Voidcall: Das Rufen der Tiefe – Kapitel 8 – Die Gashöhlen

Als der klaffende Schlund ihn verschluckte, war Archweyll noch nicht bewusst gewesen, welchen Gefahren er sich damit ausgesetzt hatte. Die abstrakten Felsformationen glitzerten im Licht seiner Scheinwerfer rostrot und formten grinsende Grimassen, die ihn aufgrund seiner hoffnungslosen Lage zu verspotten schienen. 
Verloren auf dem Grund des Ozeans. 
Er verkniff sich eine Reaktion und schritt weiter in die Tiefe. Surrend befolgten die Gelenke des Scherenpanzers seine Befehle. 
Es ging in einer leichten Senkung bergab und schnell bekam der Kommandant das Gefühl, in einem großen Canyon gelandet zu sein. Fast dreißig Meter ragten die Klippen nun über ihm auf und das matte Leuchten der seltsamen Pflanzen reichte kaum noch, um sich zu orientieren. Jedoch beruhigte ihn die Tatsache, dass er sich nicht durch eine enge Höhle oder ähnliches kämpfen musste. Das Gestein wurde von seltsamen grauen Pocken besetzt, die ihm irgendwie ein kränkliches Aussehen verliehen. Winzige silberne Schemen flitzten durch den Schein des Lichtes und waren wieder verschwunden, bevor Archweylls Auge sie genau erfassen konnte. Herkömmliche Pflanzen gab es hier keine. 
Wie denn auch, ohne Sonnenlicht? Instinktiv überkam den Kommandanten ein schauderhaftes Gruseln, als er sich die Frage stellte, was die seltsamen leuchtenden Augen angesichts dieser Tatsache dann für Lebewesen waren. 
Nachdem der Canyon einen steilen Knick vollführte, stand Archweyll plötzlich vor einer Wand. 
Eine Sackgasse. 
Er unterdrückte das drängende Gefühl, verächtlich ausspucken zu müssen. Seinen Schätzungen zufolge, war er kaum eine halbe Meile von der Quelle des metallischen Glitzerns entfernt. Aber jetzt umzukehren und einen neuen Weg zu finden, würde ihm Stunden, wenn nicht gar Tage an Zeit rauben. Und hier unten war nichts gewiss, das war das wohl einzig sichere. 
Plötzlich bemerkte Archweyll einen Spalt, der unter der Felswand durchzuführen schien, kaum groß genug, um sich hineinzuzwängen. Ein klaffendes schwarzes Loch öffnete sich im Boden unter ihm und schien ihn hungrig zu erwarten. Für eine Sekunde wägte der Kommandant seine Möglichkeiten ab. 
Er aktivierte den Scan, um weitere Informationen zu erhalten. 
Seinen Daten zufolge hatte er den Zugang in ein Labyrinth entdeckt, bestehend aus unzählbar vielen Gängen und Kreuzungen, Kavernen und Durchgängen. Wenn er Glück hatte, könnte er dadurch einen Umweg vermeiden. 
Allerdings war sich Archweyll durchaus bewusst, dass es auch mit einem hohen Risiko verbunden war, in ein unbekanntes Höhlensystem hinabzusteigen.  Doch andererseits… was für eine Wahl blieb ihm denn? Er war drauf und dran hinabzusteigen, als der Scan eine Warnung ausspuckte. »Achtung: Gasförmige Lebensform lokalisiert, unbekannte Auswirkungen auf Scherenpanzer. Gefahrenstufe gelb.« 
»Wenn es weiter nichts ist«, feixte der Kommandant, dann sprang er in das Loch.

                                                                          ***

Nichts wollte funktionieren. Die völlige Finsternis hatte ihre Hoffnung genauso verschluckt wie ihren Anzug. Es war Tamara wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis sie endlich auf den Grund gestoßen war. Eine weitere Ewigkeit verharrte sie nun schon hier, in absoluter Stille. 
Die Aussicht, jemand würde kommen, um sie zu holen, schwand mit jeder verstrichenen Sekunde. Ihre Versuche, den Scherenpanzer wieder zum Laufen zu bringen, waren nicht von Erfolg gekrönt gewesen und spätestens nachdem sie versehentlich die Hauptleitung gekappt hatte, gab sie es auf. Tamara war eine Kriegerin, keine Technikerin. Und selbst wenn es ihr eigener Kodex verlangte, niemals aufzugeben, sah sie doch gerade kein Licht, am Ende des wirklich dunklen Tunnels. Ein einziges Mal hatte sie das Licht ihrer Lampe angemacht, um für eine Sekunde nach draußen zu leuchten, nur um sich von dem Anblick, der sich ihr bot, derart zu erschrecken, dass sie sich seitdem nicht mehr getraut hatte. 
Ein wurmähnliches Etwas hatte sich vor ihr durch den Boden gesaugt und ein weiteres war beim Anblick des Lichtes kreischend von einer Anhöhe auf sie hinabgestürzt, hatte aber ohne Schaden anzurichten wieder das Weite gesucht. 
Seitdem vernahm sie überall das Schmatzen dieser Lebewesen und das Wummern ihres eigenen Herzens. Oder bildete sie sich das nur ein? 
Die Schatten um sie herum formten wurmartige Schlangen, die sich förmlich an sie schmiegten.Ihr Gehirn spuckte allerlei grausame Szenarien aus, doch noch gelang es ihr, die Fassung zu bewahren. Für eine Sekunde schloss sie die Augen, nur um in sich zu kehren. Was sie brauchte, war ein Plan. Aber so fieberhaft sie auch einen suchte, derzeit kam ihr nichts in den Sinn, außer abwarten. Und das gefiel ihr gar nicht. Das Geräusch der arbeitenden Würmer wurde immer lauter und langsam ließ es Tamara panisch werden.
»Was zur Hölle ist hier nur los?«, brach es wütend und gleichzeitig ängstlich aus ihr heraus. 
Sie unterdrückte nur mit Mühe eine Panikattacke. Noch nie hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt. 
Auf einmal ertönte unter ihr ein knackendes Geräusch. 
Bevor sie registrieren konnte, woher es stammte, brach plötzlich der Boden unter ihr zusammen. Tamaras Anzug fiel einige Meter in die Tiefe und tauchte ein in ein Meer aus sich windenden Leibern. Ein panischer Aufschrei entwich ihren Lippen und verwandelte sich in Sekundenschnelle in ein ängstliches Schluchzen. 
Die Würmer. Sie haben mich untergraben und jetzt kommen sie mich holen. 
Die Lebewesen machten sich daran, den Anzug zu zerlegen. Es würde ihnen zweifelsohne einiges abverlangen, durch das Metall zu kommen, aber Tamara war sich sicher, dass es sich nur um wenige Stunden handeln konnte, bevor sich eines dieser Wesen durch ihren Körper bohrte. 
Ein saugender Rüssel voller spitzer Zacken saugte sich schlürfend an der Frontscheibe fest. 
Schockiert und gleichzeitig angewidert drehte sie sich weg. 
»Arch, wo bist du?«, flüsterte sie, und ihre Stimme war kaum noch mehr als ein Flehen. 

                                                                  ***

Als sein Licht die massiven Höhlenwände überflog, geriet der Kommandant ins Staunen. 
Das Wasser hier unten schillerte wie Öl, in den Farben des Regenbogens. 
Zweifelsohne lag das an dem Gas, das hier unten durch die Kanäle waberte und in konzentrierter Form auftauchte. Allerdings war sein Scherenpanzer so dicht von außen abgeschottet, dass er nicht befürchtete, davon betroffen zu sein. 
Mit einem schnellen Blick versuchte Archweyll sich zu orientieren. Er war in einem Gang gelandet, der in zwei Richtungen führte. Nun würde der Scan ihm den Weg weisen. Schnell eilte er den engen kreisrunden Tunnel entlang, bedacht darauf, seinen Wänden nicht zu nahe zu kommen und stets einen Blick auf die Decke zu behalten. Jede mögliche Öffnung nach oben war ihm willkommen. Doch plötzlich hielt er abrupt inne. 
Dieser Tunnel war viel zu eben und perfekt gerundet, als das die Natur ihn jemals hätte von selbst erschaffen können. Hier hatte sich etwas durch das Gestein gewühlt und es war groß. 
Vorsichtig schlich Archweyll weiter, jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, seine Augen weit aufgerissen. Wenn er genau hinsah, erkannte er viele kleine Löcher, die in den großen Tunnel mündeten. 
Hier unten lebt etwas. 
Mit einem Knopfdrücken fuhr er die Klinge aus, die am rechten Handgelenk seines Anzuges verankert lag, und hielt sie eisern umklammert. 
Sollen sie nur kommen. Ich werde sie wärmlichst empfangen.
Er ging leicht in die Hocke, um sich besser auf einen Angriffssprung vorzubereiten. 
Der Tunnel vollzog eine Wendung und in einiger Entfernung erkannte der Kommandant eine Öffnung, die an die Oberfläche zu führen schien. Plötzlich streifte sein Licht einen saugrüsselähnlichen Kopf. 
Kreischend warf sich der Wurm ihn entgegen, ein Geräusch, als würden zwei Kreissägenblätter im wütenden Kampf aufeinandertreffen. Er fuhr seinen Rüssel zu voller Länge aus und eine spitze, mit Dornen besetzte Zunge stieß daraus hervor, um die Panzerscheibe zu durchstoßen. Krachend prallte das Todeswerkzeug davon ab und ließ Archweyll die Zeit, die er brauchte, um anzugreifen. Er sprang nach vorne und rammte das Messer in das, was man einen Kopf nennen könnte. Blut ergoss sich wie dunkelroter Rauch in das Wasser. Die Kreatur war sofort tot. 
Eine rot leuchtende Anzeige und eindringliche Warnsignale erforderten die sofortige Aufmerksamkeit des Kommandanten. Schwer atmend studierte er die Monitore.
»Verflucht!«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, als ihm bewusst wurde, dass der Angriff des Wurms einen Mikroriss in der Scheibe verursacht hatte. 
»Druckstabilisator aktiviert. Benötigte Energieleistung erreicht kritische Schwelle. Standby«, knisterte es aus dem Lautsprecher.
Archweyll ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte seinen Feind unterschätzt. 
Auf einmal vernahm er einen eindringlichen Moschusduft. Noch bevor der Kommandant realisieren konnte, woher er stammte, nahm er aus dem Augenwinkel eine erneute Bewegung wahr, die ihn abermals ablenkte. Er richtete das Messer in die Richtung und ein Knurren entwich seiner Kehle. Der Geruch wurde intensiver. Archweyll merkte, wie sein Sichtfeld sich erweiterte. 
Er spürte die schwere Last des Wassers auf sich ruhen und der Tunnel verzerrte sich zu aberwitzigen Formen. Sein Herz begann zunehmend zu rasen und eine unsagbare Zufriedenheit hüllte ihn in eine daunengleiche Weichheit. 
Das Gas dringt ein, schoss es ihm durch den Kopf wie eine ordentliche Dosis. Erneut registrierte er eine Bewegung vor sich. Ein Schemen steuerte direkt auf ihn zu. Archweyll wischte sich gründlich die Augen, um sicherzustellen, dass er nicht träumte. 
Tamara kam auf ihn zu geschwommen, ihr flammenrotes Haar wallte in der Strömung und anstelle von Beinen besaß sie eine lange schillernde Schwanzflosse. Ihr Oberkörper war unbedeckt und sie zwinkerte ihm für eine Sekunde ein verruchtes Lächeln zu. 
Kurz bevor sie ihn erreicht hatte, erstrahlte ihr Körper von innen heraus und das Licht tausender Sterne trat aus ihr heraus, verwandelte die Höhle in ein Explosion aus Farben, deren Spektrum sich wieder und wieder in unzählige Fragmente zerteilte. 
Archweyll spürte, wie ihm schwindelig wurde, der Tunnel erglühte in sämtlichen, ihm bekannten Farbvariationen, die sich einem Strudel gleichend um ihn bewegten. Wackelig machte er einen Schritt, dann noch einen. 
Ich muss es aufhalten, sonst wird es mich vernichten. 
Doch schon waren seine Gedanken wieder woanders. 
Sein Vater schwebte vor ihm, eine Flasche in der Hand. Mutter weinte. Dann ertönte ein undefinierbares Lachen. War doch alles gut? Menschen, deren Gesichter er nicht einordnen konnte, summten eine ihm vertraut vorkommende Melodie. Fassungslos ergab er sich dieser eigenartigen Welt. Unendliches Glück und tiefste Trauer erfüllten ihn gleichermaßen, er wollte lachen vor Freude und doch zerriss es ihm das Herz. Warum sollte er nicht ewig hier bleiben? Hier war alles, wie es sein sollte. Der Tunnel vor seinen Augen veränderte sich zu einem grünen Regenwald, der sich im Bruchteil einer Sekunde in glänzendes Glas verwandelte. Plötzlich erschien die Atharymn und segelte hindurch, verwandelte das ansehnliche Kunstwerk in ein Scherbenmeer, welches das Licht unendlich vieler Sonnen reflektierte. Sein Leben schien im Zeitraffer an ihm vorbeizuziehen. 
Er erlebte alles noch einmal: ihre Ankunft auf Nautilon, die schwere Zeit, während die Atharymn nicht einsatzfähig war, die Raumstation, die Leere, die Angst. Seine Beförderung zum Kommandanten zog an ihm vorüber, wie ein einzelnes Standbild, das an eine gewisse Emotion geknüpft war. Freude. Stolz. Weiter.
Er, als kleiner Junge, sein Vater erhob sich über ihm wie ein riesiges Monster. Angst. Hass. Weiter. Seine Mutter, sie lag im Sterben im hiesigen Apothekarium. Der Verlust. Die Leere. Weiter. Archweyll wurde bewusst, wenn er bei null angekommen sein sollte, war sein Leben verwirkt. Dann war er nie da gewesen, denn schließlich hatte es ihn nie gegeben. Archweyll Dorne hatte das Licht dieser Welt niemals erblickt. Emotionen brachen über ihn ein, die er nicht einordnen konnte. Und dann wurde alles schwarz und weiß. Er hatte das Ende erreicht.

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