Aus den Schatten trat der Inquisitor Medardus. Im rötlichen Schein funkelten seine Augen wie blutige Sonnen. Saskia bemerkte, dass sich der Schatten seines Mauritiusstabs am Boden zum grotesken Abbild eines missgestalteten Arms verzerrte. Ein Schauder ließ sie erzittern.
„Ihr?“, rief Teshin erstaunt. „Seid Ihr etwa auch wegen des Dämons hier?“
Trotz der fehlenden Feindseligkeit in seiner Stimme ließ er Murakama nicht sinken. Saskia tat es ihm nach. Was tat Medardus hier, in einer verfluchten Kirche? War er tatsächlich wegen des Dämons hier? Aber weshalb benötigte der Bürgermeister Söldner, wenn die Denomination sich der Sache bereits annahm?
Medardus hob beschwichtigend seine freie Hand. Er deutete auf seinen von der Maske verborgenen Mund und dann auf das Allerheiligste hinter ihnen. Teshins Augen verengten sich zu Schlitzen. „Was wollt Ihr damit sagen?“
Medardus wiederholte die Geste langsam. Saskia verstand. Er spielte auf eine volkstümliche Legende an, nach der die stummen Inquisitoren im Allerheiligsten einer Kirche ihre Stimme wiedererlangen konnten. Wie Saskia bestens wusste, handelte es sich dabei nicht nur um eine Geschichte.
Teshin schien weniger informiert zu sein. Dennoch trat er zur Seite und deutete auf den schmalen Raum zwischen Statue und Wand. „Tut Euch keinen Zwang an.“ Er verbannte das Misstrauen nicht aus seiner Stimme. Murakamas blauer Schein stemmte sich stur gegen das bedrohliche rote Licht.
Medardus nickte und setzte sich in Bewegung. Der Mauritiusstab erzeugte ein monotones Klopfen von Holz auf Stein, während sein Träger auf sie zukam. Saskia konnte ihren Blick kaum vom Schatten des Inquisitors lösen. Das rote Licht warf ihn bis an die gegenüberliegende Wand und wandelte ihn bis zur Unkenntlichkeit. Kurz erschien ihr das so erzeugte Abbild wie ein gehörnter Dämon mit mächtigen Flügeln und geöffnetem Maul. Dann trat Medardus vor eine Säule und der Schatten verschwand in noch größerer Dunkelheit.
Saskia wechselte einen Blick mit Teshin. Die Stille grub sich wie eiskalte Klauen in ihre Herzen. Sie wirkte wie die Ruhe vor dem Sturm. Am liebsten hätte Saskia dem Inquisitor mit den lodernden Augen ein Ende bereitet. Nur würde man sie für einen solchen Mord gnadenlos verfolgen.
Endlich erreichte Medardus das Allerheiligste. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, trat er an die Engelsstatue heran und hob den Stab. Saskia umklammerte ihre langstielige Axt fester. Dieses Ritual war ihr bekannt. Sie fühlte die heilige Magie, die sich um den Inquisitor sammelte.
Einen Moment später wandte er sich zu ihnen um. Seine Stimme klang gedämpft und dunkel durch die schützende Maske, als er zu sprechen begann.
„Darf ich erfahren, wer ihr seid?“
Saskias Mut sank, als ihre Vergangenheit sie plötzlich einholte. Sollte er sie erkennen, hätte das katastrophale Folgen.
Teshins Augen weiteten sich überrascht. Offenbar war ihm diese Anwendung der Magie gänzlich unbekannt gewesen. Saskia musste es ihm hoch anrechnen, dass er sich schnell fing und seine Bereitschaft nicht aufgab. Murakama schien sogar ein wenig heller zu glühen.
„Dieselbe Frage könnte ich Euch stellen.“, erwiderte Teshin schlagfertig. „Meines Wissens nach müsste sich der Inquisitor Medardus in Aminas aufhalten. Könnt Ihr beweisen, dass Ihr kein Hochstapler seid?“
Medardus‘ Augen verengten sich zu Schlitzen. Kurz zerteilte ein wütender Blitz seinen lodernden Blick. Saskia schluckte. Offenbar war dies nicht die Antwort, die er hören wollte.
Medardus hob drohend den Mauritiusstab. „Ich muss mich vor Gesindel nicht erst rechtfertigen! Vielmehr möchte ich wissen, welch unheiliges Ansinnen euch nachts an diesen geweihten Ort verschlägt!“
Teshins Hand umklammerte Murakama so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Ich denke nicht, dass wir die Unheiligen sind.“, sagte er leise und drohend. Saskia warf ihm einen beeindruckten Blick zu. Er klang gefährlicher als jeder Dämon.
„Soll das eine Anschuldigung sein?“ Medardus‘ Stimme hallte durch das Gotteshaus wie Donnergrollen. Er sammelte Magie. Saskia hob ihre Axt. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Ein Kampf gegen ein hochrangiges Mitglied der Denomination würde ihnen mehr schaden als nutzen.
„Wie erklärt Ihr mir dieses rote Licht?“, fragte Teshin unbeirrt. Murakama glomm heller.
Medardus antwortete nicht. Stattdessen flammten seine Augen feuerrot auf. Der Inquisitor hob eine Hand und bewirkte eine mächtige Entladung der gesammelten Magie.
Der Angriff traf sie nicht unvorbereitet. Teshin trat schützend vor Saskia und stemmte sich gegen die Welle. Murakamas Licht bildete eine glitzernde Barriere, die Teshin einhüllte.
Medardus wartete den Konter nicht erst ab. Stattdessen hob er den Mauritiusstab über den Kopf und rammte ihn gegen den Boden. Die Erde erzitterte, sodass Teshin und Saskia um ihr Gleichgewicht rangen. Medardus löste seine Hände von dem Stab und faltete sie wie im Gebet. Anstatt der Schwerkraft nachzugeben und zu Boden zu fallen, blieb der Stab vor ihm senkrecht stehen. Saskia betrachtete ihn angstvoll. Diese Kampftechnik war ihr ebenfalls nicht unbekannt.
Medardus begann zu singen. Saskia erkannte die Worte der alten Sprache Teshin antwortete mit einem lauten Kampfschrei, der durch Mark und Bein ging. Ihr Gefährte stürzte sich auf den betenden Mann, Murakama auf abstrus schnelle Weise um sich wirbelnd. Kurz schienen blaue Flammen ihn zu umgeben. Doch bevor er den Inquisitor richten konnte, erschien mit einem Mal eine leuchtende Barriere um den Geistlichen. Murakama prallte von dem heiligen Gebilde ab. Teshin landete mit einem schmerzvollen Grunzen auf dem Rücken.
Saskia wusste, dass sie diese Verteidigung mit ihrer Axt nicht würde durchdringen können. Doch mussten sie diesen Kampf schnell beenden, bevor Medardus seinen Angriff ausführte. Wie sie wohl wusste, sammelte er durch seinen Gesang Magie.
Saskia starrte ihre Axt an. Ihr blieb nur noch eine Möglichkeit. Sie musste ihr wohlbehütetes Geheimnis preisgeben. Wenn dies geschah, würde Medardus Bescheid wissen. Dies bedeutete ein Leben auf der Flucht, fernab aller Städte.
Doch wenn sie nun nicht die Initiative ergriff und handelte, würde der Geistliche sie und Teshin töten.
Während sie den verborgenen Mechanismus ihrer Axt betätigte und die darin verborgene Waffe herauszog, erlitt ein Teil ihrer selbst den Tod. Ein anderer hingegen, der seit langen Jahren vom Staub der Zeit bedeckt am Grund ihrer Seele angekettet lag, erwachte zu neuem Leben.
Dieser Teil war es, der ihre Hand führte, als sie ihren alten Mauritiusstab über den Kopf hob und gegen den Boden schlug wie kurz zuvor Medardus.
Diesmal riss das Erzittern des Bodens Teshin von den Füßen. Ihr Gefährte starrte sie mit offenem Mund an, Murakama glitt aus seiner Hand.
Ja, Teshin, dachte Saskia, ich bin eine Inquisitorin.
Als sie zum ersten Mal seit vier Jahren nach der heiligen Magie griff, fühlte sie wohliges Erschaudern. Ein warmes Gefühl durchfuhr ihren Körper wie sanft züngelndes Feuer. Die Empfindung stieß bis zu ihrem Hals vor, wo sie in einer Explosion wohltuender Funken gipfelte.
Zum ersten Mal seit vier Jahren sprach Saskia.
Saskias Stimme kratzte nach ihrem langen Fernbleiben im Hals und ihre Zunge fühlte sich träge an, so als wäre sie nach ihrem Erwachen noch schlaftrunken. Doch die Worte des Chorals der Sieben Höllen kamen ihr ohne Zögern über die Lippen. Saskia erfüllte eine Mischung aus Erleichterung und Abscheu, dass sie sie alle noch kannte. Wahrscheinlich würde sie den genauen Ablauf niemals vergessen.
Der Choral der Sieben Höllen wurde von den Mitgliedern der Denomination in der Regel vermieden und blieb den Inquisitoren vorbehalten, die ihn ebenfalls nur in Notsituationen nutzen durften. Denn er berichtete nicht von der Größe Gottes und vom Glauben, sondern erzählte die Geschichte von sieben Königen, die sich gegen das Licht auflehnten und dafür in die ewige Dunkelheit verbannt wurden. Passend dazu umfasste er sieben Strophen, jede einem anderen König zugeordnet. Ihre ursprünglichen Namen hatte die Geschichte der Vergessenheit geopfert, heute kannte man nur noch ihre Bezeichnungen als Dämonen. Alles dies berichtete der Choral in einer der alten Sprachen. Keinem Menschen war es gestattet, diese Worte auszusprechen. Nur die Inquisitoren blieben eine Ausnahme, da sie ihre Stimmen geopfert hatten.
Medardus war ihr eine Strophe voraus, doch würde er ihre eigene Schutzbarriere mit dem auf das Ende des Chorals folgenden Angriff nicht durchdringen können. Saskia befand sich in einer günstigen Position. Wenn Medardus den Choral beendete, verschwand auch seine Verteidigung. Eine Strophe später würde Saskia ihn zu Fall bringen.
Doch der Inquisitor nahm ihre Geheimtechnik gelassener auf als Teshin. Er verlangsamte seinen Gesang. Saskia tat es ihm nach, so gut sie konnte. Dennoch verringerte Medardus sein Tempo weiter, ohne den Choral zu beenden. Nach wie vor befand er sich in der vierten Strophe, während Saskia bereits deren ersten Vers begann. Anspannung überkam sie. Ihre einzige Hoffnung bestand wohl darin, ihn soweit zu überholen, dass sie ihre Schutzbarriere aufgeben und noch einmal von vorn anfangen konnte. Sofort beschleunigte sie ihren Gesang. Doch Medardus begriff ihr Ansinnen und eiferte ihr erbarmungslos nach.
Es entbrannte eine gnadenlose Hetzjagd, einmal schneller, einmal langsamer, in der jeder von ihnen versuchte, den jeweils anderen in eine ungünstige Position zu drängen. Schon bald fühlte Saskia Erschöpfung. Ihr Hals schmerzte durch die ungewohnte Beanspruchung ihrer Stimme und sie fühlte einen nahenden Hustenreiz. Wenn sie ihm nachgab und dadurch den Choral beendete, hätte Medardus gewonnen. Sie befanden sich bereits in der siebten Strophe.
Vers für Vers sangen sie weiter. Obwohl Saskia verzweifelt versuchte, ihre Geschwindigkeit zu verringern, blieb Medardus stets einige Worte hinter ihr zurück. Diesen Wettstreit konnte sie nicht gewinnen.
Schließlich kam das letzte Wort über ihre Lippen und Saskia brach erschöpft zusammen. Während ihre Schutzbarriere sich auflöste, richtete sie die angesammelte Magie mit letzter Kraft gegen Medardus. Doch wie erwartet prallte der Angriff von seinem Schild ab.
Triumph erhellte Medardus‘ Blick. Sein letzter Vers ließ die Kirche erbeben. Die Barriere verschwand und ein Nexus aus heiliger Magie erschien um ihn herum. Er hatte weitaus mehr Kraft inne als Saskias.
Ein einziger Schweißtropfen benetzte ihren Rücken wie ein Zeuge ihres wild hämmernden Herzens. Bald würde es verstummen.
Plötzlich teilte ein blauer Blitz die Luft und Teshin attackierte Medardus. Der Inquisitor antwortete mit der gesammelten Magie. Doch ihr Gefährte tauchte lässig unter der mächtigen Druckwelle hinweg, die eine der Sitzbänke in Stücke sprengte. Medardus wich zurück und hob den Mauritiusstab. Heilige Magie ummantelte das geweihte Holz. Als Murakama auf die schlichte Waffe prallte, stoben Funken. Eine Druckwelle zerzauste Saskias Haare. Ihre Hände zitterten. Sollte sie versuchen, einen neuen Choral zu beginnen? Sie bezweifelte, dass sie die nötige Kraft aufbringen konnte.
Teshin schien ihre Unterstützung ohnehin nicht zu benötigen. Murakamas schimmernde Klinge verschwamm vor ihren Augen zu einem blau leuchtenden Kreis, der das rote Licht zerschnitt. Medardus parierte unbeholfen. Wütend fauchte er ein heiliges Wort, das Teshin verlangsamen sollte. Doch ihr Gefährte lächelte spitzbübisch. Ein Lichtblitz von Murakama hob den Bann auf.
„Jetzt ist Schluss!“, rief Teshin. Mit einem einzigen Hieb stieß er Medardus mit derartiger Kraft gegen die Wand, dass der Inquisitor aufstöhnte und zusammenbrach. Ein zweiter Angriff schlug ihm den Stab aus der Hand.
Saskia erhob sich schwankend. Beeindruckt erkannte sie einige Risse, die sich hinter dem Inquisitor durch die Wand zogen. Teshin hatte sich wahrlich nicht zurückgehalten.
„Ihr schuldet uns eine Erklärung.“, sagte sie zu dem Inquisitor. Bevor sie ihre Stimme erneut verlor, wollte sie ihren Klang noch sooft wie möglich hören.
Medardus starrte sie hasserfüllt an. Plötzlich ertönte in der Ferne ein Glockenschlag. Teshin runzelte die Stirn. „Hier ist doch weit und breit keine andere Kirche in der Nähe.“
Saskia teilte seine Verwirrung. Kurz warf sie einen Blick durch die Buntglasfenster in das rote Licht. Der Anblick ließ ihr Herz gefrieren.
Die Silhouetten unzähliger Menschen drängten sich von außen an die kunstvollen Darstellungen. Lautes Stöhnen hallte durch vereinzelte Ritzen in das Gotteshaus. Saskia sah eigenartig dünne Arme, die an den Fenstern kratzten. Woher kamen diese Leute?
Teshins Gesicht wurde aschfahl. Mit unterdrücktem Zittern richtete er Murakama auf Medardus. „Was hat das zu … was zum … ?“
Medardus war verschwunden. An seiner Stelle hockte ein mageres junges Mädchen an der Steinmauer und sah sie trotzig an. Es war ungewöhnlich blass und betrachtete sie aus rot leuchtenden Augen. Saskia rang nach Luft, als sie auf seinem Kopf zwei Hörner erkannte. Sie stießen wie Klingen durch die langen schwarzen Haare des Mädchens in die rötlich schimmernde Luft.
Teshin wich entsetzt zurück und hob Murakama. Saskia war wie erstarrt. Sie konnte ihren Blick nicht von der Person vor ihnen abwenden.
Das Mädchen regte sich nicht, sondern sah sie unbeirrt an. Bevor Saskia das Wort ergreifen konnte, vernahm sie plötzlich das Splittern von Glas.