Silvarum Nemora – Im Dunkel der Wälder (2/2)

,,Mein lieber Junge, darf ich dir etwas zeigen?“

Bevor Matthias antworten konnte, veränderte sich plötzlich der Raum. Die Dunkelheit, die sie wie Nebel umfangen gehalten hatte, wich dem Licht einer grellen Deckenlampe. Erstaunt erkannte Matthias ein Schlafzimmer. Auf dem Bett saß Theo, ein Junge aus seiner Klasse, der ausschließlich Einsen und Zweien schrieb, mit gesenktem Kopf. Auf einem Sessel ihm gegenüber thronte eine stark geschminkte, hochgewachsene und streng wirkende Frau. Sie trug ein enges schwarzes Kostüm. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem straffen Knoten gebunden. Sie las sich gerade die schriftliche Chemie-Überprüfung durch, die erst vor zwei Tagen stattgefunden hatte.

Beide schienen weder ihn, noch Enki, noch den Tisch oder die Stühle zu bemerken.

Plötzlich rümpfte die Frau, wohl Theos Mutter, die Nase und ließ das beschriebene Blatt Papier sinken. ,,Was hast du da bei der Definition für Isotope geschrieben? Positiv oder negativ geladene Atome? Das sind Ionen, nicht Isotope! Du hast einen Punkt dafür abgezogen bekommen!“

,,Ich habe mich verlesen.“, erwiderte Theo kleinlaut.

,,Verlesen? Du hast diesmal nur 18 von 20 Punkten erreicht, das ist schon fast eine Zwei. Wie kommt das? Bist du etwa in der Nacht wach geblieben und konntest dich dann nicht mehr konzentrieren?“

Theo schwieg. Er wirkte klein und verletzlich.

,,Wenn du im späteren Berufsleben Erfolg haben möchtest, dann kannst du dir solche Fehler nicht leisten!“ Wutschnaubend erhob sich die Frau. ,,Du wirst die Definition von Isotopen…die RICHTIGE Definition…hundertmal aufschreiben, verstanden? Und heute gehst du um acht ins Bett. Und kein Fernsehen oder Handy!“

Die Frau verließ das Zimmer mit großen Schritten. Theo zuckte zusammen, als die Tür ins Schloss fiel. Er saß noch lange in dieser Haltung auf dem Bett, den Blick gesenkt. Als Matthias sich näher beugte, erkannte er bestürzt, dass Theo weinte. Tränen liefen über seine bleichen Wangen.

Schließlich stand der Junge auf und ging, direkt an Matthias vorbei, zu einem kleinen Schreibtisch. Er nahm eine Schere aus einer Federschachtel, die Matthias aus der Schule kannte. Fassungslos sah er einen der Besten seiner Klasse, wie er sich langsam die Hand ritzte. Auf der bleichen Haut entstanden rote Buchstaben…Theo schrieb das Wort Versager in sein Fleisch.

,,Es tut mir leid, Mama.“, flüsterte Theo mit halb erstickter Stimme. Tränen tropften von seinem Kinn.

Der Szene wich wieder Dunkelheit. Enki lächelte. ,,Er hat es wohl auch nicht so leicht, was?“

Als Matthias nicht antwortete, fuhr er fort. ,,Theo wünscht sich nichts sehnlicher, als mit anderen Jungen seines Alters ungestört abhängen zu können…doch seine Eltern erlauben es ihm nicht. Sie beide haben Erfahrungen mit dem Geschäftsleben gemacht und wollen um jeden Preis verhindern, dass ihr Sohn später einmal keinen Job bekommt. Um ihr Ziel zu erreichen, zwingen sie ihn, zu lernen, bis er umfällt.“ Es folgte eine kurze Pause. ,,Und du hast ihn gedemütigt. Damit trägst auch du Schuld an seinem Drang, sich selbst zu verletzen.“

Enkis Stimme enthielt keinerlei vorwurfsvolle Elemente. Sie klang vielmehr wie eine nüchterne Feststellung.

Matthias hüllte sich in Schweigen. In seinem Herzen pochte Theos Schmerz. Er fühlte den unglaublichen Drang, den Fesseln seines Daseins zu entfliehen.

Meine Eltern lieben mich nicht., klagte Theos Stimme in Matthias Gedanken. Sie wollen mich zu einem Roboter machen, arbeiten, arbeiten, arbeiten, alles andere ist ihnen egal. Musik, Kunst…das alles ist für sie nebensächlich. Und in der Klasse mag mich auch keiner. Alle halten mich für einen Streber, nicht wahr? Kein Mädchen wird je mit mir zusammen sein wollen, nicht einmal Katja, in die ich mich so verliebt habe. Und du und deine Freunde verspotten mich immer, besonders in Sport, weil ich nicht genug Kraft habe, um die Übungen zu machen…

,,Und du hast ihn gedemütigt.“, wiederholte Enki.

Eine Erinnerung schlich sich in Matthias‘ Bewusstsein, nur erlebte er sie diesmal aus Theos Perspektive.

Ich versuche, Klimmzüge zu machen., flüsterte Theos Stimme. Alle grinsen mich bereits an, besonders der Sportlehrer, Herr Lindenberger. Und Matthias…verdammt, sie werden gleich wieder anfangen, ich weiß es, sie werden mich verspotten und mich demütigen. Und wenn ich Pech habe sind dann auch noch die Mädchen in der Nähe…

Es ist sinnlos, meine Kraft reicht nicht aus. Stöhnend falle ich auf den mit Matten bedeckten Boden. Tränen verschleiern meinen Blick, als das Gelächter beginnt. Ich wälze mich auf den Bauch, um zu verbergen, dass ich weine. Doch es ist sinnlos.

,,Heulen bringt dich nicht weiter, Theo!“, ruft Lindenberger. Obwohl ich sein Gesicht nicht erkennen kann, erscheint in meiner Vorstellung sein zu einem sadistischen Grinsen verzerrter Mund. Wie ich ihn hasse! Am liebsten würde ich auf ihn einprügeln.

,,Los, steh auf, Theo, versuch’s nochmal. Du weißt, wenn du es nicht schaffst, kriegst du eine Drei in Sport. Und darüber kannst du auch noch verflucht nochmal froh sein!“ Lindenberger lacht laut auf, als habe er den besten Witz der Welt erzählt.

Nun mischt sich auch noch Matthias ein. ,,He! Theo steh auf, komm schon, ich will mal endlich wieder richtig lachen können. Jetzt nützen dir deine Einsen wohl nichts mehr…“

Matthias schrie auf, als Theos Schmerz und Verzweiflung sein Herz durchdrang. Glühende Ketten schienen sich in seine Seele zu graben. Matthias erlebte, wie Theo verzweifelt nach Halt suchte, bevor er in der Dunkelheit versank.

Ich habe keine Freunde, meine Eltern lieben mich nicht, mein Sportlehrer und meine Klassenkameraden hassen mich., schrie Theos Stimme in Matthias Gedanken.

Matthias schrie vor unsäglichen Qualen.

Dann war es vorbei.

Enki lächelte ihn an. Seine goldenen Augen erfassten jedes Detail seiner Gedankengänge. ,,Du könntest ihm helfen, weißt du?“

Matthias atmete schwer. Als er feststellte, dass er sich wieder bewegen und reden konnte, erfüllte es ihn nicht mit Freude. ,,Ich bin so ein Idiot.“, flüsterte er.

Enki seufzte. ,,Du hast vorhin gesagt, dass du mit deinem Leben kaum fertig wirst, dass du nicht weißt, woher du dir dein Selbstvertrauen holen sollst. Ich kann es dir verraten: hol dir dein Selbstvertrauen aus guten Taten.“

Matthias sah Enki verwirrt an. ,,Was?“

,,Hilf Menschen. Erkenne ihr Leid. Anstatt es zu vermehren, sollst du es lindern. Das ist der Weg, den das Schicksal dir zugedacht hat. Solange du spottest und andere demütigst, wirst du nie deinen Frieden finden. Oder glaubst du tatsächlich, gute Schulnoten oder Talent im Fußball kann das Geschenk einer guten, friedvollen Seele, die im Reinen mit sich ist, aufwiegen?“

Während er sprach, griff Enki mit seiner rechten Hand über die Kerze zu Matthias‘ Stirn. Er zuckte zusammen, als die Finger des Fremden ihn berührten, doch er ließ es geschehen. Etwas verriet ihm, dass Enki ihm nicht schaden wollte..

,,Hiermit mache ich dir das Geschenk von Frieden und verleihe dir den Fluch der Weisheit.“

Es fühlte sich an, als ob ein elektrischer Schlag Matthias‘ Körper durchdränge. Vor seinen Augen tanzten Punkte und Schauer schüttelten seinen Körper. Doch er gab keinen Ton von sich.

Als die Punkte seinen Blick nicht mehr verschleierten, war Enki verschwunden. Wo vorher noch ein Dach den Raum in Dunkelheit hüllte, konnte nun Mondlicht ungehindert eindringen.

Gut gelaunt betrachtete Lindenberger die Jungen, die vor ihm in einer Reihe aufgestellt standen. Sie wirkten müde und demotiviert, wie an jedem Montag. Er würde sie mit seinem Programm schon wachrütteln.

Schließlich wollte er ihnen helfen.

Automatisch glitten seine Augen zu der Person, die seiner Hilfe am meisten bedurfte. ,,Theo!“, rief er so laut, dass der kleine Junge zusammenzuckte. ,,Zeige vor, wie man richtig Klimmzüge macht!“

Grinsend wies er dabei zur hohen Reckstange, die nur wenige Meter entfernt zwischen zwei Metallstützen angebracht war.

Theo sah erschrocken aus. Seine Augen glänzten und Lindenberger wusste, er würde bald zu weinen beginnen. Spätestens, wenn die anderen sich vor Lachen bogen.

Du musst hart werden, Junge!

Theo setzte sich gerade in Bewegung, als Matthias plötzlich vor ihn trat. ,,Ich kann die Übung auch vorzeigen.“

Lindenberger starrte ihn verwirrt an. Normalerweise freute sich Matthias diebisch darauf, wenn Theo sein mangelndes Talent demonstrierte. Doch heute wirkte er wie ausgewechselt. In seinen Augen glomm ein seltsamer Schimmer. Er symbolisierte eine Sicherheit, die Lindenberger zurückweichen ließ. Dieser Junge wusste genau, was er tat.

,,Ich habe gesagt, Theo!“, rief Lindenberger. In seiner Stimme schwang Entsetzen mit, dessen Herkunft er selbst kaum verstand. ..Theo soll vorzeigen!“

,,Ich werde die Übung demonstrieren.“, erwiderte Matthias ruhig. Er wirkte wie eine Statue, ein Fels in der Brandung.

Die Jungen starrten ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen an. Lindenberger verschlug es die Sprache. Er brachte nur noch ein schwaches Nicken zustande, als Matthias langsam zur Stange ging und begann, Klimmzüge zu machen. In diesem Moment verstand der Sportlehrer, dass von diesem Tage an eine Kraft in dem Schüler wohnte, die er selbst nie würde besitzen können. Eine Kraft, der er nicht ebenbürtig war.

3 Replies to “Silvarum Nemora – Im Dunkel der Wälder (2/2)”

  1. Was für eine schöne Geschichte! Für sich allein stehend gleicht sie einem Märchen.
    Besonders gut gefiel mir: der Fluch der Weisheit.

  2. Ein wirklicher Antares!
    Mir gefallen Deine Texte wahnsinnig gut. Du hast diese Situation mit nur wenig Zeilen so eindrucksvoll geschrieben, ich kam ins Grübeln.

    Vielen Dank dafür.
    Andi

    1. Vielen Dank euch beiden – eure Worte sind, was diese Geschichten für mich schreibenswert machen 🙂
      Die Geschichte bedeutet mir persönlich recht viel, weil es in meiner Klasse vor Jahren einen ähnlichen Fall gab, von dem ich wegen meiner damaligen SocialMedia-Abwesenheit viel zu spät erfuhr. Ich hoffe, ich konnte auf diese Weise vielleicht ein wenig Abbitte leisten …

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