Das Mädchen mit der Dornenkrone (1/2)

»Da oben wurden sie verbrannt. Eine nach der anderen.«
Ich glaubte zunächst, mich verhört zu haben. Mit erhobener Augenbraue drehte ich mich zu meinem Wanderbegleiter um und sah ihn forschend an. Der alte Priester verzog keine Miene. Sein verhärmtes, faltiges Gesicht wirkte, als ob es sich nicht einmal zu einem Lächeln verziehen könnte. Seine dürren Finger umschlossen zitternd ein winziges Kreuz.
Ich folgte seinem Blick und sah einen kleinen Hügel. Er war schon beinahe krankhaft unscheinbar, das Urbild einer ausdruckslosen Landschaft. Einige wenige junge Bäume erhoben sich zartgliedrig aus seinem sanft geschwungenen Boden und tanzten sacht im kräftigen Herbstwind.
Der Alte hielt inne. Kurz flackerte in seinen Augen ein unbestimmtes Gefühl auf, das ich nicht deuten konnte. In der geröteten Iris spiegelten sich die blutigen Herbstblätter, die schweigend um uns herumwirbelten.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich möchte Euch nicht mit solchen Geschichten behelligen.«
»Unsinn.« Ich wechselte meinen Wanderstock von der rechten in die linke Hand und lächelte ihm zu. Insgeheim war ich seit unserer ersten Begegnung gespannt auf die Geschichte des Alten. Ich kannte ihn erst seit wenigen Stunden.
Der Priester lächelte. »Es ist schon zu gütig, dass ich in Eurem Gasthof Wohnstatt beziehen darf.«
Ich lächelte und strich mir über die kahlrasierten Wangen. Ich hätte sie nicht kurz vor dem Wintereinbruch scheren sollen.
»Ein paar benedictiones von einem erfahrenen Kleriker wiegen eine Nacht und eine Mahlzeit auf«, erwiderte ich. Ich wollte ihm nicht widersprechen. Er wirkte so dünn und zerbrechlich wie ein Ast.
»Ihr sollt sie bekommen«, murmelte er.
Während des restlichen Weges stützte er sich schwer auf mich. Der Abend zeichnete bereits die ersten roten Schlieren in den Himmel. Ich warf einen letzten Blick zurück auf den Hügel. Er versank schweigend hinter dem hohen Gras.

Der Pater nannte mir weder seinen Namen noch sein Anliegen. Ich versuchte, ihn zu einem Glas Wein zu überreden, aber er schenkte mir nur ein unergründliches Lächeln und schüttelte den Kopf. Ich fluchte innerlich.
»Ihr seid grausam, Pater«, klagte ich schließlich. »Grausam, wirklich grausam! In einem kleinen Dorf wie diesem geschieht nie etwas Außerordentliches. Ihr seid vielleicht meine letzte Gelegenheit, meinen Töchtern eine gute Geschichte erzählen zu können, bevor sie erwachsen werden!«
Ich meinte meine Worte nicht ernst, aber der Alte fuhr dermaßen heftig zusammen, dass er beinahe von der Holzbank glitt. Erschrocken half ich ihm auf. Er war kreidebleich.
»Vergebt mir«, murmelte er und rieb sich die Hände. Ich betrachtete ihn erstaunt. Die Geste sah beinahe so aus, als wollte er sich säubern.
»Soll ich Euch Wasser bringen, Pater?«
Er schüttelte schweigend den Kopf. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich von mir ab und verließ die Gaststube. Ich seufzte und sah ihm enttäuscht nach.
Vielleicht ist da nichts dran. Vielleicht ist er nur ein verrückter alter Reisender.
Plötzlich wusste ich nicht einmal mehr, warum ich ihn für einen Priester gehalten hatte.
Eine Stunde später gellte der erste Schrei.

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