Korrekturen 12

12.Teil – Der Neffe des Analysten (2/2)

»Verdammt, vielleicht habe ich mich mit dem Identitätsnachweis geirrt«, schimpfte Ralph unbeeindruckt, »aber es geht mir sicher nicht darum, meinem Neffen zu schaden – ganz im Gegenteil. Ich habe wichtige Informationen für ihn. Ich kann Ihnen versichern, dass es Ihrer Karriere nutzen wird, wenn Sie jetzt vernünftig handeln.«
Der Anführer der Wachen überlegte einen Moment, dann gab er seinen Leuten ein Zeichen, worauf sie ihre Waffen hoben und Ralph in Schach hielten. Er zog sich ein Stück zurück und holte einen kleinen Kommunikator hervor. Ralph konnte nicht hören, was gesprochen wurde, doch als das Gespräch beendet wurde, wirkte der Mann etwas freundlicher.
»Sie werden mich jetzt begleiten«, sagte er, »der Leiter hat einen sehr eng gefassten Terminplan. Er wird sie in seinem Sicherheitsbüro empfangen und ihnen einige Minuten seiner kostbaren Zeit opfern. Kommen Sie aber nicht auf falsche Gedanken. Auch, wenn Sie mit dem Leiter allein sind, würde es Ihnen niemals gelingen, ihm zu schaden.«
Ralph wurde von der gesamten Truppe durch endlose Gänge geleitet. Ständig hatte er das Gefühl, als wenn sämtliche Waffen auf ihn gerichtet wären. Immer wieder begegneten ihnen Mitarbeiter der Partei in ihren Uniformen, manche bewaffnet, manche nicht. Kurz vor Erreichen des Ziels musste er noch in einen Untersuchungsraum, wo er komplett durchleuchtet wurde.
»Sie scheinen tatsächlich weder über Waffen, noch über nichtmetallische Gerätschaften zu verfügen, die als Waffe dienen könnten«, sagte der Anführer der ihn begleitenden Gruppe, »Sie können jetzt mit dem Leiter zusammentreffen. Es ist die Tür dort.«
Er deutete auf eine gepanzerte Tür direkt vor ihnen.
Ralph drückte die Klinke hinunter und betrat das Büro. Er war überrascht, wie riesig der Raum war. Die Decke befand sich in bestimmt vier Meter Höhe über ihm. Die gesamte, gegenüberliegende Front war ein riesiges Fenster, das einen überwältigenden Blick auf die Stadt ermöglichte. Das Mobiliar war spärlich und äußerst modern wie schlicht. An einer Seite befand sich eine Bar mit Theke und mehreren Hockern davor. Ralph schritt langsam vorwärts in Richtung der Fensterwand und blickte sich immer wieder um. Er schien allein zu sein. Er fragte sich, ob man ihn getäuscht hatte und er in Wirklichkeit nicht mit seinem Neffen zusammentreffen würde. Er trat bis ans Fenster heran und blickte nach unten. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, da die oben nach außen strebende Scheibe den Eindruck vermittelte, man würde völlig ungeschützt nach unten sehen.
»Der erste Eindruck ist immer der Gewaltigste, nicht wahr?«, sagte einen Stimme hinter ihm.
Ralph fuhr herum und glaubte in das Gesicht seines Bruders zu blicken. Er hatte keine Ahnung, wo der Mann so schnell hergekommen sein konnte. Er hatte ein verbindliches Lächeln aufgesetzt und reichte ihm seine Hand.
»Ich bin Herwarth Thoben«, sagte er, »meine Leute nennen mich einfach nur den Leiter. Doch Sie hatten meinem Wachdienst gegenüber angedeutet, dass wir uns näher stehen sollen?«
»Ja, das ist korrekt«, antwortete Ralph, »ich bin dein Onkel. Dein Vater war mein Bruder.«
Herwarth deutete auf eine Sitzgruppe.
»Nehmen wir doch Platz. Im Sitzen redet es sich entschieden leichter. Sie behaupten also, mein Onkel zu sein? Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich kann Ihnen gleich sagen, dass ich Ihnen das nicht abnehme. Der Bruder meines Vaters ist vor vielen Jahren verschwunden und niemals wieder aufgetaucht. Also, wer sind Sie wirklich?«
»Mein Name ist Ralph Geek-Thoben«, sagte Ralph, »und ich war in der Tat der Bruder deines Vaters. Am Tag meines Verschwindens habe ich allerdings diese Welt hier auf eine Art verlassen, wie du es dir niemals vorstellen kannst. Eine Organisation, die sich Oberste Korrekturbehörde nennt, hat mich angeworben, in dem sie mich einfach von hier entführt hat.«
»Und jetzt sind Sie einfach wieder da?«, fragte Herwarth spöttisch, »Ein Mann, der eigentlich bereits vor Altersschwäche gestorben sein sollte? Was wollen Sie? Wollen Sie Geld? Dann kann ich Ihnen versichern, dass Sie von mir nicht einen einzigen Credit erhalten werden.«
»Deshalb bin ich nicht hier«, sagte Ralph, »ich habe schon vor vielen Jahren erkannt, dass du ein sehr ehrgeiziger Mensch bist, der das Potenzial zum Herrschen hat. Kannst du dich an einen Brief erinnern, der dir vor vielen Jahren zugegangen ist. Darin empfahl ich dir, in die Politik zu gehen, da dort eine große Zukunft auf dich wartet. Wie ich sehe, bist du auf einen guten Weg. Ich hatte damals angedeutet, dass ich dich eines Tages persönlich aufsuchen würde.«
Herwarth sah ihn mit aufgerissenen Augen an.
»Woher wissen Sie von diesem Brief?«, fragte er heiser, »Er hat mich damals tatsächlich dazu gebracht, Mitglied der Volkspartei zu werden. Ich habe niemals jemandem von diesem rätselhaften Brief erzählt.«
»Ich habe ihn geschrieben«, sagte Ralph, »ich haben ihn geschrieben, um dich an die Macht zu bringen – weil du das Zeug dazu hast.«
»Dann bist du tatsächlich mein Onkel?«, wunderte sich Herwarth, »Das würde aber auch bedeuten, dass du mich die ganze Zeit über beobachtet haben musst.«
»Das habe ich auch immer ‚mal wieder getan«, gab Ralph zu, »ich musste ja sehen, ob du meine Hinweise angenommen hast, oder ob ich intervenieren musste.«
»Intervenieren? Welche Art der Intervention meinst du?«
»Die Oberste Behörde, für die ich nun arbeiten muss, ist eine Behörde, die sich mit der Korrektur von Zeitanomalien beschäftigt. Eigentlich dürfte ich es dir überhaupt nicht erzählen, aber nun macht es keinen Unterschied mehr, weil ich nicht mehr zurückkehren werde.«
Herwarth schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, ich verstehe das Ganze noch nicht wirklich«, sagte er, »ich soll wirklich glauben, dass du mit der Zeit herumspielst? So etwas, wie Zeitreisen, sind doch Hirngespinnste.«
»Heute, ja«, sagte Ralph, »aber in ein paar Tausend Jahren sind sie möglich. Man hat dort eine Behörde eingerichtet, die in einer Vielzahl von Zeitaltern prüft, ob Korrekturen notwendig sind. Man hat überall geeignete Menschen rekrutiert, die diese Arbeit leisten. Es gibt Analysten, wie mich, die eine Situation bewerten und das Maß und die Vorgehensweise der Änderung berechnen und es gibt auch die Agenten, die diese Veränderungen initiieren und durchführen – manchmal keine angenehme Aufgabe.«
Herwarth sah ihn noch immer skeptisch an und meinte:
»Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich dir das alles abnehme.«
Er griff zur Seite und holte einen kleinen Metallkoffer hervor. Während er ihn aufklappte, sagte er:
»Wir werden nun einen kleinen Test machen. Ich werde dir eine kleine Probe deines Blutes entnehmen und dann werden wir sehen, ob der genetische Fingerabdruck zu deinen Aussagen passt. Reiche mir bitte einmal deine Hand.«
Ralph hielt ihm zögernd seine Hand hin und sah zu, wie Herwarth einen kleinen, Bleistift großen Gegenstand gegen einen seiner Finger presste. Er fühlte einen kleinen stechenden Schmerz.
»Das war es auch schon«, sagte Herwarth und schüttelte den kleinen Stift, »gleich wird mir dieses Testgerät hier zeigen, ob es eine gewisse Kongruenz unserer Gencodes gibt.«
Wenige Augenblicke später piepste das Testgerät und Herwarth blickte konzentriert auf einen kleinen Monitor auf der Innenseite seines Koffers.
»Dein Gencode stimmt fast mit dem meines Vaters überein«, stellte er fest, »es muss also stimmen – du bist mein Onkel. Deine Geschichte ist zwar in höchstem Maße phantastisch, aber ich gehe einfach einmal davon aus, dass sie stimmt. Was genau bietest du mir eigentlich an?«
»Herwarth, ich bin genau darüber informiert, dass du sehr ambitioniert bist und dein Ziel die Herrschaft über den europäischen Kontinent ist. Deine Partei ist gut aufgestellt, aber deine Gegner sind stark. In zwei Jahren finden die nächsten Wahlen statt, die über das weitere Schicksal Europas entscheiden werden. Die PEV wird diese Wahlen haushoch verlieren.«
»Unmöglich!«, brauste Herwarth auf, »Es wurden bereits so viele Organisationen unterwandert. Wir werden die Regierung stürzen. Da bin ich sicher.«
»Träum‘ weiter Herwarth. Ich kenne die Zukunft«, sagte Ralph eindringlich, »du musst in naher Zukunft aktiv werden und Gunter Manning-Rhoda töten.«
»Wen?«, fragte Herwarth entgeistert, »Diesen Niemand? Gunter Manning-Rhoda ist ein Witz. Wir werden ihn und seine linken Aktivisten zermalmen. Dieser Möchtegern-Politiker glaubt, mir ernsthaft entgegen zu treten, indem er aus seinen Aktivisten eine offizielle Partei formt.«
»Dann hat er also bereits die Partei gegründet, mit der er gegen dich bei den Wahlen antreten will?«, fragte Ralph nachdenklich, »Ich hatte geglaubt, wir hätten noch etwas mehr Zeit.«
»Wir brauchen uns um diesen Kerl keine Sorgen machen«, sagte Herwarth selbstgefällig, »er hat nicht den Hauch einer Chance.«
Ralph hob warnend den Zeigefinger und schüttelte den Kopf.
»Ich habe es immer wieder in meinen Datenbanken geprüft. Manning-Rhoda wird aus diesen Aktivisten, wie du sie nennst, eine ernst zu nehmenden Partei formen. Er wird gegen dich antreten – und gewinnen. Deshalb muss er sterben und zwar bald, nämlich noch, bevor er beginnt, in den Wahlkampf einzugreifen.«
Herwarth sah seinen Onkel an.
»Warum erzählst du mir das alles? Was hast du davon, wenn ich das tue?«
Ralph lehnte sich genüsslich zurück und sagte:
»Wenn du an der Macht bist, wirst du einen fähigen Mann an deiner Seite brauchen. Dieser Mann will ich sein. Ich kann dir auch in Zukunft noch mit vielen weiteren Tipps nützlich sein. Überlege es dir.«
»Ich frage mich immer noch, warum du das tust«, sagte Herwarth, »du warst in einer Behörde, die dir ungeheure Macht gab. Warum gibst du das alles einfach auf? Und – wird es nicht Andere geben, die das einfach wieder korrigieren werden?«
»Ich tue es, weil man mich als Jugendlichen einfach rekrutiert hat, ohne mich zu fragen, was ich eigentlich will. Man hat mir damals meinen Lebenstraum einfach zerstört. Jetzt bin ich am Drücker. Ich will wenigstens die Zinsen kassieren, verstehst du? Ich habe die wichtigsten Daten in der Datenbank gelöscht oder zumindest verschlüsselt. Die Zeit ist eine sehr komplexe Sache. Viele Dinge werden nur durch Zufall entdeckt. Wenn nicht einer dieser Zufälle eintritt, wird man meine Manipulation nicht einmal entdecken. Bring‘ du diesen Manning-Rhoda um und wir werden herrschen, Herwarth.«
Herwarth spielte die ihm angezeigte Zukunft in Gedanken durch und seine Augen begannen zu glänzen. Dieser Mann war der Schlüssel zur Macht. Herwarth Thoben würde über einen ganzen Kontinent herrschen.
»Das sollten wir mit einem guten Tropfen begießen«, sagte er, »ich denke, wir werden eine lange, produktive Verwandtschaftsbeziehung haben.«
Er griff zu einem Kommunikator und drückte ein paar Tasten.
»Einen Moment noch«, sagte er entschuldigend zu Ralph.
Dann sprach er in das Gerät:
»Ich brauche sofort ein Team. Spezialisten. Sie dürfen noch nicht negativ aufgefallen sein. Es geht um eine Versetzung in den Ruhestand. Machen Sie Gunter Manning-Rhoda ein entsprechendes Angebot. Sie wissen, was ich meine, und verschonen Sie mich mit Einzelheiten. Ich will sie überhaupt nicht wissen.«
Er legte auf und sah Ralph lächelnd an.
»Wo waren wir stehen geblieben?«

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