Das Paradies (1/4)

Das Paradies – Teil 1

»Lange werde ich nicht mehr hier sein.«
Sebastian drehte sich um und sah seinen Partner spöttisch an. Bernd fing immer wieder davon an und merkte überhaupt nicht, wie sehr er allen damit auf die Nerven ging.
»Natürlich. Vermutlich gewinnst du gleich heute die Lotterie und machst dich auf den Weg ins Paradies.«
»Genau das werde ich«, sagte Bernd. »Und wenn es so weit ist, werde ich mich nicht verabschieden. Ich werde einfach gehen, das schwöre ich dir. Während ihr noch hier in diesem Loch schuftet, sehe ich die Sonne und lasse mich verwöhnen. Überhaupt: Wenn du das alles so skeptisch siehst – wieso spielst du denn in der Lotterie?«
»Müssen wir diese Diskussion immer wieder führen?«, fragte Sebastian vorwurfsvoll. »Ich bin zwar sicher, dass sie uns dadurch unseren mühsam verdienten Lohn nur aus der Tasche ziehen, aber vielleicht gewinne ich ja doch etwas Geld, damit ich mir wenigstens eine eigene Zelle für mich alleine leisten kann. Diesen Hauptgewinn will ich doch gar nicht. Gut, wenn es mich träfe, würde ich mich nicht dagegen wehren, aber in erster Linie will ich ein kleines bisschen Privatsphäre kaufen können.«
»Siehst du Seb, darin unterscheiden wir uns. Bei mir heißt es ›ganz oder gar nicht‹. Ich will hier weg. Wenn ich allein diesen Scheißjob betrachte: Kanalreinigung in der vierzigsten Sub-Ebene. Weißt du, wann ich zum letzten Mal das Tageslicht gesehen habe? Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern. Und mach dir nichts vor: Ist man einmal hier unten gelandet, ist das auch das Ende der Karriere.«
Sebastian lachte humorlos auf. »Von welcher Karriere redest du denn? Von der Normschule direkt in die Sub-Ebenen? Das ist keine Karriere. Sieh es doch von der positiven Seite. Wir haben zumindest Arbeit. Okay, wir stehen zehn Stunden am Tag mit unseren Stiefeln im Brackwasser und sehen nur das, was uns unsere Helmlampen zeigen, aber wir haben ein Einkommen. Wir haben eine Teilzeitzelle und können uns die Standardrationen leisten.«
»Ich könnte kotzen, wenn ich dich so höre!«, ereiferte sich Bernd. »Ist es das, was du unter Leben verstehst? Die Erde ist im Arsch, mein Freund. Die einzige Chance, die wir haben, ist, von hier zu verschwinden. Ist das für dich etwa kein Engelsgesang, wenn dir einer erzählt, du dürftest auf diese neue Welt – Park? Stell dir vor: Saubere Luft, Sonne, echtes gewachsenes Gemüse und Obst. Es muss ein Paradies sein. Ich habe in meiner Zelle Fotos davon. Ich will da hin.«
»Fotos? Bist du sicher? Ich habe noch nicht gehört, dass Nachrichten von dort zurückgekommen sind. Ist zu weit weg. So ein Foto wäre jahrelang unterwegs und so lange läuft die Besiedelung von Park noch nicht. Das muss ein Fake sein.«
Bernd winkte ab. »Du wirst mir das nicht schlecht reden. Irgendwie müssen sie doch Feedback vom Ziel bekommen. Auf jeden Fall weiß ich genau, dass ich dort hin will.«
»Ich weiß nicht«, sagte Sebastian. »Hast du gehört, was sie mit denen machen, die nach Park dürfen? Sie stecken sie in diese neuartige Transmitterzelle. Wer garantiert dir, dass das nicht ein gewaltiger Schwindel ist und man die Leute einfach beseitigt? Die Erde hat 36 Milliarden Einwohner. Es heißt zwar, der in der Zelle zerstrahlte Körper käme am Ziel vollständig aus dem Empfänger, aber weiß man ’s wirklich?«
Bernd war einen Moment lang nachdenklich, dann entspannte sich seine Miene. Er lächelte.
»Fast hättest du mir einen Bären aufgebunden, Seb. Mich bringst du nicht davon ab. Ich werde dir eine Gruß-Mail schicken, wenn ich auf Park in der Sonne liege.«
»Ja klar! Und wann soll die hier ankommen? Wenn ich alt und grau geworden bin?«
Bernd verzog das Gesicht und reckte ihm den ausgestreckten Mittelfinger entgegen.
Sebastian hatte keine Lust mehr, weiter auf diesem Thema herumzureiten. Seit Jahren schon gab es diese dumme Lotterie und der Hauptgewinn war stets eine Reise nach Park, dem Paradiesplaneten. Hier unten im Dunkel der Tiefebenen konnte man sich kaum vorstellen, dass es weiter oben noch wirkliche Wissenschaft und Fortschritt geben sollte. Aber man hatte es tatsächlich geschafft, ein Gerät zu entwickeln, das in der Lage war, materielle Körper über eine unvorstellbar weite Entfernung zu einem speziellen Empfänger zu senden, den das erste Fernraumschiff vor etlichen Jahren auf dem Planeten Park abgesetzt hatte. Es war die allererste Expedition gewesen – und gleich ein Volltreffer. Weitere hatte es leider nicht gegeben, da man sich die immensen Kosten solcher Raumschiffe nicht mehr leisten konnte. Seit es die Transmitterstrecke nach Park gab, waren schon Tausende von Menschen dorthin gereist. Der einzige bekannte Haken bei der Sache war die Tatsache, dass es eine Einbahnstraße war, doch wer käme freiwillig von einem paradiesischen Planeten auf die Hölle der Erde zurück? Sebastian konnte diese Gedanken nicht aus seinem Kopf verbannen. Dieses ständige Aufwärmen dieses Themas durch Bernd brannte es förmlich in seinen Schädel ein.
»Weißt du, was du nach der Arbeit machst?«, fragte Bernd, als sie gemeinsam unter der Dusche in ihrer Basis in der 39. Sub-Ebene standen.
Das Wasser roch, wie üblich, etwas muffig und war nur lauwarm. Um den Gestank des Abwasserkanals loszuwerden, brauchte es eine gehörige Menge an Duftseife, die es leider nur all zu selten in dem Laden in der 34. zu kaufen gab.
»Ich schlage mir gleich meine Ration in den Bauch und schaue ein wenig Vid. Zu mehr reicht es heute nicht. Ich bin total fertig.«
»Ich habe ein Sixpack Synthi-Bier«, sagte Bernd. »Sogar mit Alkohol. Kann ich dich damit locken? Dann wären wir wenigstens nicht allein.«
»Danke Bernd, aber heute nicht, ok? Ich denke, dass ich früh schlafen gehe – wenn dieser blöde Mitmieter weg ist.«
»Ist es immer noch dieser Kotzbrocken?«
Bernd nickte. »Genau der. Wenn ich nur etwas mehr Geld hätte, würde ich ihn auszahlen und vor die Tür setzen.«
Sie trockneten sich ab, zogen sich an und verabschieden sich. Bernd nutzte eine Teilzeitzelle in der 37. Sub-Ebene, während Sebastian in der 31. Sub-Ebene wohnte, außerdem in einer anderen Richtung.
Sebastian zwängte sich durch die engen Gänge der Ebene an unzähligen Bürgern vorbei zur nächsten Rohrbahn. Sie war um diese Zeit brechend voll und nach wenigen Minuten fühlte er sich bereits genauso verschwitzt wie vor dem Duschen. Die Luft im Waggon roch verbraucht und stickig, aber die Ventilation sprang trotzdem nicht an. Nach kurzer Fahrt verließ er die Bahn und kletterte in einen der Aufzüge für Normalbürger, in denen es nicht viel anders aussah als in der Bahn. Im 31. verließ er die Liftkabine und quetschte sich in die überfüllten Gänge seiner Wohnebene. Die Beleuchtung war wieder einmal defekt und alles nur schwach und diffus ausgeleuchtet.
Er war froh, als er endlich die Ziffern 31-2356-654X entdeckte, die seinen Wohnblock kennzeichneten. Hier bewohnte er eine Teilzeitzelle. Richtige Wohnungen gab es schon lange nicht mehr – jedenfalls nicht für Normalbürger der Sub-Ebenen. Eine Zelle bestand aus einem Schlafbereich mit einem großen Bett, einem Aufenthaltsbereich mit Vid, ausfahrbahrem Tisch, Kom-Konsole und einem Sessel. Dann gab es noch ein winziges WC und die kombinierte Kühlmikrowelle. Mehr gab es nicht und auch das musste er sich mit einem Mitbewohner teilen, der die Zelle nutzte, solange er selbst auf der Arbeit war.
Sebastian blickte auf seine Armbanduhr – das Geschenk einer Freundin, von der er sich vor Monaten getrennt hatte. Erleichtert stellte er fest, dass sein Teilzeitkollege Karl längst weg sein musste. Automatisch gab er den Berechtigungscode ins Zutrittsterminal ein, worauf sich der Eingang quietschend öffnete. Das Erste, was er registrierte, war die Tatsache, dass das Licht im Innern bereits brannte. Er trat ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Die Luft war warm und stickig, obwohl die Ventilation leise rauschte, also war die Luftaufbereitung wieder einmal defekt. Der Tisch im Aufenthaltsraum war herausgefahren und es standen zwei leer gegessene Rationsschalen darauf. Erst jetzt vernahm er das verhaltene Stöhnen aus dem Schlafraum. Überall lagen Kleidungsstücke verstreut, wovon einige unzweifelhaft einer Frau gehörten. Ein Blick ins Bett zeigte ihm, dass Karl ganz und gar nicht verschwunden war, sondern sich äußerst konzentriert mit einer Frau beschäftigte, die nackt in seinem Bett lag. Beide schreckten hoch, als sie ihn entdeckten.
»Verdammt, Seb!«, fuhr Karl ihn an. »Du siehst doch wohl, dass ich beschäftigt bin, oder? Findest du es etwa toll, uns zu stören?«
Sebastian spürte, wie der Ärger in ihm hochstieg, wie eine Welle.
»Karl, du bist ein Teilzeitmieter – genau wie ich! Du hast jetzt hier nichts verloren. Die Zelle gehört für die nächsten Stunden mir und es ist mir scheißegal, ob du zum Schuss gekommen bist, oder nicht. Nehmt eure Klamotten und verpisst euch. Das ist schon das dritte Mal, dass ich dich während meiner Nutzungszeit antreffe.«
»Hab dich nicht so, du Spielverderber. Was soll Milena von dir denken?«
»Deine Milena ist mir absolut gleichgültig! Ich will, dass ihr verschwindet, und zwar sofort. Ich gebe euch drei Minuten, bevor ich die Ordnungskräfte rufe.«
»Ist ja schon gut«, knurrte Karl und wälzte sich von der Frau herunter.
Sie richtete sich auf und bedeckte ihre Blöße. Sebastian konnte sehen, dass ihr die ganze Situation unsagbar peinlich war, doch er blieb hart. Karl nahm sich immer wieder das Recht heraus, seine Nutzungszeit zu überziehen, doch er brauchte seine Ruhe. Er zog sich in den Küchenbereich zurück und warf die Reste von Karls Ration in den Müllschacht. Hinter ihm huschte die Frau vorbei und hastete aus der Wohnung. Karl hatte sich eine speckige, alte Hose übergezogen und stand mit bloßem Oberkörper in der Tür.
»Darüber reden wir noch!«, blaffte er.
»Ich denke nicht. Du weißt genau, dass ich im Recht bin. Ich habe mein Geld nicht gestohlen und meinen Schlaf brauche ich auch.«
Mit einer bestimmenden Handbewegung deutete er auf die Tür.
»Und jetzt verschwinde!«
Mit einem wütenden Knurren griff Karl nach einer schmutzigen Jacke und zog sie über seinen nackten Oberkörper, trat ohne ein weiteres Wort auf den Gang hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Sebastian atmete erst einmal tief durch, als er die kleine Zelle endlich für sich allein hatte. Mürrisch blickte er sich um. Karl hatte überall seine Sachen ausgebreitet. Nie räumte er etwas weg oder machte sauber. Ein Blick auf das Bett ließ ihn angewidert das Gesicht verziehen. Mit einem Ruck riss er das Einmal-Bettzeug herunter und warf es in den Müll. Überall begegnete ihm Dreck und Unrat.
Als ein leiser Glockenton erklang, hob er überrascht den Kopf. Er hatte noch nichts in der Mikrowelle erwärmt, also musste es das Kom-Element sein. Ein Blick auf das blinde, zerkratzte Display sagte ihm, dass er Post erhalten hatte. Er bekam nie Post, außer, wenn es sich um Zahlungsaufforderungen handelte. Müde ließ sich Sebastian auf den Sessel vor dem Tisch fallen und schob die Tischplatte etwas in die Wand zurück, um besser an das Kom-Element heranzukommen. Er drückte auf die Annahmetaste und sah auf den Bildschirm. Er musste sich anstrengen, um auf dem farbstichigen Display etwas erkennen zu können.
Es war eine Mitteilung der Lotteriegesellschaft. Kurz dachte er nach, ob vielleicht sein Konto beim Kauf des letzten Loses keine Deckung aufgewiesen hatte, doch war er sicher, dass das nicht der Fall sein konnte.

»Sehr geehrter Herr Passlicki«, stand dort geschrieben. »Zu unserer großen Freude dürfen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Los bei der aktuellen Ziehung der Lotterie gezogen worden ist. Um Ihren Preis in Empfang nehmen zu können, legitimieren Sie sich bitte durch ihr Chipimplantat. Im Anschluss ergeht ein Druckauftrag an ihre Kom-Einheit. Bitte lesen Sie sich die Anweisungen und Hinweise auf dem Ausdruck genau durch.
Wir gratulieren Ihnen zu Ihrem Gewinn.«

Minutenlang starrte Sebastian auf diesen Text. Er hatte noch nie etwas gewonnen. Sollte die Mitteilung tatsächlich echt sein? Würde sich sogar sein Traum erfüllen und er könnte Karls Anteil an dieser Zelle aufkaufen? Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Ein leiser Glockenton erinnerte ihn daran, dass das Terminal auf eine Eingabe von ihm wartete. Nervös hielt er seinen Unterarm mit dem Chipimplantat an das Erfassungsgerät. Ein Quittungston zeigte an, dass er gescannt worden war. Einen Moment später begann der Drucker seiner Kom-Einheit zu summen. Sebastian betete, dass noch genügend Folien im Gerät steckten und der Prägekopf nicht wieder klemmte. Er hatte Glück.
Einen Augenblick später fielen die Ausdrucke aus dem Auswurfschacht und er nahm sie in die Hand. Hastig überflog er die Seiten und suchte nach dem Betrag, der ihm zustehen würde, doch nirgends konnte er ihn finden. Er begann von neuem, den Text zu lesen:

»Gewinnbenachrichtigung.
Sebastian Passlicki, im Folgenden Gewinner genannt, wurde bei der aktuellen Ziehung der Lotterie – Auslosungsnr. 356/22134-65000 – als Hauptgewinner ermittelt.
Gegen Vorlage dieser Gewinnbenachrichtigung wird dem Gewinner das Recht eingeräumt, mit maximal fünfzehn Kilo Gepäck die Reise zum Planeten Park anzutreten. Dieses Recht ist nicht übertragbar und muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen beansprucht werden. Nicht eingelöste Lose verfallen nach Ablauf der Frist. Eine alternative Abgeltung in Form von Geld kann nicht erfolgen.«

_________________________________________________

Die Fortsetzung dieser Geschichte könnt Ihr am 05. Januar hier lesen.

One Reply to “Das Paradies (1/4)”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Bitte akzeptiere unsere Datenschutzbedingungen, nur so können wir Dich und uns schützen.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.