Gottes Hammer: Folkvang IX
Iliana entsann sich der Worte des Dorfpriesters in Raureif, der die Hölle als heißen, trostlosen Ort beschrieben hatte, in dem man in vollkommener Einsamkeit umherirrte. Jedoch nur dann, wenn man zu den Glücklichen zählte. Die schlimmeren Sünder, die Ketzer, Mörder und Hexen wurden von den Dämonen gequält. Dennoch war Ilianas Vorstellung von der Hölle immer einem weitläufigen, verbrannten Feld gleichgekommen, auf dem sie vollkommen allein und verlassen war.
In Hrandamaer schien es, als bewahrheitete sich ihre kindliche Fantasie.
Keine Pflanze, kein Lebewesen. Nur die bräunliche, nach Schwefel riechende Erde. Hin und wieder passierten sie verkohlte Ruinen, die wohl vor Jahrhunderten einmal Dörfer gewesen sein mochten. Öfter sahen sie Bäume, deren Äste in grotesken Winkeln abstanden, sich immer weiter verjüngten und schließlich zu weißen Knochen zu werden schienen. Es herrschte völlige Stille.
Als einziger Lichtblick in diesem verheerten Land betrachtete Iliana die Umrisse einer Kathedrale am Horizont. Sie glich entfernt dem großen Tempel, den Lifas ihr vor ihrer Begegnung mit den beiden Flüchtlingen aus Aminas gezeigt hatte, wenngleich sie dessen gewaltige Höhen in geringerem Maße teilte.
Die Stille war zermürbend. Anfangs hatten sie noch versucht, ihr Gespräch aufrechtzuerhalten, aber diese unnatürliche Abwesenheit von Tönen erstickte ihre Bemühungen wie unter einem Leichentuch. Selbst die beiden Zugpferde wirkten ermattet.
Iliana wollte Lifas nach dem Fluch fragen, vermochte jedoch kein Wort von sich zu geben. Stattdessen ließ sie ihren Blick über die endlosen Weiten von Hrandamaer schweifen. Was mochte hier nur geschehen sein?
Mit einem Mal beschleunigte ihr Herzschlag und die Pferde scheuten. Mehrere Leichen säumten die staubige Straße.
Es handelte sich um groteske Gestalten, die kaum noch als Menschen zu identifizieren waren. Das Fleisch hing ihnen in Fetzen vom Körper, der nur durch eine Kruste aus Schmutz und Staub zusammengehalten werden schien. Die Körper lagen um den frischeren Kadaver einer Kuh herum, manche sogar auf ihm. Er wirkte, als hätten hungrige Mäuler sich in sein Fleisch gegraben.
Iliana erschauderte. In ihr formte sich ein Verdacht, wie der Fluch von Hrandamaer aussah. Ihr Magen rebellierte und sie wandte sich ab. Nicht einmal Fliegen wagten sich an das verstorbene Tier heran.
Ergrimmt griff Lifas zur Peitsche. Er schien seine Nervosität unter einer Fassade aus Wut zu verbergen.
„Los!“, rief er laut. „Hü!“
Widerstrebend trabten die Pferde weiter. Nun durchbrach Iliana die Stille.
„Sollten wir sie nicht bestatten?“, fragte sie zaghaft. Sie erinnerte sich an eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Sie handelte von einem edlen Helden, der jeden besiegten Feind mit eigenen Händen zu Grabe trug und für sein Seelenheil betete.
Lifas schüttelte den Kopf. „Sie wurden bereits einmal bestattet“, entgegnete er mit einem Knurren.
Eine kalte Klaue umfasste Ilianas Herz. Ihr Verdacht entsprach wohl der Wahrheit. Nachts, wenn die Lebenden ruhten, erhoben sich in Hrandamaer die Toten.
Kurze Zeit später erreichten sie die Kathedrale. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei vielmehr um eine Stadt, die in das geistliche Gebäude gebaut wurde. Zwischen Heiligenstatuen und prunkvollen Altarbildern reihten sich Zelte aneinander, deren Bewohnern mehrere fahrende Händler ihre Waren präsentierten. Es herrschte geschäftiges Treiben, ein heftiger Gegensatz zur Stille der weiten Ebenen.
Lifas bedeutete ihr, abzusteigen und Iliana ließ sich in den braunen Staub gleiten. Der Boden knirschte unter ihren Stiefeln und sie schluckte. Sie fühlte sich, als würde sie auf Knochen wandeln.
Sie passierten mehrere Frauen, die an einem verschlossenen Brunnen hantierten. Iliana fragte sich, weshalb diese Vorsichtsmaßnahme wohl nötig war. Da kam ihr der Gedanke an die Leichen und sie beschloss, es lieber nicht wissen zu wollen.
Als Lifas durch das weit geöffnete Doppeltor schritt, erregte er sofort Aufmerksamkeit. Scheinbar war er als Sohn des Herzogs nicht unbekannt. Sofort verstummten die Gespräche und wer dennoch redete, wurde von seinem Nachbarn auf die Neuankömmlinge hingewiesen.
„Bruder!“, rief ein Mann sofort. „Wir haben hohe Gäste!“
Aus der neugierigen Menge löste sich ein gealterter Mann in der Robe eines Mönchs, auf dessen Glatze sich das durch die Buntglasfenster fallende Sonnenlicht spiegelte. Iliana entging das kantige Glaubenssymbol nicht, das er wie eine Waffe an seinem Gürtel trug.
„Herr Lifas!“, rief der Mann überrascht. „Welch eine Ehre! Wie geht es Eurem Onkel und Eurer Schwester? Ich hoffe doch, es gab im Heidenwald keine Komplikationen?“
Lifas begrüßte den Neuankömmling mit einem Nicken. Der Anflug eines Lächelns schlich sich auf sein Gesicht. Dennoch erreichte die Wärme seine Augen nicht.
„Ich grüße Euch, Bruder Thomasius. Meine Verwandten sind wohlauf. Wir erwarten bald ein Gefecht, bisher noch kein Feindkontakt.“ Iliana erschien die Erzählung wie ein militärischer Bericht.
Thomasius‘ Mundwinkel zuckten. Scheinbar hatte er nichts anderes erwartet.
„Folgt mir ins Sakrosanktum! Dort können wir genauer über die Geschehnisse sprechen!“ An die Gemeinde gewandt fügte er hinzu: „Und Ihr bereitet für den Abend ein Mahl vor! Wir haben einen Fürstensohn als Gast!“
Jubel erhob sich und Iliana warf unbehagliche Blicke in die Runde. Sie war dieses Maß an Aufmerksamkeit nicht gewohnt.
Bruder Thomasius bewegte sich mit äußerster Geschicklichkeit durch die Menschenmenge, wohingegen sich Iliana mit gemurmelten Entschuldigungen an den Leuten vorbei drängte. Jedoch erwarteten sie keine wüsten Reaktionen. Die meisten der Bewohner quittierten ihre Unbeholfenheit lediglich mit einem amüsierten Lächeln. Offenbar war dies keine Seltenheit.
Als sie in den hinteren Teil der Kathedrale gelangten, betätigte Thomasius einen verborgenen Schalter, der einen wohl ehemals geheimen Gang öffnete. Sie erklommen eine Wendeltreppe und fanden sich kurz darauf vor einer reich verzierten Tür wieder.
„Bitte, tretet ein.“ Thomasius öffnete die Tür und wies auf den kleinen Raum dahinter.
Es handelte sich um ein kleines Arbeitszimmer, in dem sich neben einem Schreibtisch außerdem ein Bücherregal und eine unbequem wirkende Koje befanden. Kaum fiel die Tür ins Schloss, fiel Thomasius Lifas in die Arme.
„O Junge!“, rief er leise. „Ich war schon in Sorge! Das Orakel …“
Lifas räusperte sich vielsagend und deutete auf Iliana. Thomasius brach sofort ab und musterte sie, als sähe er sie zum ersten Mal.
„Ist diese junge Maid nicht eingeweiht?“, fragte er ehrlich überrascht.
Iliana errötete. Man hatte sie noch nie zuvor als Maid bezeichnet.
Lifas schüttelte den Kopf. „Sie erfährt es noch bald genug. Wir sind auf dem Weg nach Hrandars Faust.“
„Was erfahre ich früh genug?“ Iliana runzelte die Stirn. „Dass in der Nacht die Toten umgehen?“
Die beiden Männer sahen sie überrascht an.
„Das ist doch der Fluch, oder?“, fügte sie hinzu. „Esben hat etwas in der Art erwähnt und wir haben auf dem Weg hierher ein halb aufgefressenes Tier gesehen.“ Ihr fragender Blick galt vor allem Lifas.
Der Ritter räusperte sich. „Zugegeben, ich wollte dich schonen und dir das verheimlichen. Aber wir sprechen von etwas anderem.“ Seine Augen glitzerten. „Medardus meinte, du hattest Visionen. Das Orakel kann dir alles besser erklären als wir.“
Iliana verdrehte die Augen. „Hältst du mich für zartbesaitet?“, fragte sie schmollend. Wenn er sie duzte, konnte sie das auch. „Vergiss nicht, ich war in Hornheim und habe gegen Sitraxa gekämpft!“
Lifas‘ rechte Augenbraue wanderte nach oben, obgleich widerwilliger Respekt in seinem Blick glitzerte. Thomasius erbleichte.
„Das hast du bisher noch nicht erwähnt.“
„Ich ging davon aus, Medardus erzählt seinen Tempelsöhnen sowieso alles“, konterte Iliana.
„Gegen diese Bestie?“, klagte der Bruder. „Gott helfe uns allen! Die Gerüchte stimmen! Die Dämonen toben auf der Welt!“
„Sind die Gerüchte bereits bis hierher gelangt?“, fragte Lifas den Mann irritiert.
Thomasius nickte zerknirscht. „Ein fahrender Händler war vor kurzer Zeit hier. Er berichtete, dass angeblich ein Dämon den Bischof von Aminas geholt hätte.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Nicht, dass dieser wollüstige Bock es nicht verdient hätte, aber es gibt einem doch sehr zu denken!“
„Es ist weit schlimmer“, flüsterte Iliana. „Die Dämonen haben die Stadt übernommen.“
Thomasius flüsterte einige Worte in der Alten Sprache, ehe er entkräftet in seinen Stuhl sank. Ein unheilsschwangeres Knarren hallte durch den Raum.
„Gott steh uns bei!“, flüsterte er und fächelte sich mit seiner Hand Luft zu. „Was, wenn sie auch nach Hrandamaer kommen?“
„Keine Sorge.“ Lifas‘ Stimme klang hart. „Medardus befehligt unser Heer. Wenn jemand diese Bedrohung aufhalten kann, dann er.“
„Medardus? Der Inquisitor?“ Als Lifas nickte, stöhnte Thomasius auf. „An ihn habe ich keine guten Erinnerungen. Man erzählt sich viel über seine Vergangenheit … angeblich soll er aus Astaval stammen und mit dem Tempelsohn Mendatius einen Dämon besiegt haben, bevor er seine Stimme opferte …“
„Wir alle kennen die Geschichten“, erwiderte Lifas.
„Ich nicht!“, entgegnete Iliana beleidigt. Lifas ignorierte sie.
„Falls die Dämonen den Händlern die Reise nach Hrandamaer verbieten, könnt ihr euch dann versorgen?“, fragte er besorgt.
Thomasius holte ein fleckiges Tuch hervor und fuhr sich damit über seine mit Schweißperlen bedeckte Stirn. „Ich weiß es nicht“, bekannte er. „Die Lieferungen aus Astaval gehen zum größten Teil nach Hrandars Faust, aber wenn ich mit Ashaya spreche …“
Der Name durchzuckte Iliana wie ein Blitz. Berith hatte ihr geraten, diese Person aufzusuchen! War sie etwa eine Fürstin?
Lifas nickte bedächtig. „Sie ist zwar eine Freundin meines Onkels, aber dennoch für Argumente zugänglich.“
Thomasius neigte den Kopf. Schalk blitzte in seinen Augen auf. „Hat sich Abigors Gebahren noch nicht zum besseren gewandt?“
Lifas seufzte resigniert. Kurz verschwand der Ingrimm aus seiner Miene.
„Sagt, Bruder Thomasius, ist er wirklich ein Gelehrter? Mit jedem neuen Tag zweifele ich mehr daran.“
Thomasius lachte auf. Das herzhafte Geräusch besaß solche Lautstärke, dass Iliana erschrocken zusammenzuckte.
„Ich denke nicht, dass dies die Zeit ist, um einen alten Freund zu diskreditieren“ erwiderte er mit einem Augenzwinkern und wandte sich dann plötzlich Iliana zu. „Aber nun zu Euch, junge Maid. Ihr habt sicher viele Fragen. Genauso wie ich. Wie kommt es, dass Ihr Euch derart … kämpferisch kleidet?“
Iliana sah an ihrem Körper hinab und errötete erneut. Sie hielt noch immer den Bogen in der Hand. Zusammen mit ihrer praktischen Kleidung wirkte sie wie eine Waldläuferin.
„Wie gesagt, ich habe gekämpft!“, antwortete sie etwas lauter als gedacht. „Versucht das einmal in einem Kleid!“
Die Vorstellung schien den Mönch zu erheitern. „Ich kämpfe auch, meine Liebe. Dennoch trage ich immer meine Kutte.“
Iliana verdrehte die Augen. „Ich dachte, ich dürfte die Fragen stellen?“
Thomasius erteilte ihr mit einer einfachen Geste die Erlaubnis. Iliana holte tief Luft. „Was hat es mit dem Fluch genau auf sich? Erheben sich die Toten wirklich aus den Gräbern?“ Sie hoffte inbrünstig, dass sie falsch lag.
Der Mönch seufzte. „Ich teile dies einer Maid nur äußerst ungern mit … aber ja. Das tun sie.“ Er räusperte sich. „Vor mehr als siebenhundert Jahren waren diese Lande noch fruchtbar und wunderschön. Zu dieser Zeit entstand das Kaiserreich mit seiner Hauptstadt Sankt Emerald. Es verleibte sich Astaval und Aminas in Windeseile ein, über unsere Grenzen kam es jedoch zunächst nicht hinaus. Unsere Vorfahren waren stark und wohlhabend. Sie hielten wenig davon, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. So existierte unser Königreich jahrelang neben dem Kaiserreich in Frieden.“
Er machte eine theatralische Pause. Lifas schien sich zu verspannen. Nun kam wohl der unangenehme Teil der Geschichte.
„Jedoch waren unsere Vorfahren heidnisch. Sie verspotteten den Glauben an den einen Gott im Süden. Aus dieser Zeit stammt die Geschichte vom Heiligen Lifas.“ Thomasius räusperte sich erneut. „Er kam in unsere Lande, um die Botschaft des Herrn zu verkünden. Nach einigen Predigten ließ König Androg ihn jedoch festnehmen und verhören. Was er hörte, gefiel ihm nicht.“
Bei diesen Worten glitzerten Thomasius‘ Augen mit einem Mal wie abgründige Sterne. Iliana schluckte. Sie konnte seine Miene nicht deuten, aber sie vermutete, dass seine leidenschaftliche Frömmigkeit nun zutage trat.
„Androg war ein verabscheuungswürdiges Wesen, alt und verbittert. Er stützte seine Macht auf den heidnischen Glauben und paktierte heimlich mit Dämonen. Er sah Lifas als Gefahr für seine Herrschaft an und ließ ihn daher öffentlich martern, um ihn zum Abschwören zu bringen. Aber der Heilige ertrug alle Qualen und immer wenn die Wachen ihn fragten: „Bekennst du dich zu Fimbultyr, unserem obersten Gott?“, antwortete er: „Ich bekenne mich zu dem einen Gott, der uns geschaffen und geformt hat und in dessen Auftrag ich hierher kam“ und zeigte keine Schwäche. Schließlich ließ Androg den Heiligen von Hunden zerfleischen, aber Lifas hatte das Volk bereits so beeindruckt, dass viele zum wahren Glauben übertraten. Sie wurden alle von der Katastrophe verschont, die da kommen sollte.
Denn Gott der Herr schickte seinen Todesengel, um Androgs Grausamkeit zu bestrafen. Eine Seuche kam über das Land und raubte die Leben all derer, die Lifas verspottet hatten. Androg verlor seine Frau und sein einziges Kind. Doch anstatt Buße zu tun und die Größe des einen Gottes anzuerkennen, beging er noch einen Fehler.“
Ilianas Hände krallten sich in die Lehne ihres Stuhls. Die Stimmung im Raum war gekippt. Merkwürdige Anspannung ging von Lifas und Thomasius aus. Sie wirkten mit einem Mal ernst und erhaben, so als ob eine himmlische Eingebung sie von einem Moment auf den anderen über das Profane gestellt und ihnen die göttliche Wahrheit offenbart hätte. Iliana fühlte sich unwohl. Sie hatte ihren Glauben vor Arinhilds Scheiterhaufen und in den Verliesen Hornheims zurückgelassen und machte auch kein Hehl daraus. Sie fühlte sich fehl am Platz, wie ein Eindringling.
Thomasius‘ Augen schienen sich in ihre Seele zu brennen, als er fortfuhr.
„Der Teufel erschien Androg und bot ihm einen unverschämten Handel an: Er würde seine Familie wiedererwecken, wenn er dafür ein bestimmtes Ritual ausführte. Worin diese unheilige Zeremonie genau bestand, ist heute unbekannt. Zum Glück. Aber viele berichten, dass Androg die Häupter von siebenhundert frommen Männern zusammentrug, im Blut von neunhundert Kindern badete und dreizehn schwarze Messen las. Diese schreckliche Hybris brachte den Fluch über dieses Reich. Androgs Frau und Kind kehrten tatsächlich zurück, aber sie waren nur tote Hüllen ohne Seele. Aus Gram nahm sich Androg das Leben und stürzte in die Hölle, während sich die Toten in ganz Hrandamaer aus ihren Gräbern erhoben.“
Iliana dachte an Berengar zurück, an Herzogin Velis‘ untoten Diener in Hornheim. Er hatte behauptet, als Hrandar noch immer über seine volle Geisteskraft zu verfügen. Scheinbar verhielt es sich mit diesen Geschöpfen anders.
Thomasius‘ Stimme wurde lauter. „In dieser Nacht fanden tausende Menschen den Tod. Die Erde brannte, die Pflanzen vertrockneten und das Vieh starb in Raserei. Die wenigen Überlebenden errichteten Kathedralen im ganzen Land und nutzten die heilige Magie, um sich vor den Schrecken der Nacht zu schützen. Denn bis heute suchen uns in der Dunkelheit die Leichname Verstorbener heim. Aufgrund unserer Schwäche konnte uns das Kaiserreich leicht beanspruchen, obwohl wir nie erobert worden sind. Wegen des Fluchs nennen die Menschen dieses Herzogtum bis heute „Hrandae Maer“ … „die Kunde von Untoten“. So werden wir immer an die Dunkelheit erinnert, die uns stets bedroht.
Unsere Aufgabe ist daher, Buße zu tun für die Verbrechen unserer Ahnen. Wir sind Menschen des Glaubens, denn wir leben mit dem Glauben und der Glaube beschützt uns“, verkündete der Mönch inbrünstig. „Daher hat Lifas auch bei seiner Weihe zum Tempelsohn den Namen unseres großen Heiligen angenommen.“
Iliana warf dem Ritter einen verstohlenen Blick zu. Langsam verstand sie, weshalb er stets solch üble Laune hatte. Scheinbar wollte er ständig für die Vergehen seiner Ahnen büßen. Iliana hielt diese Einstellung für geistig minderbemittelt, schließlich hatte er ja nichts verbrochen, aber sie behielt ihre Gedanken lieber für sich. Lifas und Thomasius wirkten, als ob ihnen diese Ideologie viel bedeutete.
„Danke“, sagte sie stattdessen nur. Als sie sah, dass Thomasius scheinbar mehr von ihr erwartete, räusperte sie sich verlegen. „Ich denke, ich verstehe jetzt vieles besser“, fügte sie vage hinzu.
Thomasius nickte zufrieden. Die himmlische Erhabenheit schien von ihm abzufallen wie ein abgestreifter Mantel. „Habt Ihr sonst noch Fragen?“
Iliana schüttelte den Kopf. Sie musste erst die vielen Informationen verarbeiten, die der Mönch ihr soeben gegeben hatte.
„Dann lasst uns nach unten gehen!“, schlug Thomasius vor und wies durch ein Fenster nach draußen. „Die Sonne geht bald unter und bis Hrandars Faust ist es ein weiter Weg. Ihr werdet hier nächtigen müssen, wenn ihr euch nicht durch Horden von toten Leibern kämpfen wollt.“
Iliana glaubte zwar nicht, dass irgendetwas sie nach ihrer Begegnung mit Sitraxa noch schockieren konnte, aber sie wollte lieber kein Risiko eingehen.
Als sie sich erhoben, entging Iliana jedoch nicht der Verdruss in Lifas‘ Augen. Scheinbar hätte er die Geschichte seiner Heimat lieber vor ihr geheim gehalten.
Iliana schluckte. Sie wurde das Gefühl nicht los, an etwas sehr Dunklem zu rühren.
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Berith stand in voller Rüstung im Rathaus von Aminas. Azrael hatte die Verwaltung der Stadt einstweilen ihm überlassen. Der Dämon spähte durch die Fenster nach draußen und entdeckte mit zusammengekniffenen Augen den Schemen einer geflügelten Person am Horizont. Die Augen gewöhnlicher Menschen würden nicht ausreichen, um ihn zu bemerken, seine hingegen schon. Er konnte nur von Glück sprechen, dass die Privatgemächer des Bürgermeisters so hoch lagen. Von hier aus konnte er selbst die verlassene Kirche mit den Zwillingstürmen entdecken, in der Herzogin Velis Azrael zum ersten Mal begegnet war. Berith fluchte.
Der Schemen kreiste unaufhörlich weiter.
Er wusste, dass es sich hierbei um den Engel, um die Elphahir, handeln musste. Folkvang war früher aktiv geworden, als sie alle gedacht hatten.
„Gibt es Unannehmlichkeiten, Herr?“
Berith wandte sich um und entdeckte Ashaya. Ihr Gesicht lag im Schatten und ihre unvergleichlichen, violetten Augen stachen durch die Dunkelheit wie glühende Dolche.
„Du bist früher hier, als ich dachte.“ Berith warf einen letzten prüfenden Blick durch das Fenster. Der Schemen kreiste immer noch. „Kommt Abigor uns auf die Schliche?“
„Er kennt nur einen Teil der Wahrheit und verzweifelt bereits daran“, antwortete Ashaya. „Esben hingegen ist ein Problem. Er wurde von unserer Kontaktperson außer Gefecht gesetzt.“
Berith nickte langsam. „Lass ihn zu mir bringen. Wir können ihn nicht eliminieren. Azrael scheint Pläne mit ihm zu haben. Er hat mir bereits einen speziellen Auftrag erteilt.“
Ashaya nickte langsam. Das lange schwarze Haar fiel ihr offen auf die nackten Schultern. Ihr schwarzer Mantel besaß einen tiefen Ausschnitt, der die Brandzeichen offenbarte. Es handelte sich um alte und mächtige Worte, die selbst Azrael nicht kannte. Durch diese Magie war Ashaya eine wertvolle Waffe in Beriths Händen.
Seine Blicke glitten über ihr unschickliches Gewand. „Planst du, dich Lifas und Iliana in diesem Aufzug zu zeigen?“
Ashaya lachte. Dieser Laut ließ Berith wohlig erschaudern. Er beinhaltete etwas Reines, Unschuldiges, das nicht zum provokanten Auftreten der Frau passen wollte. Berith konnte die Regung in seinem Inneren nicht beschreiben, aber ihr Lachen erinnerte ihn daran, dass die Welt nicht nur ein Konglomerat aus Schmutz und Blut war.
„Fürchtet Ihr um Hornheims untadeligen Ruf?“
Berith wandte sich kopfschüttelnd ab. „Hin und wieder denke ich, du solltest eher die Untergebene von Malfegas oder Ungoros sein. Du würdest besser zu ihnen passen.“
Ashaya rümpfte die Nase. „Malfegas? Dieser riesige Löwe? Und Ungoros, der wandelnde Fleischklumpen? Nein, da bleibe ich lieber bei Euch.“
Sie erschien ihm tatsächlich wie ein Kind. Sie wirkte fröhlich, verspielt und beurteilte jede Person nach ihrem Äußeren. Kein Wunder, dass sie Azrael gegenüber Irodeus bevorzugte. Der alte Dämonenkönig hatte sich vieler Eigenschaften rühmen können. Schönheit gehörte nicht zu ihnen.
„Dann verfahren wir ab jetzt streng nach Plan“, sagte er. „Aminas gehört quasi uns und wenn wir Hrandamaer haben, ist auch Astaval gefügig. Das heißt, was davon noch übrig ist.“ Berith wusste nicht, was Azrael mit dem nahezu entvölkerten Herzogtum zu tun gedachte. Er hoffte inständig, dass der König sich nicht dazu verleiten lassen würde, seinen menschlichen Gefühlen nachzugeben und Rache an Hrandamaer zu nehmen. Emotionen standen einem Gott schlecht zu Gesicht.
Ebenso wie einem Wissenschaftler, wie er es war.
Er würde Esben ein Angebot unterbreiten, dass er nicht abschlagen konnte.
„Werden sie rechtzeitig in Hrandars Faust sein?“, fragte Berith Ashaya.
Die Frau nickte. „Morgen rechne ich mit ihrer Ankunft.“
Er lächelte. Eine rare Geste, die sich jedoch in den letzten Tagen häufte.
Ihr Plan ging auf.