Die Wölfe von Asgard – Die Nordmaid

Der Kamm scherte mit brüsken Bewegungen über ihren Kopf als wolle er ihr sämtliche Haare herausreißen. 
»Ich habe in meinen langen Jahren als Kammerdienerin noch nie so eine Wolle bearbeiten dürfen«, zeterte Yilma, während sie mit ihren eisenharten Fingern die grazile Schnitzerei aus Buchenholz in ein monströses Todeswerkzeug verwandelte.
»Aua, das tut weh!«, zischte Deila zurück und versuchte sich vergeblich aus dem festen Griff der Dienerin zu lösen. 
Yilma ließ nicht mit sich diskutieren. »Ihr benehmt euch wie ein Kleinkind. Stur wie ein Esel und bockig wie eine Ziege. Aber ich habe dem Jarl versprochen, heute eine ansehnliche Dame aus Euch zu machen und möge Freya es bezeugen, ich habe ihm noch nie den Dienst versagt. Auch wenn Ihr mir diese Aufgabe, wie immer, zu einer Herausforderung macht. Jetzt kommt, das Bad wartet. Hopp Hopp!« 
Stöhnend schälte Deila sich aus dem gepolsterten Stuhl und folgte der Kammerdame im respektablen Abstand. Wenn Yilma erst einmal erzürnte, konnte sie sich in einen tosenden Seedrachen verwandeln. 

Der große Zuber war mit dampfendem Wasser gefüllt worden und der verspielte Duft von Lavendel und Kiefernnadeln lag in der Luft. 
»Ausziehen, Kind! Und dann hereinspaziert«, befahl Yilma und bugsierte ihren massigen Körper mit einladender Geste hinter die hölzerne Wanne. 
Bei diesen Worten zuckte die junge Frau unwillkürlich zusammen.
»Aber, aber. Da gibt es doch nichts, wofür Ihr euch schämen müsstet.« Der Ton der Kammerdienerin nahm für den Bruchteil eines Moments so etwas wie Mitgefühl an.
Deila begann widerwillig damit, ihr graues, schmuckloses Wollkleid über den Kopf zu ziehen. Sie hasste ihren Körper. Die kleinen Brüste würden kaum ein Kind ernähren können, dafür waren ihre Arme viel zu kräftig und ihre Schultern breit wie die eines Bauern. Das Gesicht eines jungen Knaben besaß sie, nur die strahlenden blauen Augen, in welchen die tosende Kraft des Meeres schäumte, so sagte ihr Vater stets, hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Deila kam sich jedoch ausschließlich abstoßend vor, ein Mann und doch eine Frau, vereint in einem unausgeglichenen Verhältnis. Da vermochte auch ein derartiges Kompliment nicht viel dran zu ändern. Vermutlich hatte sie bisher nur deswegen keine Schmach über sich ergehen lassen müssen, weil sie, mit nunmehr 23 Jahren, die jüngste Tochter des Jarl war. 
Als sie sich auch ihrer Unterwäsche entledigt hatte, stieg sie, so schnell es ihr nur möglich erschien, in den dampfenden Zuber. Das Wasser ließ zumindest den Großteil ihres Körpers verschwinden und sie besaß eine Ausrede für die Schamesröte, die ihr womöglich gerade ins Gesicht stieg. 

Plötzlich öffnete sich die Tür und Ylvie schritt in das von Dampfschwaden durchzogene Zimmer, ein roter Wasserfall aus Seidentuch wehte spielerisch hinter ihr her.
Sie sieht wirklich umwerfend aus.
»Hallo, Schwesterherz. Sei mir gegrüßt, Yilma«, begrüßte sie die beiden lächelnd. »Schon bereit für deinen großen Auftritt heute Abend? Vater redet nur noch davon. Der Jarl aus Ustenström wird bald hier eintreffen und mit sich bringt er einen wahren Leckerbissen. Soweit ich weiß, soll Hjalmaer von prächtiger Statur sein, ein Mann wie ihn sich jede Frau nur wünschten könnte. Manieren hat er und ein Schwert zu führen, vermag er auch. Ob auf dem Schlachtfeld oder im Ehebett. Das kann einem nur Recht sein.« Sie vollführte eine spielerische Drehung und grinste kokett. 
»Doch warum sollte er nur einen müden Blick auf mich werfen, wenn doch meine Schwester neben mir sitzt?« Manchmal fühlte sich Deila so unendlich müde. Es war doch immer dasselbe und am Ende ging sie leer aus. 
Nicht, dass sie sich für einen der Männer, interessiert hätte, aber das Gefühl nicht gewollt zu werden und diese Demütigung auch noch bis an ihr Lebensende ertragen zu müssen, war ein Schicksal, das die Götter verflucht haben mussten. 
»Lasst uns für einen Moment alleine, Yilma«, ordnete Ylvie an.
Mit einer unbeholfenen Verbeugung entfernte sich die Kammerdame, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
»Darf ich heute deine Haare waschen? Sie müssen glänzen, musst du wissen. Wir wollen Vater doch nicht im Stich lassen.« Ohne weiter zu fragen, begann Ylvie damit, ihre Schwester zu schrubben.
Ihre Bewegungen erschienen Deila weit weniger rustikal als die ihrer Kammerdame und so hieß sie sie willkommen, auch wenn sie längst durchschaut hatte, was die Absichten ihrer großen Schwester darstellten. »Vater schickt dich, nicht wahr? Du sollst mir Mut zureden. Wie immer.«
»Scharfsinnig wie eh und je, meine kleine Deila«, schmunzelte Ylvie, während sie die Seife aus den Haaren wusch. »Aber auch liegt es mir am Herzen dich glücklich zu wissen. Schließlich sind wir Schwestern und achten aufeinander.«
»Hättest du mich jemals wirklich geachtet, hättest du mir vermutlich geraten zu verschwinden, bevor Vater es wieder mit einer Heirat versucht«, grummelte die junge Dame verdrießlich. »Schließlich bist du es, die mit dem großen Helden Aegir Jötunson, dem Riesen von Skiringssal verheiratet wurde. Jeder Mann, der mein Antlitz erblickt, hat entweder Mitleid oder lacht mich aus.«
Ylvie spülte ein letztes Mal das mausbraune Haar aus, bevor sie ein Tuch heranholte, mit dem sie Deila abtrocknen konnte. »Großer Held? Das ich nicht lache. Ein Feigling ist er geworden, träge und trübselig. Ich musste ihm sogar mit der Auflösung unseres Bundes drohen, ehe er einwilligte mit zur See zu fahren.« Sie begann damit, das nasse Haar ihrer Schwester zu trocknen. »Er will kaum noch mit mir reden und das Bett teilen wir auch nur noch selten. Er ist in tiefe Gedanken verstrickt und seine Aussage, ein Gott soll ihn berührt haben, macht mir Sorge.« Für einen Augenblick nahm ihr wunderschönes Gesicht etwas finsteres an.
»Da hat dein Auftritt auf dem letzten Bankett sicherlich zur Linderung beigetragen«, erwiderte Deila bissig. »Ich habe Vater selten so wütend erlebt.«
Ylvie winkte ab. »Soll er doch heulen wie ein Seehund. Eine Dame muss kämpfen, wenn sie in dieser Gesellschaft etwas haben will!«
Die junge Frau nickte matt. »Kämpfen, ja«, murmelte sie nur in sich hinein. Dass Deila seit Jahren mit dem Speer übte, hatte sie ihrer Schwester und jedem anderen Skiringssaler bisher verschwiegen. Eines Tages wollte sie als erste Frau der Nord zur See fahren. Wäre da nicht die anstehende Hochzeit. Vermutlich will er mich eh nicht.
Seltsamerweise gab ihr dieser Gedanke etwas Trost.
»Dann mal raus aus der Wanne«, zwitscherte Ylvie und zog sie beinahe an den Armen empor. »Ein passendes Kleid sollten wir dir suchen«, sie blickte Deila abschätzend an. »Vielleicht etwas, was den Körper nicht so sehr betont? Vater hat Seide aus Konstantinopel mitgebracht, ein paar der Kleider sollten selbst dir passen.«
»Du findest stets die passenden Worte, um mich aufzubauen, Schwesterherz«, knirschte Deila, schluckte ihren aufwallenden Zorn jedoch herunter. Ylvie konnte sie, von Freya mit besonderer Schönheit gesegnet, einfach nicht verstehen. Niemand konnte das. Sie konnte es ja schließlich selbst nicht. Seufzend ließ sie sich an den Ankleidestuhl führen und ihre Schwester überhäufte sie mit Seide und Schmuck, aber vor allem mit Elend.
»Das sieht furchtbar aus! Können wir nicht etwas aus Wolle nehmen?«, klagte Deila gequält.
»Kommt nicht in Frage! Wolle ist kratzig und grob…«
»Ich auch!«, wurde sie von ihrer Schwester unterbrochen. »Und du weißt das! Warum nur könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?« Fast kam ihr eine Träne.
Ylvie hielt für einen kurzen Moment inne. Dann kniete sie sich vor ihre Schwester und für einen Moment waren ihre Augen auf gleicher Höhe. »Es kommt der Tag, an dem eine Frau akzeptieren muss, dass sie nun eine Frau ist. Vater hat Erwartungen an dich und die solltest du ihm nicht abschlagen. Er hat so viel für dich getan.«
»Du hast diesen Erwartungen immer getrotzt und doch bist du hier«, antwortete Deila verdrießlich. Sie war diese falschen Worte leid. Dieses falsche Mitleid. Sie wollte nur fort, egal wohin. Sich verstecken und nie wieder gesehen werden. Doch das würde ihr Vater wohl kaum erlauben. Sie verdrängte die Tränen, ergab sie sich ihrem Schicksal und entschied sich schweren Herzens für ein luftiges blaues Kleid mit grüner Spitze und lang ausgeschnittenen Ärmeln. Darin sah sie zumindest nicht aus wie ein Ochse, der in Seidenstoff gepresst wurde. 
Ylvie befestigte ihr einen mit Perlen verzierten Kamm im Haar, und legte ihr ein silbernes Amulett der Freya um, als Gabe der Fruchtbarkeit und der Fortpflanzung. 
Deila schauderte, als das kalte Metall ihre Haut berührte. Es fühlte sich falsch an. nach etwas fremden, das nicht zu ihr gehörte.
»Bist du bereit? Der Jarl und sein Sohn werden bald hier sein«, fragte Ylvie ihre Schwester.
»Ja«, log Deila, dann folgte sie Ylvie in die große Halle. 
Ich hoffe das ist schnell vorbei.

»Da ist er ja, mein kleiner Stern!«, Islav umarmte Ylvie innig, bevor er sich an Deila wandte. »Fühlst du dich bereit, deinen zukünftigen Bräutigam kennenzulernen?«, fragte er sie mit eindringlichem Blick.
»Ja, Vater«, sie schlug die Augen nieder und glaubte sich ihre eigene Lüge nicht. 
»Das ist meine Tochter!«, lobte der Jarl und klopfte ihr auf die Schulter. In der Berührung steckte keine Liebe. 
Wann kämpfe ich endlich? Sie bohrte ihre Fingernägel in die Hand bis es wehtat.

Die große Halle erschien ihr heute überraschend leer. Der nackte Stein der Wände strahlte keine Behaglichkeit aus und die Wärme des Kamins drang nicht zu Deilas Herzen vor. Sie starrte in die Flammen und verlor sich für einen Moment in ihrem knisternden Spiel. 
Ylvie riss sie aus ihren Tagträumen. »Hjalmaer wird gleich hier sein. Ich kann es kaum erwarten«, schwärmte sie aufmunternd, doch als sie in Deilas Gesicht sah, stoppte sie jäh. »Gut, ich habe es wirklich versucht. Ich kann Vaters Wort nicht ungeschehen machen, das weißt du…?«
Bevor Deila etwas erwidern konnte, trat auf einmal eine Gestalt aus dem Schatten einer Säule. »Welch verzückender Anblick«, schnurrte Byarne, während sein Blick Ylvie förmlich die Kleider vom Leib riss.
»Tausende Lieder würde ich für Euch schreiben, um doch nur das eine zu sagen. Eine Lied auf Eure gottgleiche Schönheit, wenn Ihr gestattet?« Er zupfte an der Leier.
Und jetzt auch noch der. Irgendwer sollte ihn erdrosseln.
»Lieber nicht, spart Euch das für unsere Gäste auf«, winkte Ylvie ab.
Deila war ihr unendlich dankbar dafür. Sie zog ihrer Schwester unauffällig am Kleid und dirigierte sie zu dem Podest, wo sie heute ausnahmsweise neben ihrem Vater residieren würden. 
Ohne ein weiteres Wort ließen sie den Skalden stehen und suchten sich ihre Plätze. 

Es dauerte nicht mehr lange, bis von draußen eindringliche Stimmen ertönten, gepaart mit Dutzenden Stiefeln, die durch den Matsch pflügten. Die Pforte der großen Halle wurde aufgerissen und Jarl Magnar von Ustenström trat in die Halle, dicht gefolgt von etlichen Männern. 
Deilas Blick richtete sich jedoch nur auf einen. 
Hjalmaer war ein ansehnlicher Bursche, groß, selbst für einen Mann der Nord. Sein aristokratisches Gesicht, mit den hohen Wangenknochen, besaß eine gewisse Härte, jedoch strahlten seine grauen Augen in einem unberechenbaren Glanz. Sein langes dunkles Haar hing in einem imposant geflochtenen Zopf über seine Schultern und ein flauschiger schwarzer Pelz hüllte ihn gänzlich ein. Zweifelsohne war dies ein Mann, der sich jede Frau aussuchen konnte, die er haben wollte. 
Deila konnte sich nicht entscheiden, ob sie das gut finden sollte. Zwar erschien ihr die Aussicht, heute doch nicht verheiratet zu werden, irgendwie als ein tröstender Gedanke, jedoch folgte dem stets die Schmach und die bittere Einsamkeit. Irgendetwas schnitt Deila plötzlich die Luft ab, sie merkte, wie sie keuchen musste, doch zwang sich zur Ruhe. 
»Seid mir gegrüßt, Islav Sturmtöter, Jarl von Skiringssal. Ich bringe Geschenke mit und meinen Sohn, um ihn mit Eurer bezaubernden Tochter zu vermählen.« Der groß gewachsene Mann, der seinem Sohn unwahrscheinliche Ähnlichkeit entgegenbrachte, verneigte sich wie es die Etikette verlangte. 
»Seid mir gegrüßt, Magnar von Ustenström. Ich biete euch Fleisch und Met aus meinen Hallen und meine bezaubernde Tochter, um sie mit Eurem Sohn zu vermählen«, erwiderte Islav die Geste und forderte seine Gäste auf, sich zu setzen. 
Magnar jedoch schritt kurz auf das Podest zu und verbeugte sich auch vor Ylvie. »Ihr seid bezaubernd. Sicher werdet Ihr meinem Sohn eine gute Frau sein.« Er lächelte freundlich.
Deila wollte sich einfach nur noch übergeben. Wein wäre jetzt genau das Richtige dafür, aber erst musste sie das Ganze hier über sich ergehen lassen. Alles beim Alten. Ein Gefühl der Ohnmacht schlich sich durch ihr Empfinden und machte sie taub gegenüber allen Empfindungen. Ihr aufgesetztes Lächeln gefror, bis es starb. 
»Ihr macht mich ganz verlegen, doch ich befürchte meine Hand ist bereits vergeben. Die Ehre euren Sohn zu begatten, gebührt meiner Schwester.« Sie deutete auf Deila. 
Plötzlich erfüllte eine bedrückende Stille den Raum. Das muntere Stimmengewirr erstarb für einen Moment. Alle Augen richteten sich auf sie.
Die junge Frau musste schlucken. Jetzt war es soweit. Der Augenblick der hässlichen Wahrheit, die keiner wirklich erfahren wollte.
Der Blick von Magnar richtete sich auf sie und für einen Moment flackerte etwas undefinierbares in seinen Augen, bevor er sich wieder fing und der Höflichkeit halber auch vor ihr niederkniete. »So sei es!«, verkündete er laut, bevor er Islav steif zunickte und Platz nahm. 
Deila folgte ihm mit einem müden Blick. Er empfindet mich als abstoßend, schlimmstenfalls als eine Beleidigung, die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.
Dann schaute sie zu Hjalmaer und stellte fest, dass dieser sie schon mit einem undefinierbaren Blick anstarren musste, seit er in der Halle aufgetaucht war. Sein Vater schritt an ihn heran, flüsterte ihm etwas ins Ohr und doch er blickte unbewegt zu ihr empor.
Deila wandte sich ab. Sicher konnte er kaum fassen, was er da sehen musste. Ich an seiner statt wäre vermutlich ebenso enttäuscht gewesen. Sie biss sich auf die Lippen. 

Dann läutete Islav das Bankett ein. Er bot seinen Gästen Met aus erlesenstem Honig und saftiges Wild, mit Pilzen und Preiselbeeren. Er hatte scheinbar keine Kosten gescheut, um das Bekenntnis zur Vermählung gebührend zu feiern. 
Warum auch nicht? Die Geschenke lenken von der Braut ab. 
Deila stocherte nur in ihrem Essen herum. Ein Speer in der Hand wäre jetzt genau das richtige. Die Kraft der Eiche zu spüren, wie sie durch Panzer, Fleisch und Knochen trat. Den Ruhm zu kosten, von dem ein jeder Mann im Dorf des Nachts auch nur zu träumen wagte. Eine unbeugsame Wut schoss urplötzlich durch ihre Adern und sie merkte, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper verkrampfte. Wut über ihren Vater, ihre Schwester, ihren neuen Gatten und vor allem war sie wütend auf sich selbst. Deila schluckte mühsam einen Fluch herunter, er schmeckte bitter im Abgang. Dann geriet eine hitzige Diskussion in ihr Augenmerk, die sich unweit von ihr abspielte. 
Einige der neuen Gäste redeten angeregt auf Hjalmaer ein.
Angestrengt spitzte sie die Ohren, um unter all den Stimmen etwas auszumachen.
»Die ist doch eher ein Pferd, als eine Dame. Nur reiten wollen würde ich sie nicht.«
Deila musste schlucken. Es schien also alles beim Alten zu sein. Es würde dasselbe passieren wie es seit jeher üblich war. 
»Ich finde, sie hat eher etwas von einem Wildschwein. Nur die Haare fehlen ihr noch, aber bei der würde ich auch nicht danach suchen wollen.«
Andere Männer kicherten.
Nur Hjalmaer nicht. Er schaute sie einfach nur an. Dann deutete er seinen Männern an zu schweigen.
Deila merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie verbot sie sich. Das würde sie ihnen nicht gönnen, nicht schon wieder.
Auf einmal legte sich eine Hand auf ihre Schulter, wie ein Schatten, der übles prophezeite. 
»Wollen wir an deinen neuen Gatten herantreten und ihn kennenlernen?«, die Stimme ihres Vaters schloss aus, dass sie etwas dazu zu sagen hatte. 
Wortlos erhob sie sich. Sie schritten einmal um das Podest herum und steuerten dann auf die Fremden zu.
Spöttische Gesichter beäugten sie kritisch und Deila merkte, wie sie unter diesen Blicken schrumpfte. 
Eingesperrt, für den Rest meines Lebens, mit einem Mann, der mich nicht liebt. Mit einem Volk, das mich verabscheut.
Sie konnte die Gedanken nicht mehr aufhalten. Tränen schossen ihr unkontrolliert in die Augen und für einen Moment wünschte Deila sich, einfach im Boden versinken zu können. 
»Komm jetzt! Streng dich etwas mehr an!«, zischte Islav und sie konnte den Groll in seiner Stimme hören. 
Das war der Moment, in dem sich alles in ihr überschlug.
»Nein!«, schrie sie so laut sie konnte, riss sich aus dem Griff ihres überraschten Vaters, stürzte auf die Pforte zu und warf sie krachend hinter sich ins Schloss.

Deila rannte wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war. Salzige Tränen benetzten ihre Wangen wie ein silberner Trauerschleier. Sie wollte fort! Nur fort!
Erst als ihre Lungen wie Feuer brannten, hielt sie endlich inne. Schwer atmend ließ Deila sich auf einen Fels fallen, sie hatte gar nicht darauf geachtet, wo sie überhaupt hingerannt war. 
Fichten umringten sie wie Fremde. Stumme Zeugen ihrer Verzweiflung. Mittlerweile legte sich die Dunkelheit mit einem alles verhüllenden Tuch um die Welt und entzog ihr sämtliche Farbe.
Deila schaute schluchzend auf ihre Handflächen. »Du Missgeburt!«, fluchte sie. »Du hässliche Missgeburt!« Sie schrie fast. 
Irgendwo über ihr stießen ein paar Vögel klagend in den Abendhimmel. 

Sie schob das Kleid empor, fingerte den Dolch aus seiner Scheide an ihrem Oberschenkel und schnitt das unliebsame Gewand in Fetzen, bis fast nichts mehr davon übrig war. Trotz ihrer Wut drang sofort die Kälte in sie hinein, tastete sich mit eisigen Fingern nach ihrem Herzen. 
Das junge Mädchen griff sich einen länglichen Ast. Fast so gut wie ein Speer. Da wollte etwas aus ihr hinaus, dass sich jahrelang angestaut hatte, sie seit jeher wie ein Geist heimsuchte. Die Wut. 
Mit einem Aufschrei hatte sie ihren ersten Feind durchbohrt, mit präzisen Bewegungen steuerte sie auf den nächsten zu. Brüllend stieß sie ihm den langen Ast zwischen die Rippen. Der dritte ließ nicht lange auf sich warten. Deila wirbelte um die eigene Achse und pfählte den nächsten im Sprung. Niemand entkam ihrer blutigen Rache.
Irgendwann sank sie entkräftet zu Boden und die Kälte kehrte zu ihr zurück, riss sie zurück in die Wirklichkeit. Schweiß dampfte von ihrem Körper, doch nun kühlte sie schnell ab. Von dem Kleid war nur ein Fetzen übrig geblieben, sie offenbarte Beine, Schultern, Brust und Bauch, doch es kümmerte sie nicht. Bei der Kälte würde sie den nächsten Tag hoffentlich nicht mehr erleben. Deila sackte in sich zusammen und wischte sich die Tränen fort. Dann hörte sie die Schritte. 

Hjalmaer kam geradewegs auf sie zugelaufen. Er schob sich durch das dichte Geäst, dann war er bei ihr. Seine Augen musterten sie, wie sie da stand, fast nackt und schweißgebadet. 
Instinktiv hielt sich Deila die Hände vor den Körper. Beschämt schaute sie zu Boden. Die Kriegerin in ihr verschwand und ließ sie zurück. »Verzeiht…«, begann sie zu stottern, doch Hjalmaer regte sich nicht, stand nur da und schaute sie an.
Ihr stieg erneut die Röte ins Gesicht. Instinktiv ging ein Beben durch Deilas Körper, wo es herrührte, konnte sie nicht ausmachen. Die Kälte, versuchte sie sich zu erklären. Die Kälte.
Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Bleibt fort!«, Deila machte zwei Schritte rückwärts und sah ihn flehend an. »Bitte!«
Hjalmaer sagte nichts, doch blickte ihr direkt in die Augen. Dann legte er seinen Mantel ab und warf ihn zu ihr herüber. 
Für einen Augenblick schaute Deila ihn nur verdutzt an. 
»Mit einer Kriegerin von deiner Größe möchte ich gerne teilen«, sprach er, seine Stimme war sanft und strahlte eine unendliche Ruhe aus. »Ich habe noch nie gesehen, dass ein Mann auf diese Weise derart geübt einen Speer führen könnte.«
»Was?«, keuchte sie. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Wollte er sie zum Narren halten? Zitternd stand sie da und beäugte den Mantel. Er sah so warm aus. Doch sie würde standhaft bleiben. Mit Mühe und Not gelang es ihr, ihren Körper zu bedecken. 
»Hast du dir einmal überlegt wie es sein könnte, einmal auf das tosende Meer zu fahren?«, er machte einen Schritt auf sie zu.
Deila machte zwei Schritte zurück. »Ich stelle es mir wunderbar vor«, hauchte sie ehrlich. »Es ist alles, was ich begehre.«
»Ich möchte dir diesen Wunsch erfüllen, Valkyrja, Kriegsgeborene. Dein Herz brennt für den Kampf und du fechtest mit einer Leidenschaft, die selbst die Götter das Fürchten lehrt.« Er machte wieder einen Schritt auf sie zu.
Deila wich einen Schritt zurück. Wie hatte er sie gerade genannt? Valkyrja? Benannt nach den Schildmaiden Odins, welche die ehrenvollen Krieger nach Walhall führten? Sie suchte in seinen Augen nach den Anzeichen von Belustigung, von Spott und Hohn. Sie fand nichts darin, außer bedingungslose Zuneigung. 
»Lasst mir die Ehre zuteilwerden, Euch auf meinem Schiff zu wissen, wenn wir segeln«, Hjalmaer machte einen Schritt auf sie zu. 
»Ich möchte Euch zu den entferntesten Orten bringen und die wildesten Schlachten erleben. Und gemeinsam gehen wir in die Geschichte ein.«
Sie blieb stehen. Ließ den Ast fallen. War das gerade ein Traum? War sie schon tot oder hatte sie Wahnvorstellungen?
»Ich habe dich in der Halle erblickt und ich wusste sofort, dass du von der Macht der Götter durchflutet sein musst. So ein unbändiger Wille muss entfesselt werden.« Er machte einen Schritt auf sie zu.
Sie blickte in den Himmel. Er war getaucht in das grüne Götterlicht, den tanzenden Flammen, die das Firmament erhellten. Und das zu dieser Jahreszeit. Es war ein Zeichen der Götter! Ein Zeichen, das alles, was gerade in diesem Moment passierte, vorhergesehen war.
Sie kam ihm entgegen. 
Er schloss sie in seinen Arm und Deila versank darin. Auch ohne seinen Mantel war er warm und sie vergaß die Kälte, schloss sie aus ihrem Herzen aus. 
»Ich kann es kaum abwarten«, hauchte sie. »Das Meer wird uns auf ewig binden.«

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Bitte akzeptiere unsere Datenschutzbedingungen, nur so können wir Dich und uns schützen.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.