Seifenblasen – ein Sommermärchen

Wie so oft in letzter Zeit erwache ich viel zu früh. Ich mache Licht und sehe auf die Uhr. Es ist halb fünf und ich feiere heute meinen 80. Geburtstag. Mein Blick fällt auf die blaue Glaskugel, die ich gestern Abend auf meinen Nachttisch gelegt habe. Sie hat mich nun genau 60 Jahre meines Lebens begleitet.
Ich lege sie auf meinen rechten Handteller und drehe sie langsam. Erst scheint sie an meiner Haut festzukleben, doch dann dreht sie sich von selbst und beginnt zu leuchten. Ihr Licht wird immer heller, bis es so grell ist, dass sich meine Lider von selbst schließen. Als ich sie vorsichtig wieder öffne, schaue ich in tiefblaue Augen. Eine barsche Stimme ertönt in meinem Kopf: „Du hast mich geweckt.“
„Deine Umgangsformen haben sich über die Jahre auch nicht verbessert“, antworte ich amüsiert.
„Wo brennt`s?“, knurrt er.
„Nirgendwo. Ich wollte dir nur danken“, antworte ich.
„Danken wofür? Du hast mich nie gerufen.“
„Das ist richtig, doch alleine die Möglichkeit hat mir in schwierigen Zeiten so viel Sicherheit gegeben, dass ich sie alleine meistern konnte.“
Sein Blick wird sanft. „Wie war dein Leben?“
„Erfüllt!“, antworte ich lächelnd.
„Dann lass uns Abschied nehmen. Möchtest du unsere Begegnung noch einmal erleben?“
Ich nicke und spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Sein Bild verblasst und mit einem leisen „Plopp“ löst sich die Kugel in Luft auf. Meine Hand fühlt sich kalt und leer an.

Ich finde mich wieder an einem dieser heißen Augusttage, an denen die Welt stillzustehen scheint. Froh, der brennenden Sonne entronnen zu sein, wandere ich durch den Wald. Auf einer kleinen Lichtung, unweit von hier, möchte ich Himbeeren pflücken. Breite Lichtbahnen dringen durch die Baumkronen und erhellen den schmalen Pfad. Abseits des Weges ist alles in ein geheimnisvolles Halbdunkel gehüllt. Obwohl ich den Wald gut kenne, erscheint er mir heute neu, fast märchenhaft. Das mag aber auch daran liegen, dass ich Geburtstag habe. Leise plätschernd kreuzt ein Bach den Weg. Ich setze mich auf die kleine Holzbrücke und lasse meine Füße im kühlen Wasser baumeln. Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem wütenden Aufschrei lässt mich aufhorchen. Neugierig stehe ich auf und gehe einige Schritte ins Halbdunkel hinein, bis ich an einem steil abfallenden Hang stehe. In der Senke liegen mehrere Baumstämme übereinander gestapelt zum Abholen bereit. Obenauf sitzt ein alter Mann mit hellem Haar und hochrotem Gesicht. Als er mich erblickt, wirft er einen dicken Ast in meine Richtung. Achselzuckend drehe ich mich um und bin schon fast wieder an der Brücke, als er mir im Befehlston hinterher schreit: „Bring mir Wasser. Und dann laufe ins Dorf und hole Hilfe, ich stecke fest!“ Eigentlich habe ich große Lust, den unverschämten Alten sitzen zu lassen, aber dann siegt mein gutes Herz. Ich kehre um. Es dauert ein bisschen, bis ich es den steilen Abhang hinunter geschafft habe. Als ich bei ihm ankomme, brummt er mürrisch: „Mein Fuß ist eingeklemmt.“ Ich krame meine Saftflasche aus dem Rucksack und während er gierig trinkt, greife ich nach seinem Bein. Nach einigem Drehen und Ziehen, untermalt von den lauten Flüchen des Alten, ist der Fuß frei. „Du bist ein Engel“, stottert er verdutzt und humpelt mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon.
Ich mache mich wieder auf den Weg und bin schon ein gutes Stück auf dem Hang, als ich ihn erneut schreien höre: “So warte doch, Kind! Ich will dir etwas schenken.“ Unmut macht sich in mir breit. Ich bin schon lange kein Kind mehr, schließlich ist heute mein 20. Geburtstag. Und was wird der alte Zausel mir schon schenken wollen? Doch dann siegt meine Neugier. Als ich ihn einhole, steht er am Bach, etwa zehn Meter von der Brücke entfernt. Wie ist er so schnell dort hingekommen? Er deutet auf einen großen Stein. Ich setze mich bereitwillig. Während er umständlich in seinem Rucksack kramt, betrachte ich ihn genauer. Er ist sehr klein und dünn und wenn die tiefen Falten in seinem Gesicht nicht wären, könnte man ihn fast für ein Kind halten. Über seiner speckigen Lederhose trägt er ein viel zu großes Hemd. Seine Haare, die auf den ersten Blick weiß aussehen, sind hellblond und extrem dünn. Nach einer Weile hat er eine alte Tasse, einen Strohhalm und ein kleines grünes Glasfläschchen hervorgeholt. Mittlerweile sehr interessiert, beobachte ich ihn genau. Er füllt die Tasse mit Wasser, gibt einige Tropfen aus dem Fläschchen hinzu und rührt dann bedächtig mit dem Strohhalm um. Schon beim ersten Versuch gelingt ihm eine wunderschöne Seifenblase. Schillernd steigt sie nach oben, um dann, knapp über unseren Köpfen, in der Luft stehenzubleiben. Der Alte beugt sich zu mir hinüber und tippt mir mit seinem Zeigefinger auf die Stirn. Ich fühle ein leichtes Brennen über meiner Nasenwurzel. Er berührt auch seine Stirn und verblüfft sehe ich ein silbernes Band, das uns nun verbindet. Mit seiner rechten Hand wedelt er einige Male hin und her, dazu murmelt er unverständliche Worte, die Schnur löst sich und schwebt langsam auf die Seifenblase zu. Ich kratze mich an meiner Nase, die heftig zu jucken beginnt. Das Band windet sich um die Seifenblase, etwa so wie eine Schlange um einen Ast, taucht gemächlich in sie ein und verblasst. Der Alte nickt zufrieden. Er hält eine Hand unter die Seifenblase, die immer noch wie angeklebt in der Luft hängt, schnippt mit den Fingern der anderen Hand, die Kugel fällt. Er verbeugt sich galant, so, als wolle er mich zu einem Tanz auffordern und hält mir die Seifenblase direkt unter die Nase. Es kostet mich einige Überwindung, bis ich sie berühren kann. Sie ist kühl und fest. Sie hat sich in eine blaue Glaskugel verwandelt. Die Stimme des Alten klingt nun sanft, fast liebevoll.
„Wir sind jetzt verbunden. Wenn du in Not bist, nimm die Kugel und drehe sie auf deinem Handteller. Dann werde ich Kontakt mit dir aufnehmen und dir helfen, genauso, wie du mir vorhin geholfen hast. Doch wähle den Zeitpunkt weise. Denn danach wird sie wieder zur Seifenblase und du wirst unsere Begegnung vergessen.“ Sanft streicht er mir mit seiner knochigen Hand über die Wange.
„Und nun geh nach Hause, Kind, und feiere deinen Geburtstag.“ Ich bin so sprachlos über das, was ich eben erlebt habe, dass ich lediglich nicke, sein Geschenk sorgfältig in meinem Rucksack verstaue und mich brav auf den Weg mache. Tausend Fragen schwirren mir durch den Kopf. Woher weiß er, dass ich Geburtstag habe? Wie hat er das mit der Seifenblase gemacht? Stimmt es, dass er mir zur Hilfe kommen wird, wenn ich ihn rufe? Als ich bei meinem Eimer ankomme, den ich auf der Brücke abgestellt hatte, erwartet mich die nächste Überraschung. Er ist bis zum Rand gefüllt mit großen, reifen Himbeeren. Nachdenklich nehme ich eine davon und stecke sie in meinen Mund. Ich will zurück zum Alten und ihn fragen, wie er das gemacht hat. Doch er ist spurlos verschwunden.

Ich erwache vom Klingeln des Telefons. Irritiert schaue ich auf meine Nachttischlampe. Wieso brennt sie? Ich fühle mich seltsam. Glücklich und traurig zugleich. Was habe ich geträumt? Ich kann mich leider nicht erinnern.

One Reply to “Seifenblasen – ein Sommermärchen”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Bitte akzeptiere unsere Datenschutzbedingungen, nur so können wir Dich und uns schützen.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.