Es waren Jahrzehnte vergangen, seit Azrael dieses Gesicht erblickt hatte. Dennoch erkannte er es sofort wieder. Die unverwechselbaren, fein geschnittenen Züge, die denen seines Vaters glichen, der leicht schmunzelnde Mund, die zusammengekniffenen Augen, in denen sich überwältigende Kühnheit mit lodernder Entschlossenheit paarte … es konnte kein Zweifel bestehen. Auch wenn die Zeit sein Haar gebleicht und seine Züge erweicht hatte, vor ihm stand sein totgeglaubter Bruder Seimos von Astaval.
Azrael taumelte. Er hörte, wie Malfegas aufkeuchte und wandte sich zu Velis um. Die Dämonin wich seinem Blick aus. Hatte sie etwa von Medardus‘ wahrer Identität gewusst?
Seimos schien seine Gedanken zu erraten. „Gib nicht ihr die Schuld. Ich habe ihr meine Identität nie enthüllt. Zumindest nicht bewusst.“ Er trat einen Schritt näher und breitete seine Arme aus. „Teshin! Es ist so schön, dich wiederzusehen! Du hast dich kaum verändert!“ Ein Anflug von Spott begleitete die Worte.
Azraels Herz raste. Die Konfrontation verlief entschieden anders, als er geplant hatte. Er räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Er durfte keinesfalls die Fassung verlieren.
„Du hast gesagt, du hättest die Denomination betrogen“, hob er an, ohne auf Seimos‘ rührselige Worte einzugehen. „Aber allerorts spricht man von deiner Tapferkeit und Tugend. Und davon, dass du der erfolgreichste Hexenjäger seit Erzbischof Drogans Zeiten bist.“ Er konnte die Bitterkeit nicht aus seiner Stimme verbannen. „Weißt du, was Leute wie Esben deinetwegen durchmachen mussten?“
Seimos ließ die Arme sinken und das angedeutete Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Trauer furchte seine Miene. Er musste bereits ein Greis gewesen sein, als sich die Verwandlung zum Dämon vollzog. Azrael konnte kaum glauben, dass ein geachteter alter Mann, noch dazu ein von der Denomination unterstützter Kleriker, willentlich einen solchen Pfad beschritt.
Kurz herrschte Totenstille. Nur das Krächzen einiger ferner Navali erklang auf der Lichtung. Nicht zum ersten Mal fragte sich der Dämonenkönig, ob sie trotz Halgins Abwesenheit ihre besondere Intelligenz beibehalten hatten.
Schließlich seufzte Seimos und schüttelte den Kopf, so als wollte er eine unangenehme Erinnerung verscheuchen. „Glaube mir, ich habe es nicht gern getan. Im Gegenteil. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Das Volk glaubt an Hexen. Es schreit nach deren Blut. Die Menschen wollen Sündenböcke und sie wollen sie leiden sehen. Sie verstehen das Konzept von Magie nicht und erzählen sich stattdessen Geschichten von alten Weibern, die Unzucht treiben und mit ominösen Zaubertränken das Wetter beeinflussen. Wenn wir ihnen die Entscheidung überließen, wer zu verbrennen und wer zu verschonen ist, wie lange würde es dauern, bis allüberall Selbstjustiz herrscht? Es wäre wieder wie zu Beginn des Krieges, als falsche Hexenjäger die Städte terrorisierten und vor nichts Halt machten, um ihr Vermögen zu mehren.“
„Dennoch!“ Azrael hob die Stimme. Er fühlte, wie seine Fäuste zu zittern begannen. „Du hast Unschuldige getötet! Du hast sie bei lebendigem Leib den Flammen übergeben!“
Seimos zuckte zusammen, so als hätte ihn jemand geschlagen. Aber im nächsten Moment kehrte die Sicherheit in seinen Blick zurück und er atmete tief durch.
„Teshin … oder soll ich dich Azrael nennen? Wie stellst du dir einen Helden vor?“
Azrael bedachte seinen Bruder mit einem wütenden Blick. „Du weißt, was ich vorhabe. Ich betrachte denjenigen als einen Helden, der die Herde behütet und sie zähmt, der sie beherrscht und im Zaum hält. Er soll ihre Aggressionen nicht stützen, sondern ausmerzen!“
Der Anflug eines Lächelns entstand auf Seimos‘ Gesicht. Doch diesmal schlich sich Verzweiflung in seine roten Augen. „Du wirst schon bald merken, dass das nicht möglich ist. Wer auch immer den Menschen erschaffen hat, er hatte einen sehr eigenartigen Sinn für Humor. Wir werden stets Hass und Wut empfinden und stets ein Ziel für beides brauchen. Ich gebe den Menschen ein Ziel, aber ich sorge dafür, dass ihre Wut kontrolliert zu Tage tritt und den kleinstmöglichen Schaden anrichtet. Ja, ich bin ein Mörder. Ja, ich bin ein Sünder. Aber letztlich bin ich auch ein Heiland, denn ich nehme die Sünden der Menschen auf mich. Ich werde zur Personifikation der Sünde, ich schlachte für die Menschen, ich bin das grauenerregende Idol des Hasses. Wenn die Leute verstehen, was sie wahrhaftig getan haben, wenn ihnen wirklich klar wird, dass sie eine unschuldige junge Frau dazu verdammt haben, unter grässlichen Qualen auf dem Scheiterhaufen zu sterben, während sie sich die schmelzende Lunge aus dem Leib brüllt, … ja, dann bin ich hier, um zum Sündenbock zu werden. Glaube mir, es gibt nichts, was ich mehr begehre.“
Azrael schwieg, während er die Worte sacken ließ. Er betrachtete Seimos genau. Sein Bruder musterte ihn mit der überwältigenden Sicherheit eines Mannes, der mit seinem Gewissen vollkommen im Reinen war. Seimos schien nicht daran zu zweifeln, das Richtige getan zu haben.
„Bist du deshalb ein Dämon geworden?“, fragte Azrael leise.
Seimos neigte zustimmend den Kopf. „Mein Platz ist nicht im Himmel. Ich muss hier sein, auf der Erde. Ich muss den Menschen ein Feind und ein Heiliger sein, um ihre Ausschreitungen zu überwachen. Das ist mein Lebenszweck. Aber ich habe auch noch einen anderen.“ Er atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Teshin, ich bin nicht deinetwegen nach Hornheim aufgebrochen. Ich bin hier, um den Dämonenkönig zu erschlagen.“
Azrael schüttelte verwirrt den Kopf. Scherzte sein Bruder? „Ich bin der Dämonenkönig, Seimos!“
Der Inquisitor schüttelte den Kopf und trat einen Schritt vor. Seine roten Augen loderten wie blutige Flammen.
„Ich spreche vom wahren König. Von Irodeus.“
Kurz herrschte Stille. Dann brach Malfegas plötzlich in nervöses Gelächter aus. Rauch stob aus dem Maul des monströsen Löwen.
„Du bist zu spät gekommen, Medard – … ich meine, Seimos!“, rief er. „Wir haben ihn längst erledigt!“
Azrael nickte. „Seimos, ich weiß, du hast vor vierzig Jahren gegen Irodeus gekämpft und Velis befreit. Du hast ihn damals nur versiegelt, das ist richtig. Irodeus‘ Seele ist danach in den See Sökkvar geflohen, aber ich habe ihn vor einigen Monaten vernichtet. Er ist nicht mehr.“
Nun war es an Seimos zu lachen. „Hat dir Berith das erzählt? Ich fürchte, du wurdest in die Irre geführt.“
Azrael straffte sich. „Wie meinst du das? Ich habe deutlich gespürt, wie Irodeus‘ Seele von dieser Welt verschwand!“
„Ja, ein Teil von Irodeus‘ Seele“, entgegnete Seimos. „Der andere Teil befindet sich in Esbens Buch.“
Azrael starrte Seimos schockiert an. Er fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. „In Androgs Folianten? Aber …“ Seine Gedanken rasten. „Esben war doch in deinem Lager! Wieso hast du nicht … ?“
Seimos schüttelte den Kopf. „Glaubst du, ich wollte Irodeus mitten im Lager bekämpfen? Du wirst es nicht wissen, aber die glorreichen Tage der Tempelsöhne sind vorbei. Könnten sie den Dämonenkönig besiegen? Wahrscheinlich. Würde es viele Opfer geben? Mit Sicherheit. Ich habe zugelassen, dass Esben betäubt und nach Hornheim entführt wird, weil ich wusste, dass Berith sich diese Chance, seinen wahren Meister wiederzubeleben, nicht entgehen lassen würde. In Kürze wird Irodeus wiederauferstehen und dann müssen wir beide, du und ich, zusammenarbeiten, um unser Ziel zu erreichen.“
Azrael schüttelte den Kopf. „Berith ist absolut loyal! Er würde doch niemals diesen Verrückten …“
„Nicht? Vergiss nicht, unter Irodeus genoss jeder Dämon vollkommene Freiheit. Berith konnte forschen und Sitraxa konnte foltern. Aber dann bist du gekommen und hast Ordnung in das Chaos gebracht.“ Seimos seufzte. „Nicht wahr, Malfegas?“
Der Löwe wirkte nun nicht mehr amüsiert. Sein schlangenartiger Schwanz peitschte wild umher.
„Es ist wahr“, knurrte Malfegas. „Freiheit ist Berith wichtiger als alles andere.“
Azrael schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht. Gerade ein akurater Gelehrter wie er …“
Seimos lächelte. „Wissenschaft und Kunst können mit Einschränkungen nun einmal nicht florieren. In deiner absoluten Gottesmonarchie ist kein Platz für Visionen, Bruder.“
Azrael setzte zu einer wütenden Erwiderung an, als sich plötzlich eine unheilige Präsenz erhob. Er schnappte nach Luft und fasste sich an die Brust. Sein Herz schien von eiskalten Klauen zerrissen zu werden.
Es ist Zeit, hauchte die Stimme in seinem Kopf hämisch.
Mit einem Mal kannte Azrael ihre Herkunft.
Du! Wieso lebst du noch? Ich habe dich vom Antlitz dieser Welt gebrannt!, rief er in Gedanken verzweifelt.
Man kann Feuer nicht mit Feuer bekämpfen. Das ist nur eine der zahlreichen Lektionen, die du noch lernen musst.
Azrael griff mit zitternden Fingern nach Murakama. Ehe er die Klinge aus der Scheide befreien konnte, begann die Erde zu beben.
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Esben schlief. Friede umhüllte ihn wie ein seidenweiches Leichentuch. Kein Traum suchte ihn heim. Keine Erinnerung knechtete ihn. Er besaß das Privileg, allein und ohne Bürde im Nichts zu existieren.
Mit einem Mal spaltete ein Lichtstrahl sein Bewusstsein. Bilder erfüllten Esbens Verstand. Er sah seine Schwester, die frommen Gesichter seiner Gemeinde in Aminas, Teshin und Saskia auf ihren Eseln, den Inquisitor Medardus und schließlich die unerbittlichen Schreie der wütenden Menge. Er sah den ketzerischen Folianten, Halgin und Iliana, den Eingang Hornheims, Sitraxas Kerker und Velis‘ schreckliches Herzogtum. Das Lager der Tempelsöhne und Azraels Hölle folgten. Und am Schluss stand der Schmerz der Erkenntnis, dass es nie Frieden geben konnte. Das Bild, als Azrael ihn mit Murakama durchbohrte, ließ ihn erbeben.
War er tot? Befand er sich auf dem Prüfstand oder wurde er gerade in die Hölle geworfen? Verwandelte er sich in diesem Moment in einen Dämon?
Ehe er den Gedanken zu Ende geführt hatte, fühlte er ein verführerisch glimmendes Licht am Rande seines Bewusstseins. Obwohl er es nicht sah, spürte er die warme rote Farbe und fühlte sich von ihr angezogen. Ohne ein Gefühl für den Raum zu besitzen, kam er dem Licht näher und streckte etwas aus, das einem Arm wohl am nächsten kam. Ungeahnte Macht durchströmte ihn.
Doch plötzlich hauchte ihm eine Stimme ein Wort ins Ohr. „Nicht!“
Esben kannte sie. Er hatte sie vor langer Zeit gehört.
Wie auf Befehl ließ er von dem roten Licht ab. Sein verführerisches Glimmen erschien ihm nun heuchlerisch und voller Niedertracht. Dort wartete nur ein Leben voller Hass und Gewalt auf ihn.
Stattdessen begab er sich zu der Stimme und ehe er sich versah, erwachte er.
Das Gefühl kehrte nur langsam in seine schmerzenden Gliedmaßen zurück. Mühselig setzte sich Esben auf.
Er befand sich in einer kreisrunden Halle ohne Wände. Prächtige Säulen stützten eine vielfach verzierte Decke. Fresken stellten einen Kampf zwischen Engeln und Dämonen dar. Er glaubte, darin eine Szene aus dem Epilog von Sankt Esbens Bußlehre zu erkennen.
Ein Windstoß fegte durch die Säulen und Esben erschauderte. Nicht wegen der Kälte, sondern aufgrund der überwältigenden Präsenz, die vor ihm stand.
Eine hochgewachsene Frau in einem Harnisch aus Mondlicht mit gespreizten Flügeln war in der Mitte der Säulenhalle aufgetaucht. Sie stand vor einem einsamen Thron, auf dem eine einzelne Feder ruhte, und musterte Esben lächelnd.
Esbens Beine zitterten, als er sich langsam erhob. Er kannte die Frau.
„Saskia?“