Aus und vorbei

Ich stehe am Fenster und sehe ihr nach. Sie öffnet die Wagentüre, dreht sich noch einmal um und winkt. Mechanisch winke ich zurück. Ich fühle mich leer und spüre nichts dabei.
Als sie mir heute Morgen sagte, dass sie nicht mehr kommen werde, dachte ich zuerst, sie mache einen Scherz. Wir hatten einen vergnüglichen Abend verbracht und eine schöne Nacht. Fröhlich und offen hatte sie wie ein Wasserfall erzählt und ich hatte ihr fasziniert zugehört. Nichts hatte auf eine Veränderung hingedeutet.
Sie war, wie auch all die anderen zuvor, mein Fenster zum Leben. Durch ihre Augen sah ich das, was ich selbst schon lange nicht mehr erleben durfte. Und wenn sie von langen Nächten in den verschiedensten Kneipen erzählte, von Live-Musik und Bier vom Fass, weckte das verschüttete Erinnerungen in mir. Vage Bilder von mir selbst flackerten dann durch mein Bewusstsein. Ich sah mich, wie ich stundenlang über staubtrockenen Gesetzestexten brütete und verzweifelt zu verstehen versuchte, was ich da las. Zum Ausgleich dafür trieb ich mich damals fast jede Nacht in der Stadt herum. Schaute mir die Menschen an. Trank hier ein Bier und dort ein Glas Wein. Ich kam nicht zur Ruhe, es gab so viel zu sehen, so viel zu staunen. In dieser Zeit träumte ich davon, alles hinzuwerfen und stattdessen Psychologie zu studieren. Doch ich traute mich nicht. Es hätte Vater nicht gefallen. Mein Studium war eine einzige Qual gewesen. Kaum zu glauben, dass ich meinen Beruf trotzdem lieben gelernt hatte.
Lag es an mir? Warum wollte sie mich nicht mehr? Beim Einschlafen hatte sie sich noch genussvoll an mich gekuschelt, mich geküsst und mir eine gute Nacht gewünscht.
Ernst hatten ihre blauen Augen mich am Morgen angesehen. Ich spürte, dass ihr Entschluss unumstößlich war und ich dabei kein Mitspracherecht hatte. Sichtlich verwirrt wartete sie auf meine Reaktion, vielleicht auch auf Vorwürfe oder Anklagen. Doch ich blieb stumm. Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf, doch keine war es wert, ausgesprochen zu werden. Wozu auch? Sie wollte mich verlassen und die Gründe dafür lagen auf der Hand. Ich hatte sie nur verdrängt. Ihr Studium war beendet. Ein längerer Auslandsaufenthalt war bereits geplant. Danach würde sie irgendwann eine Familie gründen. In ihrem zukünftigen Leben war kein Platz mehr für den grauhaarigen Liebhaber.
Wir hatten noch miteinander gefrühstückt. Sie hatte ganz normal geplaudert, meine Wortlosigkeit kommentarlos akzeptiert. Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen. Versuchte, mir ihr Bild einzuprägen, für immer.
Zum Abschied küsste sie mich sanft und lange. Es fühlte sich an wie ein Messer in meinem Herzen. Und doch, es war ein süßer Schmerz. Während sie im Bad ihre Kosmetiktasche packte, öffnete ich ihre Handtasche. Ich nahm ein Foto von ihr aus ihrem Geldbeutel und steckte es in meine Brieftasche. Eine einsame Träne lief über meine Wange. Ich wischte sie weg.
„Mach´s gut, Andreas. Und vielen Dank für alles. Ich habe dich sehr lieb.“ Ein letztes Mal nahm ich sie in den Arm. Hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Vergiss mich nicht“, wollte ich schreien. Ich schluckte die Worte hinunter und öffnete die Türe für sie. So viel Anstand wollte ich beweisen. Ihr mit dieser Geste zeigen, dass ich sie freigab. Sie wird keine Nachfolgerin bekommen, beschloss ich in diesem Moment.
Vom Fenster zurücktretend schaue ich auf das Bett. Ich lasse mich fallen und suche in ihrem Kopfkissen Trost. Es duftet leicht nach ihrem Shampoo. Aus und vorbei!
Eine Stunde später bin auch ich unterwegs. Die Tränen fließen und verschleiern meinen Blick. Ich fahre in eine Parkbucht, halte an und hole ihr Bild hervor. Lange sehe ich es an. Eine Ewigkeit, wie mir scheint. Dann zerreiße ich es in winzige Stücke und werfe es aus dem Fenster. Etwa zwanzig Meter vor mir, nahe der Auffahrt zur Schnellstraße, steht eine Trauerweide. Wie passend. Entschlossen gebe ich Gas.

One Reply to “Aus und vorbei”

  1. Starker Text mit sehr viel Wahrheit.
    Leb dein Leben ab Tag 1 und lass es DEIN Leben sein. Vermutlich der Schlüssel zum Glück, der vielen Menschen verwehrt bleibt.
    Umso abstruser, dass er nach einer Nacht ein derart komplexes Gefühl für sie aufbaut.
    Zeugt von Verzweiflung, vom Durst nach Leben und „geliebt werden“.
    Aber er ist eben nur er. Der grauhaarige Jurist, der seine Lebensträume längst hinter sich gelassen und für immer damit abgeschlossen hat.

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