sie etwas von der Schieflage des Fliegers und auch ein wenig von der Beschleunigung. Die Absorber, die unter normalen Umständen dafür sorgten, dass Beharrungskräfte – gleich welcher Art – spürbar wurden, arbeiteten nicht mehr einwandfrei.
»Ihr solltet euch auf euren Sitzen anschnallen«, schlug Giwoon vor, »wie es aussieht, ist unser Flieger stärker angeschlagen, als ich bisher gedacht habe. Ich kann nicht mehr so hoch steigen, wie ich es gern täte. Hier, wo wir uns jetzt befinden, sind wir für die Abwehr der Menschen dort unten zu erreichen.«
Wenige Augenblicke später ging ein Funkspruch in englischer Sprache ein:
»Achtung, unbekanntes Flugzeug! Hier spricht die Küstenkontrolle der Vereinigten Staaten. Sie sind im Begriff, unseren Luftraum zu betreten. Bitte identifizieren Sie sich umgehend, sonst wären wir gezwungen, Sie zur Landung zu zwingen.«
Sie sahen sich alle erschreckt an.
»Ignorieren!«, entschied Giwoon, »wir müssen nur dort irgendwo landen können und verschwinden. So schnell werden sie uns schon nicht abschießen.«
»Da bin ich mir gar nicht so sicher«, meinte Khendrah und deutete auf einen Bereich der Steuerkugel, auf dem man erkennen konnte, dass sich ihnen mehrere Kampfjets näherten.
»Geht das jetzt schon wieder los?«, fragte Fancan, »Ich hätte nie gedacht, dass sie uns hier in diesen Zeiten überhaupt gefährlich werden könnten.«
Khendrah lachte freudlos auf.
»Was hast denn du geglaubt? Dass sie in diesen frühen Zeitaltern noch mit Pfeil und Bogen schießen? Ich würde mich entschieden wohler fühlen, wenn wir bereits wieder festen Boden unter den Füßen hätten.«
Ein heftiger Schlag traf den Slider und hätte sie alle durcheinandergewirbelt, wenn sie nicht angeschnallt gewesen wären.
»Was war das?«, wollte Thomas wissen, »Das können doch nicht die Amerikaner in den Jets gewesen sein.«
»Das waren sie auch nicht!«, rief Giwoon grimmig, »Wir haben Begleitung und die gefällt mir ganz und gar nicht.«
Auf der Kugel erschien das Gesicht eines alten Bekannten, mit dem sie überhaupt nicht mehr gerechnet hatten: Ralph Geek-Thoben, dem Analysten.
»Sie scheinen sich nicht zu freuen, mich zu sehen«, sagte Ralph, »dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, Sie zu finden. Khendrah und Fancan kenne ich ja bereits. Vielleicht stellen sich mir die übrigen Teilnehmer der Attentätergruppe ja noch vor, bevor ich Ihren Flieger endgültig vom Himmel pusten werde.«
Ralph hatte ein boshaftes Lächeln aufgesetzt.
»Was wollen Sie?«, fragte Khendrah aggressiv, »Wie kommen Sie überhaupt hierher?«
Ralph lachte.
»Das würden Sie gern wissen, nicht wahr? Nun, Sie können sich denken, dass ein Analyst immer mehrere Wege errechnet, wie er aus einer ungünstigen Situation wieder herausfindet. Nachdem Sie meine Pläne so dumm durchkreuzt haben, nutzte ich einen der Ersatzwege, um wieder in den Vektor zurückzukehren, wo ich sehr interessante Nachforschungen gemacht habe. Erst habe ich nicht verstanden, was Sie mit Ihren Aktionen bezweckten, bis dann ein Alarm durch den gesamten Vektor hallte. Ich hätte Sie niemals für so dämlich gehalten, es mit dem gesamten Vektor aufzunehmen. Sie haben nun die Wahl: Wollen Sie leben, oder sterben? Geben Sie mir den Code zur Deaktivierung ihrer Bombe und ich nehme den Finger vom Feuerknopf meiner Primärwaffe.«
Giwoon schob sich vor das Aufnahmeobjektiv und sprach:
»Ob Sie auf uns feuern, oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Es gibt keinen Deaktivierungscode. Wenn Sie die Bombe noch entschärfen wollen, müssen Sie sie finden und können es versuchen, doch ich würde davon abraten. Sie ist nun auf molekularer Ebene direkt mit der Sonnenzapfanlage verbunden. Der Versuch der Trennung wird sie auslösen.«
»Sie lügen!«, brüllte Ralph uns schlug auf die Feuertaste.
Giwoon ließ den Slider ausweichen, doch konnte er nicht verhindern, dass sie einen Streifschuss abbekamen. Aus verschiedenen Konsolen schlugen Funken und der Slider schüttelte sich.
Giwoon drehte den Ton der Kommunikationsanlage ab und wandte sich an die anderen:
»Es hat keinen Zweck. Unser Flieger ist nicht zu retten. Es ist Zeit für Notmaßnahmen. Jeder von euch schnappt sich die kleine Tasche, die unter dem Sitz klebt. Dann versammelt euch in dem kleinen, markierten Kreis vor der qualmenden Konsole dort. Beeilt euch!«
»Was hast du vor?«, fragte Fancan.
»Es ist jetzt keine Zeit für Erklärungen! Sofort! Tasche greifen uns los! Wir alle müssen in fünfzehn Sekunden in dem Kreis stehen. Fasst euch am besten an den Händen!«
In fiebernder Eile riss jeder die kleine Tasche unter dem Sitz hervor und löste den Sitzgurt. Der kleine Kreis auf dem Boden begann blinkend zu leuchten und ein Countdown wurde in seinem Innern angezeigt. Sie stürzten zu der Stelle und drängten sich so zusammen, dass sie alle hineinpassten.
»Was tun wir hier eigentlich?«, fragte Thomas, wurde aber von Giwoon unterbrochen:
»Augen schließen!«
Sie hörten einen lauten Knall, es wurde unerträglich hell, dass sie trotz geschlossener Augen für einen Moment geblendet waren. Ein Hitzeschwall schien über sie hinweg zu ziehen, dann war es vorbei. Als sie ihre Augen wieder öffneten, standen sie auf einem Feld inmitten eines Gewirrs von Straßen, auf dem zahllose Fahrzeuge unterwegs waren.
»Wo sind wir hier?«, wollte Fancan wissen, als sie sich einmal um ihre eigene Achse gedreht hatte.
»Notschaltung«, sagte Giwoon knapp, »ein Transportsystem, das uns aus dem Flieger hierher übertragen hat. Es funktioniert nur ein einziges Mal und auch nur auf relativ kurze Distanz. Wenn Ralph den Slider nicht abschießt, wird er sich in Kürze selbst vernichten. Wenn wir Glück haben, können wir ihn täuschen und er glaubt, dass wir tot sind. Wir sollten jedenfalls machen, dass wir hier verschwinden und uns unter die Menschen mischen.«
»Wahrscheinlich hat uns dein Transportsystem mitten in einem Autobahnkreuz abgesetzt«, meinte Thomas, »ich war schon ‚mal in den Vereinigten Staaten und kann mich an solche Straßenzüge erinnern. Wir stehen hier nicht gerade günstig, wenn wir eine Möglichkeit suchen, hier zu verschwinden.«
»Wieso?«, fragte Fancan, »Hier fahren doch so viele Fahrzeuge herum, dass es nicht schwer sein wird, mitgenommen zu werden.«
Thomas lachte.
»Du hast Vorstellungen!«, sagte er, »Hier sind doch nirgends Haltemöglichkeiten. Außerdem sind wir zu viert. Da ist es nicht einfach, jemanden zu finden, der uns alle mitnimmt.«
»Ich würde trotzdem vorschlagen, dass wir dort zur nächstgelegenen Straße gehen und es versuchen«, schlug Giwoon vor, »es kann nämlich nicht gut sein, wenn wir hier wie auf dem Präsentierteller stehen, wenn Ralph nach uns suchen sollte.«
In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Weit über ihren Köpfen war etwas explodiert. Sie legten ihre Köpfe in den Nacken und blinzelten in die hoch stehende Sonne. Dabei konnten sie gerade noch erleben, wie ein ellipsenförmiges Fluggerät durch eine Wolke von expandierenden Partikeln schoss und danach schnell in der Ferne verschwand.
»Das war unser Slider, oder?«, fragte Khendrah.
Giwoon nickte.
»Es war die Selbstvernichtung. Der Trick scheint geklappt zu haben. Ralph macht sich aus dem Staub, um nicht von den Sicherheitskräften dieser Zeit entdeckt zu werden.«
»Dann haben wir es geschafft?«, wollte Thomas wissen.
Giwoon lachte freudlos.
»Gar nichts haben wir geschafft, Freunde«, sagte er, »in wenigen Stunden wird der Sprengsatz im Himalaja zünden. Danach tickt unsere Uhr, denn der Vektor wird sich dann sehr schnell von unten her aufzulösen beginnen. Wenn wir noch ins Jahr 2008 reisen wollen, bleibt dann nicht mehr viel Zeit.
Etwas desorientiert blickten sie sich in alle Richtungen um. Es war überall das gleiche Bild: Sie waren von Straßen umgeben, auf denen reger Verkehr ein Überqueren fast unmöglich machte.
»Es nutzt nichts«, sagte Giwoon, »wir müssen hier weg. Wenn wir noch lange hier stehen bleiben, wird sich bestimmt bald jemand dafür interessieren, wer wir sind und was wir hier verloren haben.«
»Wenn wir noch diesen Aufzug erreichen wollen, bevor das ganze System zusammenbricht, sollten wir uns auch langsam auf den Weg machen«, schlug Khendrah vor.
»Leute«, sagte Thomas, »jetzt wäre es vielleicht einmal an der Zeit, jemandem zu vertrauen, der aus der Nähe dieser Zeit hier stammt.«
Khendrah sah ihn skeptisch an.
»Aus der ‚Nähe‘ dieser Zeit?«, fragte sie, »Das mag zwar ungefähr stimmen, aber warst du schon einmal hier in dieser Stadt? Kannst du uns wirklich führen?«
»Nein, nicht wirklich«, gab Thomas zu, »aber ich weiß zumindest, dass es häufig in solchen Autobahnkreuzen Brücken gibt oder kleine Tunnel, die wir nutzen könnten, um unter solchen Fahrbahnen hindurch zu kommen. Es sollte einen Weg geben, ungefährdet aus diesem Straßengewirr entkommen zu können.«
»Und?«, fragte Fancan, »Was schlägst du vor?«
Er deutete auf eine, in weitem Bogen geführte, Auffahrt und meinte:
»Dort fangen wir mit unserer Suche an. Mir scheint, dass es dort einen Weg geben müsste.«
Die Frauen schauten Giwoon an, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.
»Ein Weg ist so gut, wie der Andere«, meinte er dann, »Thomas kann ja recht haben. Immerhin kennt er diese Art, Straßen zu bauen, wie wir sie hier sehen.«
Sie machten sich auf den Weg – vier einsame Wanderer inmitten eines Auobahnkreuzes. Khendrah sah zu der Auffahrt hoch, als sie sich ihr näherten und bemerkte einen Mann auf einem zweirädrigen Fahrzeug, der am Rand der Auffahrt angehalten hatte und interessiert zu ihnen hinabblickte.


Der nächste Teil des Romans erscheint am 09.11.2019

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