Höhlenwahnsinn

Die Dunkelheit vibriert, sie ist schwärzer als schwarz und tief. Sehr tief. Die Erde um mich herum grollt, wie ein schwarzes Loch, um das jeder einen vernünftigen Bogen macht. Nur ich nicht. Ich bin direkt hineingeraten in diese unerforschte Dunkelheit, die meinen Sinnen die Funktion raubt und ihnen schaurige neue Wahrnehmungen andichtet.
Ich starre in die undurchdringliche Masse vor mir und irgendwann sehe ich kleine Partikel, sie tanzen wie wirbelnder Staub um mich herum, sie durchdringen mich und ich rätsele, ob ich aus ihnen gemacht bin. Die Befürchtung steigt in mir auf, dass ich mich in der tiefen Dunkelheit aufgelöst habe, ein Teil von ihr oder vollkommen sie geworden bin. Wo sind meine Kanten? Meine Hände vor mir grenzen sich nicht ab, ich kann sie nicht erkennen. Oder doch? Bin ich das vielleicht schlicht alles um mich herum?
In mir tobt etwas. Etwas nie Gekanntes, etwas Beängstigendes, etwas Mächtiges. Mit unbeirrter Gewalt durchfährt es mich, es durchzuckt mich wie ein Lichtblitz den Himmel, lässt es in meiner Kehle gurgeln, bevor sie sich zuschnürt und mir die Luft zum Atmen nimmt. Irritiert schnappe ich nach Luft, nicht in der Lage zu begreifen, was hier gerade geschieht. Diese eindeutige Übermacht unterdrückt meine Angst. Angst hat der Mensch nur vor dem, was er nicht kennt. Was er nicht einzuschätzen vermag. Die identifizierte Gefahr, die klare Willkür lässt mich nicht zittern. Sie lässt mich kampflos aufgeben, lässt mich ergeben in mein Schicksal auf das Unausweichliche warten.
Meine Beine pulsieren, mein Herz pocht schnell. Ist das Aufregung? … Neugier? Bin ich etwa neugierig auf mein eigenes Ende? Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich mich in derartiger Klarheit über mich selbst befunden. Alle meine Sinne sind nach innen gekehrt, ich spüre nichts, außer mich selbst, ich rieche und sehe nur in mich hinein. Was ist das, dieses Ich? Ist es die Dunkelheit? Ist das nicht ganz natürlich, dass es so kommt, wie es kommen musste? Hatte ich jemals die Möglichkeit, mich so auszubreiten, wie ich es jetzt gerade mache? Obwohl ich dastehe, die Arme um den Körper geschlungen, die Beine geknickt. Nein, in der Dunkelheit bin ich nicht mehr der Körper. Da bin ich etwas anderes, etwas größeres. Da bin ich das, was eingesperrt in mir nur dann und wann mal zum Vorschein kam, um so schnell wie möglich wieder zu verschwinden.
Ach, du willkommene Tiefe, herrliche Schwärze, wie habe ich dich gemieden und bereue es, nun da ich verstehe, dass in dir die Lösung liegt. Fürchtete ich mich deshalb vor dir? Weil ich wusste, was du verbirgst in deinem undurchdringlichen Mantel, den man nur erforschen kann, wenn man ihn sich selbst umlegt?
Es ist seltsam. Jetzt, da ich weiß, dass du ich bist, dass du mit mir tun kannst, was immer du willst, und dass ich keinerlei Macht habe, mich zu behaupten, fühle ich mich wohl. Ich lehne mich zurück in diese schmeichelnde Gewissheit, die ich stets ersehnt und doch nie gefunden habe. Ist es das, was mich so unglücklich gemacht hat? Die Ungewissheit über mich selbst? Die vergebliche Suche der einzigen Lösung außerhalb meines eigenen Ichs?
Stille.
Ich brauche keine Antwort.
Irgendwo zieht mich ein Seilzug aus der Schwärze heraus. Jetzt spüre ich es wieder: die Plattform unter meinen Füßen, die mich trägt, die Gitter um mich herum, die mich dort oben eingesperrt haben und dort unten die reinste Form der Freiheit bedeuteten, die ich jemals gespürt habe. Ich möchte nicht nach oben, nicht hinaus in diese Welt, in der ich nicht bestehen kann, die mich nicht liebt. Die Dunkelheit wird lichter. Ich blicke auf schwarze Hände und auf enge Wände um mich herum. Unter mir liegt ein kleiner Sack mit edlen Steinen, die in der tiefen Dunkelheit genau denselben Wert hatten wie ich. Ich schließe die Augen und jetzt sehe ich es wieder: kleine tanzende Partikel, weite Tiefen, undurchdringliche Dunkelheit. Ich sehe mich und lächle.
Eine Hand zeigt auf mich und ich höre jemanden sagen: „Schau mal, wie der grinst. Irgendwann werden die alle irre. Hol den Nächsten und schaff den da weg!“

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