Die Wölfe von Asgard – Die Heimkehr

»Verschwunden sagst du? Seid ihr euch da sicher?« Yorrick gelang es nur mit Mühe, einen Fluch zu unterdrücken. 
Die Nachricht über Islavs Verrat hatte sich wie ein Laubfeuer unter den Männern ausgebreitet und sie suchten bereits einen halben Tag nach dem gebrochenen Jarl. 
»Wir haben alle Schiffe auf den Kopf gestellt. Sogar die der Ustenströmer. Nichts«, erwiderte Knutson zähneknirschend. »Und um die ganze Insel abzusuchen, fehlen uns die Männer. Viele sind damit beschäftigt, die Toten auf die verbliebenen Schiffe zu schleppen. Die anderen bewachen die Ustenströmer, die du Narr verschont hast. Nur die Götter wissen, woher du solche schwachsinnigen Einfälle nimmst.«
Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über die Lippen des Schiffsbaumeisters. »Die Götter, ja. Oder aber eine mutige Stimme, durch die sie gesprochen haben.«
»Manchmal redest du in Rätseln, alter Freund«, grübelte Knutson laut. 
»Mag sein«, erwiderte Yorrick. »Doch wenn ich mir unsere Reise so ansehe, dann scheint es mir fast, als sei dies alles von ihnen geplant gewesen. Es war eine Prüfung.« 
Knutson bellte ein Lachen und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Dass ich diese Worte noch einmal aus deinem Munde hören darf. Von jenem, der den Göttern einst abschwur.«
»Es brauchte ein Zeichen«, schmunzelte Yorrick. 
Für einen Augenblick schien Knutson zu stutzen. Dann weiteten sich seine Augen. »Das Heulen des Wolfes, das wart doch ihr, oder nicht?«
Yorrick blickte ihn überrascht an. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, entgegnete er verwundert. Dann erhob er sich achselzuckend, um die Männer zu versammeln.

***

»Das Schwert und die See. Der Traum von Freiheit. Von Ruhm und Tapferkeit. Von einem glorreichen Tod, den die Skalden besingen und die Götter bedauern. Das ist es, was uns Nordmännern in die Wiege gelegt wurde. Das ist es, wofür wir mit jedem Atemzug leben und kämpfen.« Aegir schritt durch die gelichteten Reihen der Krieger. »So sagt man es uns nach. So sagen wir es uns selbst nach.« Er deutete auf die drei großen Schiffe, die ganz langsam aus der Bucht steuerten, hinein in die dunkle, endlose See. »Doch sind wir nicht viel mehr als nur der Schrecken der Meere? Als ehrenhafte Krieger?« Sein Blick wanderte durch die Reihen und haftete sich an seinem Bruder fest, der ihm gebannt lauschte. »Wenn ich mich so umsehe, sehe ich mehr als nur das. Ich sehe Feinde, die zu Freunden wurden«, er nickte Knutson und Snorri zu, »Ich sehe Männer, die ihren Glauben wiedergefunden haben«, sein Blick steuerte für einen Moment zu Yorrick, »und ich sehe eine große Heldin, die wahrhaft würdig ist, ihren Weg in die heiligen Hallen an die Seite unserer Brüder zu finden.« Aegir zeigte in Richtung der Schiffe, die die Toten ins Jenseits trugen. »Denn in der gestrigen Nacht wurde uns gelehrt, dass auch wir dem Fluch der Sterblichkeit verfallen sind. Dass auch Helden fallen können.« Für einen Moment hielt er inne, verdrängte den Schmerz des Verlustes und sammelte seine Worte. Es war seine Aufgabe, die Männer zusammenzuhalten. Der Erbfolge nach würde er der neue Jarl von Skiringssal werden. Als solcher stellte es seine Pflicht dar, die Gefallenen würdevoll zu verabschieden. Er blickte in traurige, aber gefasste Mienen, die allesamt zu ihm heraufschauten.
»Heute ehren wir jene, die den morgigen Tag nicht erleben dürfen. Heute ehren wir ihren Mut, das eigene Leben für die Kameraden aufs Spiel zu setzen. Sie haben sich als würdig erwiesen, ein bedeutsames Leben nach dem Tod zu erfahren, ganz gleich, ob es sie an die Pforten von Walhall führen mag oder in den Himmel.« Er atmete tief durch, fokussierte seine Gedanken. »Denn wir sind bei ihnen und senden ihre Seelen mit den besten Wünschen ins Jenseits«, rief er so laut, dass es noch bis in den letzten Winkel der Welt hallen musste. 
»Auf dass die Götter sie für würdig halten und als Gäste empfangen«, murmelte die Menge. 
Dann schritten Snorri, Yorrick und Knutson vor, in ihren Händen hielten sie jeweils eine brennende Fackel, welche die schwarze Nacht mit einem matten Flackern erhellten. Wie Sternschnuppen segelten sie durch die Luft und steckten die Schiffe in Brand. Die Flammen leckten am Holz der Geri, auf der Deila ihre letzte Reise antreten würde. Islav hatte das stolze Schiff kein Glück gebracht und da er in Ungnade gefallen war, hatten sie einstimmig beschlossen, die Valkyre von Skiringssal auf ihr zu bestatten. 
Eine letzte Ehre. Die einzige, die wir dir jemals erteilt haben. 
Aegirs Miene verfinsterte sich vor Kummer. Ylvie hatte auf dieser Insel einen wichtigen Teil ihrer Familie verloren. Wie sollte er ihr nur beibringen, dass sie Islav zurückgelassen hatten? Was er dem Dorf angetan hatte? Dass ihre Schwester seinetwegen gestorben war. Er wusste es nicht. Ebenso wenig wie er wusste, ob er das Zeug zum Jarl hatte. Er sehnte sich nach Ruhe. Jetzt mehr denn je. Doch das Schicksal schmiedete offenbar andere Pläne mit ihm. Seufzend ließ er sich in den Sand fallen und dachte nach.

***

Snorri torkelte schlaftrunken über das Deck. Es war noch sehr früh und dichter Nebel hatte sich über die See gelegt. Die meisten Männer schliefen noch. Als er Aegir am Bug lehnen sah, erhellte sich seine Miene schlagartig. Seit den Geschehnissen in jener Nacht, bevor sie das Kloster erreicht hatten, hatten sie nie die Zeit gehabt, um zu reden. Und alles in ihm sehnte sich nach Versöhnung mit seinem Bruder.
»Ein letztes Omen. Der Weg, der nun vor uns liegt, ist so undurchsichtig wie der Morgennebel«, raunte ihm Aegir zur Begrüßung entgegen. 
»Doch wird er sich lichten und einen Blick auf die Heimat gewähren«, erwiderte Snorri und ließ sich neben seinem Bruder nieder. »Das, was ich dir vor ein paar Tagen vor den Kopf geworfen habe«, begann Snorri vorsichtig, doch Aegir winkte ab. 
»Du warst noch nicht soweit, es zu erkennen. Die Wahrheit kostet immer einen Preis. Wähle weise, ob du bereit bist ihn zu bezahlen und ob du mit der Wahrheit leben kannst.«
Snorri atmete auf. Dass sein Bruder ihm vergab, bedeutete ihm viel, angesichts der Torheit, die er ihm entgegengebracht hatte. »Ich möchte mich bei dir bedanken. Du hast versucht mir die Augen zu öffnen, aber ich war wie geblendet von Versprechungen. Scheinbar musste ich erst erleben, was es bedeutet, ein Leben zu fordern, um zu verstehen, dass ich es nicht kann.« Beschämt schaute er zu Boden. 
»Du hast dich verhalten, wie ich es von einem jungen Narren nicht anders erwartet hätte. Es freut mich, dass du wahrhaft schnell begriffen hast«, erwiderte der Riese sanft. »Es gab Momente, da fürchtete ich um dein Leben.«
»Du weißt doch, so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen«, grinste Snorri schelmisch, bevor er beschwichtigend die Hände hob, um Aegirs bohrendem Blick zu entgehen. »Und wie geht es dir? Die Hände wieder in Blut zu tauchen schien dir nicht allzu schwer zu fallen. Du wirktest wie im Rausch.«
»Ich kannte den Preis, der mir abverlangt werden würde und doch habe ich keinen Moment gezögert. Du wirst noch lernen, dass es keinen Unterschied macht, ob man nun Unschuldige oder Verräter abschlachtet. Den Unterschied macht es, wofür du dich entscheidest zu kämpfen. Ich lasse doch nicht meine Familie im Stich.« 
Snorri klopfte ihm auf die Schulter. »Und dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Sei dir gewiss, dass ich auf dieser Reise viel gelernt habe.« 
»Nicht nur du«, schmunzelte Aegir. »Wir alle haben etwas gelernt, über den Preis des Lebens. Du hast Yorrick davon abgehalten, noch mehr Gefangene zu opfern. Knutson hat gelernt, mit Demut an andere heranzutreten und ich? Ich habe schmerzhaft gelernt, dass nicht jedes ausgesprochene Wort von endloser Dauer sein kann.«
Snorri gab ihm Recht. Er hielt kurz inne, hielt die Worte, die er nun aussprechen würde, für einen Moment zurück. »Ich werde Skiringssal verlassen, Bruderherz«, flüsterte er dann leise. 
»Du willst was?«, Aegir riss vor Verwunderung die Augen weit auf. 
»Nicht so laut. Die Anderen werden es nicht heute erfahren.« Snorri blickte sich verstohlen um, doch an Bord regte sich nichts. »Das was ich auf dieser Fahrt gelernt habe, möchte ich in der Welt verbreiten. Gottes Wort soll mich führen. Ich hörte von Wanderpredigern, die durch Schweden und Dänemark reisen. Ich werde sie bitten, mir ihre Bräuche zu lehren, um Gottes Willen zu verkünden. Damit wir nicht mehr sinnlos töten müssen.«
»Ein nobles Ziel«, antwortete Aegir, nach reichlicher Bedenkzeit. »Doch versprich mir, dass du nicht blauäugig drauflos stürmst. Bedenke deiner Taten und der Menschen, die dich umgeben. Lass sie deine Gutgläubigkeit nicht ausnutzen und erkenne die Wahrheit, bevor sie es tun.«
Snorri gelobte es feierlich. 
Aegir lehnte sich mit einem steifen Nicken auf die Reling und schien für einen Augenblick in Gedanken zu schweifen, während er versuchte, irgendetwas im Nebel zu identifizieren. »Die Suppe lichtet sich allmählich. Das wurde auch langsam Zeit. Aufstehen, ihr Faulpelze! Na wird’s bald?« Er begann damit, die Männer auf ihre Positionen zu scheuchen. 
Snorri lehnte sich an die Reling und beobachtete das Ganze mit einem Lachen auf den Lippen. Dann richtete sich sein Blick in die Ferne, wo der Nebel sich allmählich lichtete und plötzlich wie aus dem Nichts die skiringssaler Klippen vor ihnen auftauchten.Jubelrufe erklangen, doch Snorri fiel nicht mit ein. Diese Reise hatte ihn verändert. Hatte ihn erwachsen werden lassen. Innerlich dankte er Aegir für alles, was er ihn gelehrt hatte. Morgen würde er sich auf den Weg machen. Kein Abschied, kein Unverständnis, keine große Trauer. Snorri atmete die salzige Seeluft ein und schloss für einen Moment die Augen. Wahrlich, der Geruch der Veränderung lag in der Luft, er konnte ihn förmlich schmecken. Hatte er sich doch gestern noch auf die wohlverdiente Ruhe der Heimat gefreut, so erschien es ihm heute unmöglich zu rasten. Denn eine neue, große Reise lag nun vor ihm.

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