16. Teil – High Noon (1/3)
Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, das Khendrah auf sich genommen hatte, Thomas in einen Kämpfer zu verwandeln. Die Hypnoseschulung hatte er gut verkraftet, doch ohne praktische Erfahrung im Nahkampf mit und ohne Waffen war dieses Wissen nichts Wert. Also trainierte Khendrah täglich mehrere Stunden mit ihm im Trainingsraum der Jahresstation. Am schwierigsten war es, Thomas die notwendige Kondition und eine gewisse Beweglichkeit zu verschaffen. Wochenlang brachte sie ihm alles bei, was sie konnte und ganz allmählich wurde Thomas immer besser und es fiel Khendrah von Tag zu Tag schwerer, ihn zu besiegen. Auch der Umgang mit den Waffen der Agenten wurde immer besser.
Schließlich war es so weit.
»Morgen werden wir ins Jahr 2110 reisen und Gunter Manning-Rhoda aufsuchen«, entschied sie, »wir sind nun zwei gute Kämpfer und sind hoch motiviert. Mit der richtigen Ausstattung sollte es möglich sein, Herwarth Thobens Killer zurückzuschlagen und deinem Nachkommen das Leben zu retten.«
»Um wie viel Uhr Ortszeit wurde Gunter getötet?«, wollte Thomas wissen.
»Gegen Mittag«, sagte Khendrah, »wir sollten daher schon am frühen Morgen dort eintreffen und uns bereit halten.«
»Hast du vor, mit Gunter Kontakt aufzunehmen?«, wollte Thomas wissen.
»Das lässt sich wahrscheinlich nicht umgehen«, vermutete Khendra, »aber wir sollten ihm keinesfalls unsere wahren Identitäten verraten. Wir erledigen das Problem mit den Killern, sehen zu, dass die lokalen Sicherheitskräfte es mitbekommen und ziehen uns wieder zurück. Das sollte reichen, um die Polizeikräfte dieser Zeit auf Herwarth Thobens Fährte zu setzen.«
»Wann sollen wir starten?«, fragte Thomas.
»Ich würde vorschlagen, dass wir uns jetzt gleich ausrüsten und uns auf den Weg machen.«
Thomas machte ein skeptisches Gesicht.
»Was ist mit Fancan?«, fragte er, »Besteht nicht die Gefahr, dass man uns in der äußeren Zeit finden kann, wenn wir dort herumlaufen?«
Khendrah winkte ab.
»Wir werden nicht lange genug dort sein, um einen Scan fürchten zu müssen. Ganz so schnell sind die Suchsysteme der Behörde nun auch wieder nicht.«
Sie gingen in die Waffenkammer und schauten sich um. Es war schon faszinierend, dass man alles, was man benötigte, einfach aus einer Waffenkammer einer Station holen konnte, die eigentlich gar nicht in Betrieb sein durfte. Es war alles da, was man sich nur wünschen konnte: Sicherheitskleidung gegen Projektilwaffen und Anilihationswaffen, die Waffen selbst, jede Menge Munition, sowie jegliche Art von Kommunikatoren. Sie entschlossen sich, sogenannte In-Ohr-Geräte zu verwenden, um immer in Verbindung zu bleiben. Die Waffen waren recht klein, sodass sie bis an die Zähne bewaffnet in Richtung Zeitaufzug marschierten. Khendrah beseitigte die Zugangssperre, die bisher verhindert hatte, dass jemand unangemeldet in ihre Station eindringen konnte. Kurz danach öffnete sie die Tür und sie betraten die Kabine.
Thomas fühlte sich eigenartig, als er an sich herunterblickte. Bis vor kurzer Zeit war er ein unwissendes Opfer der Behörde und nun machte er sich bereit, an der Seite einer Zeitagentin selbst in einen verrückten Kampf zu ziehen. Khendrah stellte die Zielzeit ein und drückte auf den Start-Knopf, worauf sich die Kabine in Bewegung setzte.
Khendrah betrachtete Thomas eingehend. Bei ihm hatte sie ganze Arbeit geleistet. So leicht würde es niemand fertig bringen, ihn zu überwältigen. Ihr ganzer Blick drückte Anerkennung aus.
»Was ist?«, fragte Thomas, der ihren Blick bemerkt hatte.
»Ach, es ist nichts«, sagte sie lächelnd, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. »Es ist nur … du hast dich verändert. Deine ganze Haltung ist härter, selbstbewusster geworden. Ich habe nicht mehr das Gefühl, für deine Sicherheit sorgen zu müssen. Nein im Gegenteil – ich fühle mich sicher, weil ich dich bei mir habe.«
»Es gefällt dir also?«, fragte Thomas, nach Zustimmung heischend.
Khendrah tat ihm den Gefallen und sagte mit einem schweren Seufzer: »Oh ja, das gefällt mir sehr.«
Thomas‘ Blick fiel auf die Zeitanzeige der Kabine. Nur noch wenige Jahrhunderte und sie würden ihr Ziel erreicht haben.
»Was meinst du, wird man dort, wo wir gleich ankommen, erkennen, dass wir bewaffnet sind?«, fragte er.
»Wenn wir Pech haben, kann das geschehen«, vermutete Khendrah. »Wir sollten daher versuchen, so schnell wie möglich ans Ziel zu gelangen.«
Ein Signal zeigte an, dass die Kabine das Jahr 2110 erreicht hatte. Entschlossen drückte Khendrah die Tür auf und sofort stürzte die Realität des Jahres 2110 auf sie ein.
Sie standen am Rand einer extrem stark befahrenen Straße und es herrschte ein unglaublicher Lärm. Thomas hielt sich unwillkürlich die Ohren zu. Er stammte selbst aus einer Großstadt und kannte Verkehrslärm, doch dieser hier sprengte jeden Rahmen. Er blickte nach oben und sah, dass sich der Verkehr nicht nur auf die Straße am Boden beschränkte, sondern dass zahllose Flugmaschinen in – nicht enden wollenden – Bändern in unterschiedlichsten Höhen umherflogen. Der Stadtverkehr hatte in dieser Zeit offenbar die dritte Dimension erobert.
Hunderte von Passanten flossen wie ein zäher Brei an ihnen vorbei und stießen zum Teil mit ihnen zusammen. Entschuldigungen oder auch Beschimpfungen schallten von allen Seiten.
»Wir sollten hier nicht stehen bleiben!«, rief Khendrah Thomas ins Ohr. »Es fällt auf, wenn wir die Leute behindern, in dem wir hier einfach nur herumstehen.«
Sie stieß Thomas in eine Richtung und sie passten sich dem Fluss der Passanten an.
»So habe ich es mir nicht vorgestellt!«, rief Thomas. »Wie sollen wir uns hier überhaupt zurechtfinden?«
»Es muss hier irgendwo sogenannte Infoboxen geben«, antwortete Khendrah. »Wir müssen eine finden und können dann herausfinden, wo wir Gunter Manning-Rhoda finden können.«
Sie liefen noch eine Weile weiter und quetschten sich durch die Menschenmenge, ohne eine Infobox zu finden. Thomas begann zu schwitzen, denn es war ein heißer Sommertag und die Sonne brannte erbarmungslos in die Straßenschluchten hinein. Diesen Umstand hatten sie leider bei der Wahl ihrer Ausrüstung nicht bedacht, denn sie waren weit und breit die einzigen Menschen, die mit körperbedeckender Kleidung anzutreffen waren. Viele der Passanten starrten sie ungläubig an, während sie an ihnen vorbei liefen. Thomas ließ sich von der Erscheinung der jungen Mädchen ablenken, die ihnen entgegen kamen. Offenbar war die Mode für junge Mädchen noch freizügiger geworden, als sie schon im Jahre 2008 gewesen war. So trugen Manche lediglich einen extrem kurzen Rock und nicht einmal ein Oberteil. Oft verhinderten lediglich die in dieser Zeit sehr lang getragenen Haare einen Blick auf die blanken Brüste der jungen Frauen. Niemand schien jedoch daran Anstoß zu nehmen, denn niemand nahm davon besonders Notiz – bis auf Thomas, der überhaupt nicht wusste, wo er hinblicken sollte. Als Khendrah bemerkte, wie sehr Thomas abgelenkt war, knuffte sie ihn in die Seite.
»Verdammt Thomas, nimm dich zusammen! Niemand außer dir starrt die Frauen an! Es ist wohl normal, wie sie hier herumlaufen, also benimm dich bitte auch normal!«
Thomas fühlte sich ertappt. »Finde lieber eine Infobox, anstatt mich zu kontrollieren!«
Es dauerte noch einige Minuten, doch dann sahen sie in der Ferne eine Art Telefonzelle mit einem großen weißen Buchstaben »i« auf blauem Grund, welches sich auf ihrem Dach drehte.
»Das muss es sein!«, rief Khendrah und beschleunigte ihre Schritte.
Sie hatte recht, doch standen bereits mehre Leute davor und warteten darauf, die Infobox benutzen zu können.
»Verdammt, das kostet uns eine Menge Zeit!«, schimpfte Khendrah. »Aber ich suche jetzt nicht nach einer weiteren Box, um dann festzustellen, dass sie genau so belagert ist.«
Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis sie endlich in der Zelle standen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Automat mit sonorer Stimme. Ein Eingabeterminal gab es offenbar nicht, also verfügte die Box über eine Spracheingabe.
»Wir suchen den Aufenthaltsort von Gunter Manning-Rhoda«, sagte Khendrah.
»Bitte warten Sie einen Moment. Ihre Anfrage wird bearbeitet.«
Nach kurzer Zeit meldete sich der Automat wieder: »Information verfügbar. Bitte authentifizieren Sie sich, um den Status des Umfangs der Berechtigung prüfen zu können.«
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Thomas leise, doch Khendrah winkte ab. Sie zog eine Art Ausweis aus ihrer Kombination und drückte ihn mit der Vorderseite vor einen Scanner, der in der Infobox installiert war.
»Danke«, sagte der Automat. »Sie haben Anspruch auf Informationen der Prioritätsstufe eins. Gunter Manning-Rhoda, Anführer der Sozialliberalen Bürger (SLB), wohnhaft Altheman-Allee 1309, hält sich aktuell auf im Kongresszentrum Hohenheide. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«
»Ja«, sagte Khendrah.
»Infobox.net dankt für die Benutzung des Services. Die Sitzung ist beendet. Auf Wiedersehen.«
Sie verließen die Box und überlegten, wie sie jetzt vorgehen sollten. Thomas blickte auf seine Uhr, die er sich aus der Ausrüstungskammer der Jahresstation mitgenommen hatte. Sie zeigte 10:35 Uhr an.
»In etwa eineinhalb Stunden wird das Attentat verübt«, sagte er, »wir haben nicht mehr viel Zeit. Gibt es hier vielleicht so etwas wie ein Taxi – ein Mietfahrzeug mit Fahrer, der uns an jedes gewünschte Ziel bringt?«
Khendrah deutete auf eine Reihe von kleinen, Hubschraubern ähnlichen Fahrzeugen, die am Straßenrand standen und in denen jeweils ein Fahrer oder Pilot gelangweilt in einer Zeitung las.
»Wie würdest du das nennen? Ich denke, das ist genau das, was wir brauchen. Die Dinger können fliegen und bleiben nicht im Bodenverkehr stecken.«
»Na dann los!«, rief Thomas und zog Khendrah zu einem der Hubtaxis.
»Sind Sie frei?«, fragte er den Mann hinter dem Steuerknüppel.
»Na, wonach sieht’s denn aus?«, fragte dieser zurück, »Wohin soll’s denn gehen?«
»Kongresszentrum Hohenheide«, sagte Khendrah. »Wir haben es eilig.«
»Ja, ja, eilig haben sie es alle«, murmelte der Pilot. »Steigen Sie ein, wir heben gleich ab. Ach ja, ich muss Ihnen gleich sagen, dass die Verweildauer auf dem Kongressgelände heute wegen des Parteitages der SLB nur begrenzt ist. Sie werden sofort aussteigen müssen, sobald ich dort gelandet bin. Aus diesem Grunde wäre es nett, wenn Sie mir den Flug schon jetzt bezahlen könnten.«
»Das ist kein Problem«, sagte Khendrah und reichte dem Piloten lächelnd eine kleine Plastikkarte, die dieser durch einen kleinen Scanner an seinem Armaturenbrett zog.
»Ich danke Ihnen«, sagte der Mann, als er die Karte wieder nach hinten reichte. »Schnallen Sie sich bitte an. Ich fürchte, ich werde einige harte Manöver fliegen müssen, bis wir auf der richtigen Luftstraße sind.«
Die Rotorblätter des kleinen Fliegers waren bereits angelaufen. Die Türen schlossen sich automatisch und das Lufttaxi hob zügig vom Boden ab. Sofort tauchte der Pilot in das Fahrzeuggewimmel in der Luft ein und flog in scheinbar waghalsigen Manövern immer höher, bis er sich in die Kette einiger, zum Stadtrand strebender, Flieger eingereiht hatte.
»Sind Sie auch von der SLB?«, wollte der Pilot wissen. »Ich habe heute schon einige Fluggäste zum Parteitag geflogen.«
»Im weitesten Sinne ja«, stimmte Thomas zu. »Wir müssen mit Gunter Manning-Rhoda reden.«
Der Pilot lachte laut auf.
»Na, da wünsche ich Ihnen aber viel Glück. Der Parteichef wird sicherlich sehr gut abgeschirmt, nach dem Theater kürzlich mit den Anhängern der PEV.«
»Welches Theater?«, fragte Khendrah. »Was ist passiert?«
»Sagen Sie bloß, Sie haben nicht von den Ausschreitungen während einer Demonstration gegen die PEV gehört! Es ging doch durch alle Medien.«
»Wir sind nicht von hier«, sagte Thomas entschuldigend. »Manning-Rhoda ist doch nichts passiert?«
»Nein, nein, die Sicherheitskräfte waren wachsam. Sie haben ihn wirkungsvoll abgeschirmt.«
»Dann kommen wir vielleicht doch nicht zu spät«, meinte Khendrah. »Ich hatte schon Angst, wir hätten einen Fehler gemacht.«
»Was seid Ihr eigentlich für Leute?«, fragte der Pilot. »Seid Ihr wirklich von der SLB?«
»Sie sind ein Anhänger der SLB?«, wollte Thomas wissen.
»Da können Sie aber Gift darauf nehmen!«, sagte der Mann heftig. »Und ich fliege Sie keinen Meter weiter, wenn Sie dort etwas anstellen wollen! Im Herbst sind die Wahlen und ich bete jeden Tag, dass dieses faschistische Monster Thoben und seine PEV dann in die Schranken gewiesen wird.«