Gottes Hammer V

Teshins erste Empfindung war Kälte.

Er lag mit dem Rücken auf weichem Untergrund und suhlte sich in der gnädigen Wärme des Schlafes, als seine Hand mit einem Mal gegen etwas Kaltes stieß. Die simple Berührung durchfuhr seinen Körper wie ein Blitz und zwang sein Bewusstsein zurück in die Realität. Teshin blinzelte ungehalten. Hatte er sich im Schlaf umgedreht und Bekanntschaft mit der Wand geschlossen?

Doch als er zaghaft die Augen öffnete, erkannte er porösen Stein.

Verwirrt setzte Teshin sich auf und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Er lag nicht in ihrem Zimmer im Wirtshaus. Stattdessen fand er sich auf einer Lichtung wieder, um die sich hohe Bäume dem wolkenverhangenen Himmel entgegenstreckten. Er befand sich im Schutz einer steinernen Ruine, deren ursprüngliche Funktion kaum noch zu entschlüsseln war. Wahrscheinlich handelte es sich um einen alten Tempel oder eine Kirche.

Teshin schüttelte den Kopf, drehte den Kopf einmal in diese, einmal in jene Richtung. Er erkannte diesen Wald nicht wieder. Mit wachsendem Unbehagen rieb er sich seine schmerzenden Schläfen. Was ging hier vor? War er dem Schlafwandeln zum Opfer gefallen?

Noch während er sich langsam erhob, brach die Erinnerung über ihn herein wie eine Welle kalten Wassers. Er war nicht zu Bett gegangen, sondern hatte zusammen mit Saskia die verfluchte Kirche aufgesucht. Er entsann sich eines Kampfes gegen den Inquisitor Medardus. Doch dann brach der Strom aus Bildern unvermittelt ab.

Teshin lehnte sich schwer atmend gegen die Ruine. Wo war er hier? Wie viel Zeit war vergangen? Hatte der Dämon ihn an einen unbekannten Ort befördert?

Ehe er eine Antwort finden konnte, meldete sich plötzlich eine Stimme zu Wort.

Na, wieder wach?

Teshin sank wieder zu Boden. Der Satz schien aus seinem Kopf zu kommen.

Du siehst mitgenommen aus. Die Stimme klang kindlich.

„Wer bist du?“, fragte Teshin laut. Fiel er gerade dem Wahnsinn anheim?

Du bist doch nicht wahnsinnig, erwiderte die Stimme, so als läse sie seine Gedanken.

„Ach ja?“ Teshin lachte unkontrolliert auf. „Ich weiß nicht, wo ich bin, wie ich hierhergekommen bin und höre seltsame Stimmen in meinem Kopf. Das nennst du geistig gesund?“

Von gesund habe ich auch nicht gesprochen.

Teshin schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das nicht! Gerade eben war ich noch mit Saskia … da fällt mir ein …“ Er sah sich panisch um und entdeckte schließlich Murakama im hohen Gras. Erfreut las er die vertraute Klinge auf. Sie steckte in der Scheide. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Der gewohnte Stahl gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und des Halts, als er ihn an den Gürtel hängte.

Hier draußen wird dir das wohl nicht viel nützen, höhnte die Stimme.

„Halt die Klappe!“, knurrte Teshin ungehalten. Er strich seine Tunika glatt und entfernte sich einige Schritte von der Ruine. Er musste einen Weg zurück in die Zivilisation finden. Vergeblich hielt er Ausschau nach etwaigen Rauchsäulen, die auf ein Dorf hindeuten könnten.

Lies erst die Inschrift, forderte die Stimme.

„Welche Inschrift?“, fragte Teshin verdutzt. Erst in diesem Moment bemerkte er einen schmalen, verwitterten Obelisken vor der Ruine. Jemand hatte Buchstaben in den Stein gemeißelt. Teshin erkannte die Alte Sprache und biss die Zähne zusammen. Sie brachte ungewollte Erinnerungen hervor. Energisch schob er sie beiseite. Dies war nicht die Zeit für Selbstkasteiung.

Mit zusammengekniffenen Augen konnte Teshin den Namen Sankt Esben auf dem Obelisken entziffern. Andächtig trat er zurück. Offenbar hatte er die Überreste der ersten Kirche der Denomination gefunden!

Der Legende nach erbaute der Heilige Esben nach einer Vision auf einer verborgenen Lichtung im Wald ein Gotteshaus, das nur wahrhaft fromme Menschen erreichen konnten. Diese Großtat wurde auf eine Zeit vor über eintausend Jahren datiert.

Na, du wahrhaft frommer Mensch?, spottete die Stimme. Wie fühlt man sich nach so einer Entdeckung?

Teshin ging nicht darauf ein. Er berührte den kalten Stein zaghaft mit der Hand. Kurz glaubte er, ein Aufflackern reinster Magie wahrzunehmen. Doch im nächsten Moment erhob sich Donnergrollen und Teshin wandte sich erschrocken um. Offenbar würde es bald zu einem Wolkenbruch kommen.

Ich bin ja kein Experte, aber du solltest lieber Schutz suchen.

Ausnahmsweise pflichtete Teshin seinem inneren Quälgeist bei. Ein Teil der Ruine besaß noch immer ein Dach. Ehrfürchtig betrat er das verfallene Bauwerk. Unter normalen Umständen brachte er der Denomination nur wenig Liebe entgegen, aber er fand auch nicht jeden Tag heilige Orte.

Kaum hatte er den schützenden Innenraum betreten, öffnete der Himmel seine Schleusen.

Müde ließ sich Teshin gegen die Mauer sinken. Ihn schauderte. Die Kälte drang durch den Stein ungehindert in seinen Körper.

Vielleicht solltest du ein wenig Gymnastik machen, riet die Stimme.

„Ich gelange an einen heiligen Ort und soll dort Gymnastik machen?“, fragte Teshin ungläubig.

Wenn du eine Lungenentzündung riskieren willst, bitte.

Teshin schnaubte verbittert. „Daran sind Hexen schuld, schon vergessen? Die sind nämlich an allem schuld, was in der Welt passiert.“

Entnehme ich deinen Worten, dass du die Arbeit der Inquisitoren nicht sehr schätzt?

Teshin lachte laut auf. Er konnte nicht anders. Selbst wenn Gott ihn nun für diese Anmaßung in Grund und Boden stampfte, er konnte nicht anders.

„Sehr beschönigend.“, lobte er.

Euphemismus war schon immer meine Stärke. Täuschte er sich oder schwang diesmal Sorge in den Worten mit?

Eine Zeit lang breitete sich Stille aus und nur das Prasseln der Regentropfen beherrschte die Umgebung. Schließlich ergriff Teshin wieder das Wort.

„Wer bist du?“, fragte er erneut.

Immer diese Fragen, seufzte die Stimme. Sagen wir, ich bin dein vertrauter Geist, einverstanden?

„Ich muss wirklich verrückt sein.“ Teshin lehnte seinen Kopf gegen den verwitterten Stein.

Vielleicht. Aber immer noch besser verrückt als tot, nicht wahr?

„Ich bin mir nicht sicher.“, erwiderte Teshin und seufzte. „Vielleicht bin ich ja tot und das hier ist irgendeine Art von Hölle? Immerhin habe ich gleich zwei schwere Verbrechen begangen: in einer Kirche zu kämpfen und einen Inquisitor zusammenzuschlagen.“

Nette Beschreibung, erwiderte die Stimme.

„Ich wünschte, ich hätte ihn umgebracht.“, stieß Teshin hervor. Plötzlich durchfuhren in hungrige Flammen des Zorns.

Glaubst du, Medardus hat den Tod verdient? Und wenn er doch auf Gottes Geheiß hin Hexen richtet?

„Es gibt keine Hexen!“, rief Teshin gereizt. „Das sind alles nur Ammenmärchen! Kein Gott würde so etwas billigen!“

Also verdient Medardus den Tod?

„Ja. Glaube ich zumindest.“ Teshin strich sich gedankenverloren über sein Kinn. „Man muss sich nur ansehen, was er anderen Menschen antut. Weißt du, was im Kerker geschieht? Was ein Inquisitor mit den Angeklagten macht?“

Die Stimme schwieg einige Augenblicke lang. Schließlich erwiderte sie zögerlich: Aber tragen nicht auch die Kläger die Verantwortung? Letztendlich handelt Medardus auf Wunsch des Volkes, oder etwa nicht? Verdient das Volk also auch den Tod?

Teshin schlang die Arme um seine angewinkelten Knie. „Ich weiß es nicht.“, flüsterte er müde. „Ich weiß es einfach nicht.“

Vielleicht musst du es auch nicht wissen. Vielleicht genügt es einfach, das zu tun, was du als richtig erachtest. Du hast Murakama und bist ein Magier. Du besitzt große Macht, die nur darauf wartet, für das Gute eingesetzt zu werden.

„Und was ist das Gute?“, fragte Teshin höhnisch.

Das, mein Freund, musst du mir sagen.

Teshin antwortete nicht. Er verbrachte noch einige Zeit in dieser Position, bis der Regen endlich nachließ und das Gewitter weiterzog Die Sonne entsandte vereinzelt ihre verheißungsvollen Boten und tauchte die Lichtung in Dämmerlicht. Teshin erhob sich zögernd und dehnte sich. Er hatte genug Zeit verloren. Er musste einen Weg aus diesem Wald finden.

Als er aus dem intakten Teil der Ruine trat, entdeckte er mit einem Mal Rauchsäulen hinter den Wipfeln der hohen Nadelbäume. Dort musste ein Dorf sein!

Siehst du? Schon ist dir das Glück wieder hold.

Teshin lächelte. Hoffentlich würde er bald Antworten bekommen. Er musste wissen, wo er sich aufhielt und wie es um den Dämon stand. Er warf einen Blick auf den Obelisken. Saskia und Esben kamen ihm in den Sinn. Esbens Schwester sollte doch heute hingerichtet werden! Vielleicht konnte er es noch rechtzeitig verhindern.

So abenteuerlustig? Ich dachte, du wolltest sie nicht retten?

„Saskia wird mich schon verstehen. Ich bin nur gespannt, an welchen Ort sie gezaubert wurde.“ Teshin kratzte sich am Hinterkopf. „Einmal vorausgesetzt, dass das wirklich Magie war.“

Scheint so, als hättest du eine Menge Arbeit vor dir.

Teshin lachte. „Dann sollte ich mich wohl besser beeilen, oder?“

Ermutigt verließ er die Lichtung und machte sich auf, um zu den Rauchsäulen zu gelangen.

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