Voidcall: Das Rufen der Tiefe – Kapitel 13 – Flucht ins Proxydon-System

Archweylls Nervenbahnen mutierten zu einer Achterbahn der Gefühle, Überlegungen und glänzendem Kalkül, während die heulenden Alarmsirenen jeden einzelnen an Bord wachrüttelten und eine automatische Warnung durch die Mikrofone sämtlicher Stationen der Atharymn knisterte. Er hatte vielleicht noch wenige Minuten, sich eine Lösung zu überlegen und dabei Milliarden von Menschenleben mit einzuplanen. 
»Wir müssen es fortlocken!«, überlegte Archweyll laut. 
Aber wie konnte er das anstellen, ohne sich in den direkten Tod zu stürzen oder das Monster auf seine Heimatwelt aufmerksam zu machen? 
»Sollen wir das Risiko eingehen, die Sicherheitsbehörde anzufunken?«, fragte Clynnt mit kritischem Blick. Scheinbar war er sich dessen mehr als unsicher. 
»Die Hellscreamer sind die einzigen Schiffe, die es nicht in der Mitte durchbeißen könnte. Wenn sie schnell genug hier wären, könnten sie uns unterstützen, bevor das Monster Prospecteus erreicht.« 
Diese Möglichkeit hatte Archweyll bereits mit eingeplant, doch es gab viele offene Risikofaktoren. Wenn das Wesen ihren Funk verfolgen könnte, wäre es ein Ding von wenigen Tagen, bis es ihre Heimat in ein elendes Stück Asche verwandeln würde. 
Doch wenn nicht … 
Plötzlich öffnete sich die Tür und Daisy trat ein. 
Auch sie schien angesichts der aktuellen Situation mehr als besorgt, doch erneut erkannte Archweyll diesen faszinierenden Glanz in ihren Augen. 
»Wie ich sehe habt ihr schon einen Plan?«, binnen einer Sekunde schien sie die Lage durchschaut zu haben. 
»Nun, äh …«, erwiderte der Kommandant zögernd. 
»Zum Glück hatte ich während meiner himmelhochjauchzenden Aufzugfahrt hierher, eingequetscht zwischen panischen Hornochsen, die Muße etwas nachzudenken«, begann Daisy ihre Ansprache.
Clynnt und Archweyll wechselten einen flüchtigen Blick. 
»Da wir uns nicht im Klaren darüber sind, welche Fähigkeiten unser Feind besitzt oder was es überhaupt für ein Lebewesen ist, sollten wir keine Funkverbindung mit Prospecteus aufbauen. Aber wir könnten einige Arrows in jede erdenkliche Richtung entsenden. Einer von ihnen wird dann die Basis verständigen und Verstärkung anfordern. Solange versuchen wir hier klarzukommen.«
Archweyll verschlug es die Sprache. Das war fast zu einfach. Doch dann wurde ihm klar, dass das bedeutete, dass sie vermutlich tagelang fliehen mussten, mit einem unbeugsamen Verfolger im Nacken. Aber eine andere Möglichkeit fiel ihm nicht ein. 
»Tut, was sie sagt«, wies er die Navigatoren an, die sich sofort daran machten, seinen Befehlen zu entsprechen. 
»Dieser Kurs ist gefährlich. Verdammt gefährlich. Der proxydonische Orbit ist kein Zuckerschlecken, Arch, und die Hellscreamer werden dort ebenfalls Probleme bekommen«, sagte Clynnt und sein Ausdruck deutete seine argen Befürchtungen an. 
»Aber es ist unsere einzige Möglichkeit, langfristig diesem Todesstrahl ausweichen zu können. Wenn du gut genug manövrierst, können wir das schaffen. Ich zähle auf dich. Wir werden zudem weitere Flieger aussenden, die die Meteoriten zertrümmern können, die dem Flaggschiff zu nahe kommen.« Archweylls Ton duldete keinen Widerspruch. Sie hatten zu wenig Zeit für hitzige Diskussionen. 
»Arrows entsendet, Koordinaten verteilt«, bestätigte Clynnt mit einem Blick auf die Monitore. »Hoffen wir mal, dass es sich nicht für diese lästigen Mücken interessiert.« 
»Dann leiten wir jetzt den Warpsprung ein. Beeil dich!« Der Kommandant ging in der Navigatorenkabine auf und ab. Das Radar zeigte, dass sie kaum noch 20 Kilometer von ihrem Ziel entfernt waren. Das war ein feuchter Witz, wenn man die Unendlichkeit des Warps damit verglich.
Auf einmal erschütterte eine angedeutete Eruption das All, als das Wesen erneut seinen Kristall auflud. Das Knistern der Energie war so machtvoll, dass sämtliche Geräte der Atharymn ausschlugen. Es klang wie in einem Krankensaal, wo verzweifelt um das Überleben des Patienten gekämpft wurde. 
Hier ist es nicht anders, schoss es Archweyll durch den Kopf. Was für eine dämonische Macht ist das?
»Wir müssen hier weg! Clynnt?!« Die Panik ließ ihn aufschreien. Wenn dieser Strahl sie traf, war es vorbei mit ihnen. 
»Bereit!«, erwiderte der Chefnavigator unter zusammengepressten Zähnen. »Setze Kurs auf das Proxydon-System.«
Der Warpeintritt war so sanft wie eh und je. Fast schon trügerisch ruhig glitt die Atharymn durch die Farben der Unendlichkeit. An Bord spiegelte sich jedoch eine andere Stimmung wieder. 
Archweyll war mittlerweile auf die Brücke zurückgekehrt, Daisy war ihm gefolgt. 
»Ich habe dir noch gar nicht gedankt, für deinen Einsatz da unten«, sagte der Kommandant lobend.
»Du solltest das nicht tun. Dein Dank gebührt deinem Chefnavigator. Hätte er mich nicht strammstehen lassen, hätte ich die Biege gemacht. Riesige Monster, die das All bereisen oder in der dunkelsten Tiefe des Ozeans Jagd auf uns machen… ich war noch nicht bereit dafür.« Sie lächelte matt. »Aber das hat sich geändert. Ich will es euch beweisen und noch viel schwieriger: ich will es mir selbst beweisen. Ich kann das. Und ihr könnt jederzeit auf mich zählen.«
Archweyll wollte sie mit einem Schulterklopfen quittieren, doch ein Aufschrei aus der Navigatorenkabine ließ ihn erschaudern.
»Es hat geklappt! Es folgt uns!« Dann ein gezischter Fluch. »Weltraumpisse! Wie kann es sein, dass ein Lebewesen mehr Antriebsenergie besitzt, als ein Patrouillenkreuzer mit Reaktorantrieb?« Stück für Stück näherte sich der rote Punkt auf dem Radar ihrer Position. 
»Wenn das so weitergeht, hat es uns in 3,2 Parsec eingeholt. Das ist ungefähr die Hälfte der zurückzulegenden Strecke«, fluchte Clynnt Volker ausgelassen. 
»Dann werden wir ein Sperrfeuer auslegen. Mal gucken, wie es mit unseren Torpedos klar kommt«, antwortete Archweyll und röhrte den entsprechenden Feuerbefehl in seinen Lautsprecher. Den Bruchteil einer Sekunde später hatte der Kreuzer das Bombardement eröffnet. 
»Er fliegt keine Ausweichmanöver.« Clynnt runzelte sorgenvoll die Stirn. »Ich denke das bedeutet, dass es ihn nicht einmal kitzeln wird.« 
Archweyll studierte eingehend die Monitore.
Wenige Minuten nach Abschuss detonierten die ersten Geschosse, schwere Torpedos der Weltenzerstörer-Klasse, die einen Kreuzer regelrecht zerfetzen konnten. Doch ihr Gegner schien angesichts der nuklearen Detonationen ungerührt und setzte seine Verteidigung weiter fort.
»Er hat einen organischen Deflektorschild«, stellte der Chefnavigator fest.
»Ich hasse Hippies!« Archweyll spukte aus. »Feuert aus allen Rohren!« Seine Augen verschlangen förmlich die unzähligen blauen Dreiecke auf dem Radar, die ihrem Gegner entgegenflogen. 
37 bestätigte Volltreffer. Irgendwann ist sein Schild am Ende.
Der Vorteil, den ihnen der Warpsprung verschaffte, stand außer Frage. Geschosse vorwärts zu feuern, war nahezu unmöglich. Allerdings konnten sie getrost ihren Verfolger bombardieren.
»Er wird langsamer.« Clynnt atmete merklich aus. 
»Das bedeutet, er muss mehr Antriebsenergie in seine Deflektorschilde pumpen«, erklärte Daisy. Für einen Moment hatten sie einen Vorsprung. »Kreuzfeuer beibehalten. Aber gebt auf unsere Vorräte Acht. Wenn wir in Proxydon sind, werden wir alles brauchen, was wir haben.« 



***

 

 

Das Proxydon-System war ein kompliziertes Netzwerk aus Asteroidengürteln und Eisenstaubbänken, die durch Magnetströme zu Strudeln des Todes mutiert waren. Schon von weitem konnte man die spiralenförmige Helixstruktur des Systems bewundern, die sich wie zwei ineinander verkeilte Schlangen durch den Warp windete. Darin waren weitere, kleine Wirbel und Ströme zu erkennen. 
»Da wollen wir wirklich rein?« Clynnt Volker schien diese Aussicht gar nicht zu schmecken.
»Ein bisschen Mut. Es ist unsere einzige Chance«, erwiderte Archweyll und musste grinsen. 
Jetzt würde es ganz darauf ankommen, wie gut er seine Crew im Griff hatte. »Kurzstreckentorpedobatterien aktivieren. Manuelle Geschosslanzen in Bereitschaft. Ich möchte mindestens 30 Arrows in einer Stunde da draußen haben. Jeder Asteroid, der sich der Atharymn nähert, ist ein erklärter Todfeind und wir gehen nicht zimperlich mit solchen um.« Archweyll beendete seine Funkansprache und betrachtete die Monitore. »Da bist du ja, du Kotzbrocken«, fluchte er unflätig. 
Seit sie das Torpedofeuer beenden mussten, um ihre Vorräte zu schonen, hatte ihr Feind unbeugsam aufgeholt. Fast 2 Tage waren sie nun schon auf der Flucht vor ihrem Verfolger und er saß ihnen unnachgiebig im Nacken. Archweyll hatte bisher keinen Schlaf gefunden und würde es auch weiterhin nicht. In Extremsituationen konnte er Wochen ohne Schlaf auskommen, auch wenn er mit dieser Fähigkeit seines Körpers selten liebäugelte. Es würde noch zwei weitere Tage brauchen, bis die Arrows ihr Ziel in Prospecteus erreicht hatten. 

Also noch sechs Tage, bis wir auf Hilfe hoffen können.

Ein Gedanke, der fast an Irrsinn grenzte. Reisen durch den Warp konnten mittlerweile mit rasanten Geschwindigkeiten durchgeführt werden und doch waren sie viel zu langsam. 
»Eintritt in den Asteroidengürtel in 20 Minuten«, knisterte es durch die Lautsprecher. 
Archweyll schritt zur Heckkuppel und starrte hinaus. Das riesige Monster kristallisierte sich durch sein statisches Leuchten klar hinter ihnen ab. Und es wurde größer und größer. 
Mittlerweile waren die pfeilschnellen Jäger in Position um die Atharymn formiert und jeder verbliebene Gefechtskopf einsatzbereit. 
Der Kommandant spürte, wie sich seine Nackenhaare zu Berge stellten. Wieder war da dieses erregende Gefühl kurz vor einer unausweichlichen Schlacht. Er konnte es förmlich auf der Zunge schmecken. Bald würde Blut fließen. Er hoffte nur innig, dass es nicht das ihre sein würde.



***

 


Die ersten Asteroiden waren ein Klacks, doch bald geriet die Atharymn in Schwierigkeiten. Clynnt navigierte das Schiff so gut er konnte durch das dichte Geschwader aus Gestein, doch binnen Minuten mussten die Arrows mit manuellem Torpedobeschuss nachhelfen. Die kleineren Brocken, die mit der Außenbordwand kollidierten, rüttelten den Kreuzer mächtig durch, richteten aber keinen merklichen Schaden an. 
Zumindest noch nicht. 
Mittlerweile waren sie sieben Stunden in den Magnetströmen des Proxydon-Wirbels und es brachte den Chefnavigator an seine Grenzen. Clynnt merkte, wie er gedanklich abdriftete, denn er hatte seit zwei Tagen kein Auge zugemacht. Erst hatten seine Beine begonnen zu krampfen und dann kamen die Kopfschmerzen dazu, schlichen sich immer tiefer in sein Gehirn, um es zu martern. Einmal mehr erwünschte er sich die körperlichen Fähigkeiten seines Vorgesetzten herbei.
Wieder rumpelte Gestein auf die Atharymn, ein Getöse, das anschwoll zu einem Chor des kreischenden Metalls. 
Ihr Gegner legte trotz seiner unglaublichen Größe eine erstaunliche Wendigkeit an den Tag und war mittlerweile dicht an sie herangerückt. 
Zum Glück hat er bisher davon abgesehen uns mit seinen elektrischen Impulsen zu bombardieren.
Die Frage, was ihr Gegner ihnen noch entgegenzuwerfen hatte, wollte der Chefnavigator sich gar nicht erst stellen. 
»Gesteinsbrocken auf sieben Uhr. Vernichten!«, befahl Clynnt. 
Schweiß tropfte seinen Hals herunter und verirrte sich in den Tiefen seines Anzuges. Mit angestrengtem Blick verfolgte er die gezielte Sprengung auf den Monitoren, um dann zufrieden festzustellen, dass der Pilot erfolgreich seine Arbeit tat. Er massierte sich die Schläfen, zwischen denen es rumorte wie im Magen einer Bestie. 
Und sie hat Hunger, stellte der Chefnavigator mit einem müden Blick auf das Radar fest. 
Ihr Feind hatte sie eingeholt. Das unheilverkündende Knistern des Impulses kündigte sich an und für eine Sekunde fühlte sich Clynnt leer, ausgelaugt und erschöpft. 
Dann feuerte das Wesen und verfehlte sie nur um Haaresbreite. 
Explosionen detonierten um die Atharymn herum und zwei Arrows wurden von ihnen verschluckt. In der Ferne hörte er Archweyll Befehle brüllen. 
Ratternd aktivierten sich die Kurzstreckentorpedobatterien und hunderte von Gefechtsköpfen schlugen ihrem Feind entgegen. 
Jetzt konnte man deutlich den Deflektorschild des Monsters erkennen, das die feindlichen Torpedos wie eine glühende Sonne verschluckte, und im Farbenspiel der Explosionen hunderte Farben annahm. Doch an manchen Stellen bröckelte der Schild bereits. 
Auch die Energiereserven des Monsters waren nicht unersättlich, wie es schien. 
Knisternd aktivierte sich der Strahl erneut und eine Welle der Verzweiflung wurde der Atharymn entgegengeschleudert. 
Gleichzeitig musste Clynnt ein Ausweichmanöver gegen zwei Asteroiden auf Kollisionskurs vornehmen. Der erste Komet wurde von dem Induktionsschuss wortwörtlich zerfetzt. 
Der andere schabte am Schiff entlang und rote Alarmleuchten aktivierten sich. 
»Feuer auf den unteren Docks!«, fauchte der Chefnavigator in die Funkanlage. »Sofort die Techniki einsatzbereit machen!« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er zu kollabieren. Sein Sichtfeld wurde schwarz und alles drehte sich schwindelerregend. Dann fasste er sich und war wieder halbwegs bei Sinnen.
Archweyll kam hereingestürmt, sein Gesicht eine Maske der Befürchtungen. »Das halten wir nicht lange durch!«, rief er. »Wir müssen Plan zwei einläuten.«
Clynnt schluckte. Plan zwei sah alles andere als gut aus. Als sie ihn zurechtgetüftelt hatten, war er fast wahnsinnig vor Zorn geworden. Aber es gab vermutlich keine andere Möglichkeit. Sie waren schwer getroffen worden und wenn die Feuer nicht unter Kontrolle kriegen würden, wäre alles verloren. Sie mussten sich mehr Zeit erkaufen, wo keine war.
Clynnt seufzte.
»Alle bereitmachen!«, rief er durch den Funk. »Wir steuern direkt in den Eisensturm.«

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